„Nie wieder Krieg“ - 85 Jahre nach dem Überfall auf Polen

Antikriegstag

von Jan Gildemeister
Initiativen
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Am 1. September 1939, vor 85 Jahren, begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Er kostete in sechs Jahren knapp 60 Millionen Menschen das Leben. Die Nationalsozialisten machten die besetzten Gebiete Polens zum Experimentierfeld ihrer rassistisch motivierten Vernichtungspolitik, die sie im späteren Russland-Feldzug fortführten und die ab 1942 in der millionenfachen Ermordung europäischer Juden in den Vernichtungslagern der deutsch besetzten Gebiete Polens gipfelte.

Die Friedensbewegung und auch die Gewerkschaften, die in Deutschland seit 1957 zu Aktionen zum Antikriegstag aufrufen, stehen in diesem Jahr angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vor besonderen Herausforderungen. In der Friedensbewegung und den Gewerkschaften wird über die richtigen Konsequenzen gestritten, für viele Aktive wurden Gewissheiten in Frage gestellt, sie sind verunsichert und ratlos. Und die Einschätzung der russischen Politik geht weit auseinander: Sind Friedensvereinbarungen möglich, die einen Interessenausgleich schaffen und auch langfristig eingehalten werden? Oder muss damit gerechnet werden, dass Russland seine Expansionsbestrebungen fortführt (Georgien …)?

Unstrittig ist in der Friedens- und der Gewerkschaftsbewegung, dass es möglichst bald einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen braucht und sich die deutsche Politik mit mehr Nachdruck dafür einsetzen muss. Aber muss zunächst der bewaffnete Kampf der Ukraine weiter mit Waffen und Munition unterstützt werden oder sollen die Lieferungen sofort eingestellt werden? Wie wichtig ist es generell, gewaltfreie Alternativen einer militärischen Verteidigung stark und bekannt zu machen? Der DGB vermied in seinem Aufruf zum Antikriegstag 2023 eine klare Positionierung zu diesen Fragen, es hieß dort u.a. allgemein: „Wir fordern die Bundesregierung auf, ihr Handeln stärker auf friedliche Ansätze zur Konfliktlösung zu fokussieren: Haben Sie den Mut, mehr Diplomatie zu wagen!“

Die – bei aller gemeinsamer Überzeugung, dass Krieg ein Übel ist und aus der Welt geschafft gehört – unterschiedlichen Einschätzungen und Positionen haben auch mit geschichtlichen Erfahrungen und deren Interpretation zu tun:

  • Die Appeasement-Politik war Ende der 1930er Jahre nicht zielführend, wobei der Ehrlichkeit wegen hinzugefügt werden muss, dass die Regierungen von Großbritannien, Frankreich und der USA Deutschland als „Bollwerk“ gegen die Sowjetunion sahen und auch deshalb angesichts Deutschlands (vertragswidriger) Aufrüstung und Expansionsschritten nicht intervenierten.
  • Der Sowjetunion war schon damals – aus polnischer Sicht – nicht zu trauen. Schließlich vereinbarte die sowjetische Führung mit der nationalsozialistischen einen Nichtangriffspakt und eine Aufteilung Polens.

Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine waren dies in Europa vorrangig historische, akademische Themen. Seit dem 24. Februar 2022 sind wir mitten in einem komplexen, kriegerischen Konflikt, der sehr unterschiedlich eingeordnet wird, was auch auf verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen beruht. Aus osteuropäischer Sicht ist die vorwiegende Überzeugung, dass die imperialistischen Expansionsbestrebungen Russlands weitergehen und auch nicht vor NATO-Mitgliedsstaaten haltmachen. Umso wichtiger sei es, dass die Ukraine nicht besiegt wird, daher muss sie militärisch unterstützt werden.

In Deutschland wird die Verständigungs- und Kooperationsbereitschaft der russischen Regierung zumeist positiver gesehen. Zugleich werden Chancen für Friedensverhandlungen und einen Waffenstillstand, die nicht zu Lasten der ukrainischen Interessen gehen, auch hier unterschiedlich bewertet, genauso wie die Lieferung von Waffen und Munition an die Ukraine. Und schließlich gibt es in allen Staaten Friedensaktive, die jegliche militärische Gewalt ablehnen und ausschließlich auf gewaltfreie Mittel der Konflikttransformation setzen.

Die Verunsicherung und Zerstrittenheit nicht nur der Friedensbewegung haben Konsequenzen für die Mobilisierung zu Aktionen. Am ehesten funktioniert die Mobilisierung in Koalitionen mit populistischen, auch rechtsextremen Kräften, die die Ursachen für den russischen Angriffskrieg vorwiegend bei der NATO sehen und fordern, die militärische Unterstützung der Ukraine sofort zu beenden. In weiten Teilen der deutschen Gesellschaft – gerade bei Jüngeren – trifft diese Position auf wenig Verständnis und auch viele Friedensbewegte und -initiativen lehnen sie ab. Zugleich sind die Bemühungen des Bündnisses „Stoppt das Töten in der Ukraine“ mit differenzierteren Aufrufen breit zu mobilisieren weitgehend ins Leere gelaufen.

Die geschwächte Friedensbewegung und die breite Verunsicherung kommen zusammen mit einer immensen Aufrüstung der Bundeswehr und intensiven Bemühungen, die Gesellschaft auch in den Köpfen „kriegstüchtig“ zu machen. Von den vielen Milliarden profitiert in erster Linie die Rüstungsindustrie, die weltweite Aufrüstungsspirale forciert die Klimakrise, führt zu Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung, schwächt internationale Institutionen und erhöht die Gefahr neuer Kriege, bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen.

Die Diskrepanz zwischen Handlungsbedarf und Handlungsfähigkeit ist schwer auszuhalten. Umso wichtiger ist es, (weiterhin) langfristig zu denken, wie dies für die Friedensarbeit insgesamt gilt. Und dafür ist die Basis gar nicht so schlecht: Zum einen ist die Gesellschaft unverändert wenig Militär-affin, was sich an den immensen Nachwuchsproblemen der Bundeswehr und dem Interesse vieler junger Männer, trotz ausgesetzter Wehrpflicht den Kriegsdienst zu verweigern, zeigt. Zudem werden Bundeswehreinsätze kritisch gesehen.

Zum Zweiten fehlen die Milliarden, die der Bund (zusätzlich) für Bundeswehr und Rüstung ausgibt, für Ausgaben für Klimagerechtigkeit, Soziales, Bildung, Infrastruktur, Krisenprävention, Instrumente der Konflikttransformation etc. Dies bietet die Chance für Bündnisse mit Gewerkschafts- oder Klimabewegung, die ebenfalls die laufende und weiter geplante Umverteilung staatlicher Mittel ablehnen.

Allerdings fehlen aktuell wichtige Voraussetzungen für solche Aktionsbündnisse: Die Friedensbewegung erscheint vielen in Gänze nicht glaubwürdig, die Friedensthematik ist für viele zu komplex und umstritten für eine Mobilisierung und wohl auch – trotz des Krieges in Europa – nicht bewegend genug. Dies sind leider keine guten Voraussetzungen für wirkungsvolle Aktionen am Antikriegstag.

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Jan Gildemeister ist Geschäftsführer der AGDF.