Gewaltfreie Blockade in Nörvenich

Aufspielen zum Abrüsten!

von Hans Christoph Stoodt
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Das Aktionsorchester Lebenslaute blockierte zum diesjährigen Hiroshima-Tag die Zugänge zum Luftwaffenstandort Nörvenich in NRW.

4. August, 4 Uhr morgens – ein Sinfonieorchester und ein Chor, zusammen mit den Aktiven der Aktionsunterstützung knapp einhundert Personen – machen sich leise auf den Weg von ihrer Unterkunft im „Bollheimer Hof“ zum Luftwaffenstützpunkt Nörvenich. Nach ihrer Ankunft verteilen sie sich rasch auf die elf Zugangstore zum Militärgelände und stellen sich davor auf. Musikinstrumente, Notenständer und Noten werden ausgepackt, Stirnlampen angeschaltet – und schon erklingt Musik. Als die Angestellten und Soldat*innen des Fliegerhorsts ab 6 Uhr ihren Schichtwechsel beginnen wollen, kommen sie weder hinaus noch hinein. Rasch bilden sich lange Staus. Die Blockaden weisen mit Erfolg mehrere Tanklastwagen mit Kerosin zurück. Erst nach etwa einer Stunde gelingt es einem Teil der Mitarbeitenden von der Morgenschicht und Bundeswehrangehörigen, mit ihren PKW ein „Crashgate“ zu nutzen, das wir fälschlich für unbenutzbar gehalten hatten.

Nach etwa einer Stunde haben wir uns umgruppiert und stören weiter den Betrieb – obwohl die Führung des Fliegerhorsts und die Polizei öffentlich das Gegenteil behaupten. Teile der Medien wiederholen die Falschmeldung. Die Polizei wirkt an diesem Morgen unentschlossen und verwirrt – fast schon ulkiger Höhepunkt ist, als Polizist*innen nicht mehr wissen, wo sie sind, und sich bei einer Blockade nach ihrem aktuellen Ort erkundigen müssen. An einem der Tore kommt es ganz zum Schluss doch noch zur polizeilichen Räumung der Blockade – Eingeständnis der Gegenseite, dass der „normale“ Betrieb bis zu diesem Zeitpunkt offenbar gestört ist. Dort sind unsere Bläser*innen mit dem Bezugsgruppen-Namen „Blechbüxen“ am Werk. Kurz nach 12:30 Uhr treffen sich alle noch einmal vor dem noch immer blockierten Haupteingang des Fliegerhorsts und geben ein Abschlusskonzert. Dann geht es zurück – nass und müde, aber zufrieden.

In Nörvenich sind aktuell zwei „Taktische Luftwaffengeschwader“ der Bundeswehr stationiert: Das eine, Nr. 31, benennt sich nach Oswald Boelcke, einem Piloten der kaiserlich-deutschen Luftwaffe, 1916 abgeschossen. Als „Kampfgeschwader Boelcke“ hatte sich ein Teil ihrer Vorgängereinheit in der Zeit der Nazi-Luftwaffe an der Bombardierung Guernicas während des Spanischen Bürgerkriegs beteiligt (1), wovon sich das heutige, gleichnamige „Traditionsgeschwader“ nie distanziert hat, sondern ausdrücklich Stolz auf seine Vorgeschichte vor sich herträgt. (2)

Das Luftwaffengeschwader 33 ist eigentlich in Büchel beheimatet. Es übt Tag für Tag im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ Deutschlands, sich am Verbrechen eines Atomkriegs zu beteiligen – trotz deutscher Unterschrift unter den Atomaffensperrvertrag. Weil der Standort Büchel wegen der Modernisierung von Atombomben sowie der künftigen F35-Kampfjets ausgebaut wird, trainieren derzeit noch Tornados den Atomkrieg – auch am 4. August, zwei Tage vor dem internationalen Hiroshima-Gedenken. Acht Tornados donnern in niedriger Höhe über unsere Blockaden, übertönen unsere Musik. Sie sind der tödliche Klang einer Politik und eines Ortes, an dem faschistische Vergangenheit bis heute kein Problem ist, und wo das Kriegsverbrechen atomarer Massenmord alltäglich geübt wird. 

Lebenslaute versteht sich als bundesweites Netzwerk von Musiker*innen, die „Widerständige Musik an unmögliche Orte“ bringen (3) und dabei vorwiegend klassische Musik mit Aktionen zivilen Ungehorsams verbinden. (4) Neben Aktivitäten von Regionalgruppen gibt es jeweils im Sommer eine gemeinsame Jahresaktion, deren Ort und Inhalt im Januar beschlossen wird. Lebenslaute ist basisdemokratisch organisiert und agiert gewaltfrei.

Nach zwei Jahren, in denen Fragen der Klimagerechtigkeit im Mittelpunkt standen, wollten wir in diesem Jahr auf die Atomkriegsgefahr hinweisen, die wahrscheinlich noch nie so hoch war wie gegenwärtig.

Lebenslaute ist einer der wenigen linken Zusammenhänge, der seit seinem Bestehen 1986 kaum Nachwuchsprobleme hat. Dieses Jahr aber war an unserem Altersdurchschnitt spürbar: Es gibt einen auch an den Personen ablesbaren Traditionsabbruch an Wissen über Antimilitarismus und Eintreten für den Frieden. Wir versuchen, etwas dagegen zu tun.

Anmerkungen
1 https://www.sopos.org/aufsaetze/58f24ddd23393/1.phtml.html
2 https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/was-haelt-...
3 https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/widerstaendige-musik-an-unmoeglic...
4 lebenslaute.net, dort Bilder und Infos zur diesjährigen Aktion und ihrem Musikprogramm von der Klassik bis zur Gegenwart: Pärt, Britten, Farrenc, Say, Schostakowitsch und andere.

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Dr. Hans Christoph Stoodt ist evangelischer Pfarrer i.R. und seit 2010 bei Lebenslaute aktiv