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Aktuelle Entwicklungen in Ostslawonien/Kroatien
vonIm letzten halben Jahr 1996 hat sich in Ostslawonien/Kroatien viel getan, und zwar sowohl im "serbischen" Bereich, der unter UN-Kontrolle steht (Stichworte: Vukovar, Baranija) als auch im "freien" kroatischen Teil (Stichwort: Osijek).
Am Rande der Dayton-Verhandlungen über Bosnien-Herzegowina wurde u.a. ein Vertrag von Kroatiens Präsident Tudjman und vom serbischen Präsidenten Milosevic unterschrieben, der bis spätestens 1998 zwei zentrale Punkte realisieren soll: 1) Serbien beziehungsweise die Bundesrepublik Jugoslawien ziehen sich ganz zurück, und Kroatien regiert den seinerzeit hart umkämpften serbisch "besetzten" Abschnitt, und 2) allen Serben in der Region soll die Möglichkeiten geboten werden, kroatische Staatsbürger mit allen Rechten als Minderheit serbischer Nationalität zu werden.
Seit etwa Februar dieses Jahres wird der "serbische" Bereich nicht mehr als okkupiert bezeichnet, sondern untersteht einer gemischten UN-Truppe unter Leitung des US-Generals Jean-Paul Klein, der in Vukovar residiert. Das Gebiet wird inzwischen als UNTAES-Zone (UN Transition Administration of Eastern Slavonia) bezeichnet.
Initiative der Friedensgruppen
Es wäre jedoch falsch, zu vermuten, die Erleichterungen, die zunehmend zutage treten, seien ausschließlich UNTAES und damit militärischer UN-Präsenz zu verdanken. Das übersähe, daß der Vertrag zwischen Tudjman und Milosevic nicht ausschließlich auf Druck der USA beziehungsweise der NATO zustande kam, und ließe mehr noch vor allem die massive Präsenz von handlungsfähigen Friedens- und Menschenrechtsgruppen aus der Region, aber auch aus anderen Städten Kroatiens und Serbiens außer Acht. Diese Gruppen bedeuten ein erhebliches Druckpotential auf die beiden Regierungen, zumal die Regierungen registrieren mußten, daß die Initiativen zunehmend Zuspruch in der Bevölkerung fanden.
Selbstverständlich sind die ersten blutigen und brutalen Kämpfe des Balkankrieges, die in Slawonien ausgetragen wurden, nicht vergessen. Die Gemeinde Vukovar (Stadt und umliegende Dörfer) zählte vor dem Krieg 1991 84.000 Einwohner, und zwar 37.000 Kroaten, 31.000 Serben und 16.000 Angehörige etwa 25 anderer Nationalitäten (an erster Stelle Tschechen, Slowaken, Ungarn und Italiener). Beim Nachlassen der Kämpfe Ende 1991 war Vukovar gleichsam entvölkert und zu über 80% zerstört. Fast alle Dörfer im Umkreis waren dem Erdboden gleich gemacht. Seitdem gab es keine Wiederaufbauversuche, und als ich mich Mitte November in Vukovar aufhielt, wähnte ich mich in einer Geisterstadt. Die UNTAES-Administration schätzt, daß sich in dem Gebiet von 84.000 Einwohnern vor dem Krieg jetzt etwa 22.000 bis max. 25.000 Menschen aufhalten. Die meisten von ihnen sind zudem keine angestammten Einwohner Vukovars, sondern serbische Flüchtlinge aus Westslawonien und der Krajina, die bei den kroatischen Militäraktionen "Blitz" und "Sturm" im Sommer vergangenen Jahres vertrieben wurden. Viele von ihnen sind bereit, die kroatische Staatsbürgerschaft bei serbischer Nationalität anzunehmen und wollen nach Westslawonien (vor allem nach Pakrac) und in die Krajina (vor allem nach Knin) zurückkehren.
Im Sommer 1996 verteilten Friedens- und Menschenrechtsinitiativen ein Flugblatt in lateinischer und kyrillischer Schrift (mit gleichlautendem Text) an alle Haushaltungen in Ostslawonien und auch in einigen wichtigen Zentren in Westslawonien, wie zum Beispiel in Pakrac und Okucani. (Die Finanzierung des Drucks des Flugblattes wurde ermöglicht durch die Hilfsorganisation OXFAM und das Komitee für Grundrechte und Demokratie.)
Das Flugblatt (ein Aufruf zur Vertrauensbildung und zugleich eine Information zum Handeln) wurde heraus geben von der Koordination der Friedensorganisation für Ostslawonien, Baranija und Westsermium, einer Vereinigung, der 14 Initiativen angehören, die sich am 9. März 1996 auf einer Konferenz in Mohacs (Ungarn) zusammengeschlossen haben. Es sind dies Gruppen aus Kroatien, Serbien und Ungarn.
Die Koordination hebt in ihrem Programm die Normalisierung in Ost-West-Slawonien auf der Basis der Menschenrechte als ihr wichtiges Ziel hervor. Zu ihrem bisherigen Engagement schreiben sie in dem Flugblatt: "Die in der Koordination zusammengeschlossen Friedensgruppen haben in ihren bisherigen Aktivitäten (einige bereits seit 1991, andere später beginnend) mehrere hunderttausend Menschen umfaßt, sie organisierten hunderte Seminare und Workshops über gewaltfreie Konfliktlösung und für die Arbeit an der Transformation unter Beteiligung von etwa 5.000 Lehrern. In Wiederaufbauprojekten haben sie mehr als 100.000 freiwillige Arbeitsstunden geleistet sowie humanitäre Hilfe und Material zum Wiederaufbau im Wert von mehr als zwei Millionen Dollar beschafft und verteilt. Sie haben Zeitungen veröffentlicht in einer Gesamtauflage von mehr als einer halben Million Exemplaren. Sie haben entweder hergestellt oder mitgemacht in der Produktion mehrerer hundert Stunden von Radio- und TV-Programmen in der ganzen Welt und waren das Thema in zehntausenden Artikeln verschiedener Weltzeitschriften ... Die Zahl der gesendeten Botschaften und Briefe sowie Gesprächen und Besprechungen mit den Vertretern der Medien ausländischer und inländischer Organisationen sowie auch die Zahl der durch die Friedensgruppen verhinderten Menschenrechtsverletzungen ist so groß, daß sie nie genau festgestellt werden wird."
Runde Tische
Als nächsten Schritt veranstaltete die Koordination "Runde Tische" zum Thema "Normalisierung in Ost/West-Slawonien". Am 27.9. in Darda, am 20.10. in Vukovar, am 23.10. in Karlovac, am 24.10. in Pula, am 26.10. in Pakrac, am 29.10. in Zagreb, am 5.11. in Belgard und am 12.11.1996 in Osijek. Zugleich aber galt es, zunehmend mehr Kontakt zur Bevölkerung zu finden. Die Vorbehalte bei den Menschen sind noch immer sehr groß, wenn auch die Minderheit derer, die eine friedliche Lösung und neues Vertrauen anstreben, ständig zunimmt. dabei richtet sich das noch vorhandene Misstrauen nicht gegen die Friedensgruppen, sondern es ist der Hass gegen die Angehörigen der jeweils anderen Nationalität. Die tiefen seelischen, körperlichen und materiellen Wunden des Krieges sind also bei weitem nicht verheilt. Ein wichtiger Aspekt für die Kampagne der Normalisierung ist für die Koordination deshalb auch, nach vorne, in Richtung Wiederaufbau und mehr noch in Richtung gesellschaftlicher Heilung zu orientieren und zu verhindern, daß der kalt erstarrte Hass immer erneut angeheizt wird.
Daß man erst am Anfang einer friedlichen Lösung der Probleme steht, zeigte sich auch beim "Runden Tisch" am 12. November 1996 in Osijek, an dem ich als Gast teilnehmen konnte. Zusätzlich muß vorausgesetzt werden, daß der "Runde Tisch" von Vertreterinnen und Vertretern verschiedener und durchaus widersprüchlicher Organisationen besucht war, aber nicht als repräsentativ gewertet werden kann. Dennoch hat die Koordination der Friedensgruppen mit ihren Aktivitäten inzwischen eine gewisse Meinungsführerschaft, was sich u.a. darin zeigte, daß im Vergleich zu früher zahlreiche Medienvertreter da waren und auch weitgehend politisch objektiv berichtet wurde.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Koordination haben, wie gesagt, ein klares Konzept. Sie wurden dafür am "Runden Tisch" sowohl von einem EU-Vertreter, der aus Brüssel angereist war, unterstützt, als auch von einem Vertreter der UNTAES-Administration. Beide wiesen sowohl auf die zwingende Notwendigkeit der Beachtung der Menschenrechte als auch der vertrauensbildenden Aktivitäten der Friedensinitiativen hin. Ohne diese Initiativen und ihr aktives Engagement, das sich u.a. auch in der Schulerziehung und in der konkreten Hilfe der Menschen vor allem im humanitären und juristischen Bereich niederschlägt, seien die Probleme Ostslawoniens nicht friedlich und demokratisch zu entflechten, sagte beispielsweise der UNTAES-Vertreter.
Die wichtigsten Aspekte
An dem "Runden Tisch" waren auch die Vertreter der kroatischen und serbischen Vertriebenenverbände beteiligt, wie es dem Konzept der Normalisierung und Vertrauensbildung selbstverständlich entspricht. Diese Gruppen hatten jedoch weniger Vertrauensarbeit als vielmehr die Aufrechterhaltung der alten Feindbilder im Sinn. Gerade in ihrer Politik offenbaren sich die größten Probleme. Man kann, wenn man die dortige politische Situation nicht nur von einem Besuch, sondern in ihrer Entwicklung seit 1991 kennt, nicht übersehen, daß hier nicht ausschließlich Scharfmacher am Werk sind, sondern daß es nach wie vor handfeste Gründe gibt, die eine Normalisierung objektiv erschweren. Dies sind die bereits erwähnten psychischen und physischen Schäden, ungezählte Tote und Vermisste, die Erinnerung an Gräueltaten und die Ruinenlandschaft, die den Menschen täglich vor Augen sind.
Ein positiver objektiver Faktor sind die jüngeren Erfahrungen. Es ist wieder möglich, über die Demarkationslinie hinweg zu telefonieren. Unter bestimmten Bedingungen kann man eine Besuchsreise in die ehemalige Heimat machen. Treffen von Menschen beider Seiten finden zuhauf statt. Auf etwa 30.000 qmř "Niemandsland" fanden im Sommer und Frühherbst große Basare statt, die von beiden Seiten von tausenden Menschen besucht wurden und einen großen friedlichen Kleinhandel ermöglichten. In der UNTAES-Zone wirkt eine paritätische Polizei von Serben und Kroaten ... Das alles zeigt, daß immer mehr Leute den Status quo, in dem sich auf keiner Seite etwas bewegt, satt haben und daß auch immer mehr Serben bereit sind, in Slawonien zu bleiben, um dort als kroatische Staatsbürger zu leben.
Zeitdruck aus Ungeduld
Doch nach wie vor hängt ein Damoklesschwert über diesem Prozess. Der Zeitdruck. Vor allem die Kroaten, die 1991 vertrieben worden sind und nun fünf Jahre als Flüchtlinge leben, drängen und wollen zurück. Das Haupthindernis angesichts der Beschleunigung des Normalisierungsprozesses besteht in den erheblichen bürokratischen Schwierigkeiten, die die kroatische Regierung jenen Serben macht, die die kroatischen Staatsbürgerschaft beantragen, weil sie weiterhin dort wohnen wollen, wo sie geboren sind, also weitgehend in Ost- und Westslawonien sowie in Knin und Umgebung. Würde die "Legalisierung" dieser Serben als kroatischer Staatsbürger von der kroatischen Regierung beschleunigt, bedeutete dies zwar noch nicht absolut konfliktfreies Nebeneinander aller mit allen, aber die Grenze, die Ostslawonien trennt, könne per Abmachung entfallen. Jene Serben, die eine kroatische Staatsbürgerschaft ablehnen, sollte zwar auch die Möglichkeit haben, in Kroatien zu leben, aber die meisten von ihnen würden davon keinen Gebrauch machen, sondern über die Grenzen nach Serbien gehen. Dies wäre nach Einschätzung sowohl der UNTAES-Administration als auch der Friedensgruppen eine Minderheit.
Rechtshilfe
Die praktische Arbeit der Friedensinitiativen läuft deshalb neben der politischen Diskussion auf Rechtshilfe hinaus. Dutzende kroatischer Juristinnen und Juristen (die meisten angesiedelt beim Friedenszentrum in Osijek) helfen den Serben beim komplizierten, aber bisher unumgänglich notwendigen administrativen Weg zur "Legalisierung" als kroatischer Staatsbürger serbischer Nationalität. Daß diese konkrete Hilfe zugleich ein Beitrag zur Vertauensbildung dargestellt, liegt auf der Hand.
Balance halten
Deshalb konnte meines Erachtens das bereits rückblickend langfristige Vorgehen der Koordination und der in ihr vereinigten Friedensinitiativen zu einem teilweisen Erfolg führen. Es kann aber nicht übersehen werden, daß jetzt durch einen Bescheinigungsdruck die Situation eintreten kann, daß das bereits Erreichte aus der Balance gerät und sich erneut Feindschaft Bahn bricht. Eine kriegerische Auseinandersetzung möchte ich aufgrund des Vertrages zwischen Milosevic und Tudjman, der auch die Unterschrift Bill Clintons trägt, eher ausschließen. Aber Unruhen, verstärkter Druck von Kroaten gegen den "serbischen" Teil, ein eventueller Exodus der meisten Serben über die Donau in die BR Jugoslawien könnten nach dem Winter 1996/97 aufbrechen.
Auch wir sind gefordert
Um dem zu begegnen, gilt es von der deutschen Friedensbewegung die dortigen Friedensgruppen weiter zu unterstützen, materiell, aber auch durch Anwesenheit. Alle Möglichkeiten, in Deutschland Öffentlichkeit herzustellen, müssen genutzt werden, denn durch die Konzentration auf die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina sind die Probleme in Ostslawonien und die oft massiven Menschenrechtsverletzungen gegen Serben, die in Kroatien leben, aus dem Blickfeld geraten. Ein Rückschlag in Ostslawonien hätte auch bittere Auswirkungen für gewaltfreie und friedliche Konfliktlösungen auf dem gesamten Balkan.