Bericht über die Konferenz "Die EU-Kandidatin Türkei und die Kurdenfrage"

von Andreas Buro

Die Situation konnte dramatischer nicht sein. Die PKK-Guerilla hatte gerade angekündigt, ihren über 5-jährigen einseitigen Waffenstillstand zu beenden. Die kurdischen Parlamentarier - unter ihnen Leyla Zana - wurden auf Grund eines Gerichtsbeschlusses nach etwa 10-jähriger Haft bis zu einem neuen Gerichtsurteil auf freien Fuß gesetzt. Die ersten türkisch zensierten, sehr kurzen Sendungen in kurdischer Sprache in Fernsehen und Funk wurden endlich ausgestrahlt und die Europa-Wahlen, in deren Vorfeld der türkische Beitrittswunsch zu heftigen Diskussionen geführt hatte, standen unmittelbar bevor. Gerade hatten 20 Persönlichkeiten aus Deutschland unter der Überschrift appelliert "Wer über den EU-Beitritt der Türkei spricht, darf zur Kurdenfrage nicht schweigen".

Zu diesem Zeitpunkt, am 11. Juni 2004, trafen sich im Berliner Abgeordnetenhaus annähernd 100 Engagierte, Politiker, Diplomaten, Wissenschaftler und Menschenrechtler, um über die Bedingungen eines türkisch-kurdischen Dialogs zwischen beiden Seiten zu hören und zu diskutieren. Auf Initiative des Dialog-Kreises hatten sich die Deutsche Sektion der IPPNW, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, das Netzwerk Friedenskooperative, Pro Asyl und der Internationale Verein für Frieden und Gerechtigkeit - Pro Humanitate - zu dieser gemeinsamen Konferenz entschlossen. Der Abgeordnete Giyasettin Sayan hatte die Tagung im Berliner Abgeordnetenhaus ermöglicht. Sie alle hatten seit Jahr und Tag auf die Dringlichkeit und die guten Chancen für eine Lösung des Kurdenproblems im Rahmen der Türkei hingewiesen, die Aufnahme des Dialogs gefordert und vor einer Blockierung einer Politik der Aussöhnung gewarnt. Ankara, aber auch die EU-Staaten, so auch Berlin, haben jedoch ihre Mahnung, wie auch die kurdische Bitte nach einem friedenspolitischen Dialog bisher ignoriert.

Den politischen Hintergrund der Konferenz umriss Andreas Buro, Koordinator des Dialog-Kreises, einleitend so: Ohne Lösung der Kurdenfrage wird die Türkei die menschenrechtlichen Kriterien nicht erfüllen können. Doch noch immer hören wir: Es gibt keine Kurdenfrage - Das ist selbstverständlich falsch. Nach wie vor stehen die fehlenden kulturellen Rechte, die Flüchtlingsrückkehr, schwerste Menschenrechtsverletzungen, die katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation auf der Tagesordnung. Darüber hinaus hat die Lösung der Kurdenfrage große Bedeutung für die friedliche Entwicklung von Nah- und Mittelost. Die Kurdenfrage wird häufig auf den Konflikt mit der PKK reduziert und dann als Terrorismus-Frage behandelt. Auch das ist falsch. Sie ist verbunden mit der Bildung des türkischen Nationalstaats und den Strategien der Zwangsassimilierung, wie bei vielen anderen Nationalstaaten. Heute sollte man wissen, Aussöhnung und Kooperation stärken Gesellschaft und Staat, nicht aber Zwangsassimilierung und Repression.

In drei Schritten ging man das Thema an: Aussöhnungspolitik, Dialog zwischen kurdischem und türkischem Standpunkt und mögliche Beiträge von außen zum Dialog.

In Europa seien alle Versuche, ein Einheitsvolk im Rahmen der Nationalstaaten zu organisieren, gescheitert. Hans Koschnick, Bürgermeister von Bremen a.D., unterstrich die Grundbedingung, alle Rechte von Minderheiten anzuerkennen. Geschichte sei manipulierbar und werde immer wieder für repressive Politik instrumentalisiert. Die Menschenrechte müssten deshalb als Leitlinie gelten. In der Kurdenfrage sei von den USA nicht viel zu erwarten und die EU habe keine klare Konzeption. Kurzfristige Politik werde scheitern. Die Lösungen müssten allerdings von innen aus der Türkei kommen.Von außen könnte nur Unterstützung nutzen, nicht aber Missionierung. Von einer Aussöhnung würden Türken und Kurden Nutzen haben. Für ihre Politik der Aussöhnung sollten die gesellschaftlichen Organisationen auch nach Bundesgenossen im staatlichen Bereich suchen. In der Diskussion wurde vor zu hohen Forderungen gewarnt. Sie könnten blockieren. Wichtig sei es, den Prozess der Aussöhnung zu beginnen. Die Menschenrechte seien jedoch nicht verhandelbar.

Erwartungen und Vorschlägefür eine friedliche Lösung der Kurdenfrage aus kurdischer Sicht erläuterte Dr. med. Tarik Ziya Ekinci, ehemaliger Abgeordneter des Parlaments. Er forderte, die Türkei solle alle internationalen Verträge zur Minderheiten-Problematik unterschreiben. Die Separatismus-Argumentation Ankaras gegenüber den Kurden sei eine Lüge, um den Kurden ihre Rechte vorzuenthalten. Er forderte Rücksiedlung und Entschädigung für die Flüchtlinge, muttersprachliche Erziehung, Freiheit für Information, die Bildung von Vereinen, eine Amnestie für die politischen Gefangenen und andere Rechte. Das neue Parteiengesetz verhindere geradezu die Repräsentation kurdischer Parteien. Die türkischen und kurdischen Intellektuellen müssten sich endlich zusammentun.

Prof. Dr. Baskin Oran, Politologe der Universität Ankara, betonte, er spräche selbstverständlich nicht für den türkischen Staat, sondern als Wissenschaftler. Ankara habe aus dem militärischen Sieg über die PKK nichts gemacht. Die Türkei müsse die Sub-Identitäten der Minderheiten, also auch die der Kurden, anerkennen. Sie dürfe davor keine Angst haben. Nicht tolerierbar sei jedoch jede Gewaltanwendung zur Durchsetzung von Rechten. Im Osmanischen Reich habe es diese Vielfalt gegeben, die auch für die heutige Türkei möglich sei. Nach der kemalistischen Modernisierung, befände sich die Türkei durch den erhofften EU-Beitritt in einer zweiten Modernisierungswelle, die es in diesem Sinne zu nutzen gelte.

Erklärung

Das Fenster für den Frieden offen halten!

Erneut wächst Gewalt im türkisch-kurdischen Konflikt. Die PKK-Guerilla hat gerade ihren etwa 5-jährigen einseitigen Waffenstillstand zum 1. Juni für beendet erklärt, da ihr Friedensangebot zu keiner angemessenen Reaktion Ankaras geführt habe. Doch die internationale Politik bemüht sich nicht, diesen Konflikt durch einen konstruktiven Dialog beizulegen. Vor diesem Hintergrund wenden sich 19 Intellektuelle, Politiker, Menschenrechtler, Friedens- und Kirchenleute an die Konfliktparteien, aber auch an die EU-Staatengemeinschaft und die Bundesregierung.

Norbert Blüm, Andreas Buro, Hans-Peter Dürr, Heiner Geißler, Ulrich Gottstein, Günter Grass, Jörn-Erik Gutheil, Inge Jens, Walter Jens, Wolfgang Jungheim, Heiko Kauffmann, Hans Koschnick, Jürgen Micksch, Jürgen Neitzert, Horst-Eberhard Richter, Gisela Penteker, Herbert Schnoor, Mehmet Sahin und Mani Stenner sagen:

"Ohne die Lösung der kurdischen Frage kann die Türkei ihre menschenrechtlichen Defizite nicht überwinden .... Eine Unterstützung des EU-Aufnahme-Begehrens der Türkei bedeutet deshalb auch, alles zu tun, damit endlich im Dialog und durch gezielte Schritte der Regierung der kurdischen Bevölkerung eine gleichberechtigte Existenz in der Türkei gesichert wird."

Die Aufforderung, zu einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage im Rahmen der staatlichen Einheit der Türkei zu kommen, muß auch vor dem Hintergrunddes Irak-Konflikts und einer Politik der Stabilisierung der ganzen Region gesehen werden. Aktuell geht es deshalb darum, das Fenster für den Frieden offen zu halten und den Dialog auf zu nehmen.

Der Text der Erklärung hat folgenden Wortlaut:
Wer über den EU-Beitritt der Türkei spricht, darf zur Kurdenfrage nicht schweigen

Die Türkei hat große Reformschritte unternommen, um der Europäischen Union beitreten zu können. Bisher hat sie dabei allerdings die Kurdenfrage weitgehend ausgeklammert. Das deutsche "Forum Menschenrechte` erklärte jüngst: "Vor allem Menschenrechtler und Angehörige kurdischer Parteien und Organisationen sind nach wie vor in großem Umfang mit politischen Prozessen konfrontiert und von Haftstrafen bedroht." Solange sich die Türkei nicht vom Verfassungsprinzip eines Nationalismus verabschiedet, der in der Praxis alle Staatsbürger ausgrenzt, deren Muttersprache nicht türkisch ist, kann in der Türkei von einer Gleichbehandlungaller Staatsbürger nicht ausgegangen werden.

Ohne die Lösung der kurdischen Frage kann die Türkei ihre menschenrechtlichen Defizite nicht überwinden, da die schweren kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen vor allem gegenüber der großen kurdischen Bevölkerung selbst eine zentrale Verletzung der Menschenrechte darstellen. Ein zentraler Schlüssel zur EU liegt in der Lösung der Kurdenfrage.

Die ausgrenzende Behandlung der Kurden ist auch mit dem Selbstverständnis der EU unvereinbar. Im Vielvölker-Kontinent Europa ist es absurd, die Vielfalt von Kulturen, Völkern und Sprachen zu negieren.

Eine Unterstützung des EU-Aufnahme-Begehrens der Türkei bedeutet deshalb auch, alles zu tun, damit endlich im Dialog und durch gezielte Schritte der Regierung der kurdischen Bevölkerung eine gleichberechtigte Existenz in der Türkei gesichert wird.

Wir bitten deshalb die Bundesregierung, die ein hohes Ansehen in der Türkei genießt, und die für die Vorverhandlungen zuständige Kommission der EU in Brüssel, im Dialog mit Ankara die Kurdenfrage auf die Tagesordnung zu setzen. Wir bitten, um ein deutliches Signal zur Dringlichkeit der Lösung dieses Problems.

An Türken und Kurden appellieren wir, auf Gewalt zu verzichten, und die seit Jahrhunderten zwischen ihnen bestehende Freundschaftsbrücke wieder zu begehen, um miteinander im Dialog und im gegenseitigen Respekt die Aussöhnung zu suchen.

In der Podiumsrundezum Thema, wie denn EU und Deutschland zur Lösung der Kurdenfrage beitragen könnten, verwies Andreas Buro zunächst auf die sehr realen Interessen der EU und Deutschlands an der Lösung der Kurdenfrage hin. Bei dem angestrebten Dialog stünden die Grenzen der Türkei nicht zur Diskussion. Das Kurden-Terrorismus-Feindbild sei zu überwinden, um auch in der Türkei frei über die Kurdenfrage sprechen zu können. Es sei dringend, dass die offizielle Politik endlich deutliche Signale aussendet, dass sie das Anliegen der Kurden ernst nimmt. MdB Ruprecht Polenz, früherer Generalsekretär der CDU, verwies darauf, die EU-Erweiterungspolitik gegenüber der Türkei sei eine Strategie der zivilen Konfliktbearbeitung. Er fände es fraglich, ob der Dialog ethnisch zu definieren sei. Jedenfalls müsse die ökonomische Asymmetrie in der Türkei verändert werden. Der frühere Innenminister Nordrhein-Westfalens, Dr. Herbert Schnoor, bestand darauf, dass die Kurdenfrage im Beitrittsverfahren erörtert werden müsse. Nordirak ließe sich im übrigen nur stabilisieren, wenn die Kurdenfrage geklärt würde. Diese dürfe nicht allein auf Regierungsebene geklärt werden, eine Diskussion auf gesellschaftlicher Ebene sei ebenso dringend. Gewalt könne nicht die Lösung des Problems bringen. Auch die jeweils eigene Schuld müsse anerkannt werden.

Amke Dietert, früheres MdB und heute für amnesty arbeitend, analysierte, der Reformprozess in der Türkei würde weitgehend von außen bewirkt. Die EU fordere noch zu wenig. Die Rückkehr in die Dörfer müsse von außen gefördert werden, ebenso wie kurdologische Forschung. Sie benannte die gegenwärtigen Defizite im Reformprozess, wie auch die unzureichende Praxis. Ein besonderes Problem sei, wer auf der kurdischen Seite als Ansprechpartner dienen könne. Nach einer eingehenden Kritik der bestehenden Verhältnisse in den kurdischen Gebieten machte Mehmet Sahin, der Geschäftsführer des Dialog-Kreises, konkrete Vorschläge: Die EU solle mit den Menschenrechtsvereinen und Kurden engeren Kontakt aufnehmen und in Diyarbakir ein Verbindungsbüro einrichten. Sie solle auch Mittel für die Rückkehr der Flüchtlinge bereitstellen. Die Grenzen müssten dringend entmint werden. Dabei könne Deutschland ebenso helfen, wie bei der Ausbildung von Verwaltungspersonal für die Kommunen. Er verwies auch darauf, wie friedenspolitisch schädlich die PKK-Verbotsverfahren seien.

In der folgenden Diskussion wurde Südtirol als ein gelungenes Beispiel der Aussöhnung genannt. Man sollte türkische Politiker dorthin einladen. Städtepartnerschaften und Gewerkschaftskontakte wurden vorgeschlagen und eine menschenrechtliche Begleitung zurückkehrender Flüchtlinge gefordert. Ruprecht Polenz schränkte ein, die EU könne in der Türkei nicht mehr durchsetzen als gegenüber anderen neuen Mitgliedern, nämlich Mindest-Standards. Polenz und Schnoor wandten sich entschieden gegen eine Aufhebung des PKK-Verbots, da diese eine terroristische Vereinigung sei. Dagegen wurden friedenspolitische Argumente vorgebracht.

Am Ende blieben trotz der vielseitigen Argumente und Diskussionen viele offene Fragen und Kontroversen. Das ist selbstverständlich für jeden Dialog-Beginn. Andreas Buro konnte trotzdem einige Gemeinsamkeiten nennen: Alle bejahten die Aufnahme eines türkisch-kurdischen Dialogs und wandten sich gegen Gewalt im Austrag des Konflikts. Die PKK-Guerilla solle ihreKündigung ihrer einseitigen Waffenruhe zurücknehmen. Alle sähen Fortschritte im Reformprozess der Türkei. Noch nicht erkennbar sei, ob sich daraus eine menschenrechtlich fundierte Entwicklungsrichtung ergebe. Der Tabu-Bruch in der Kurdenfrage sei ernst zu nehmen und zu ermutigen. Die EU und Deutschland solle endlich die Kurdenfrage deutlich benennen und ihre Lösung anfordern. Die Doppelmoral der europäischen Politiker, einerseits stets von präventiver Konfliktstrategie zu sprechen, aber sich dafür nicht zu engagieren, wolle man öffentlich kritisieren. Doch auch in den Zivilgesellschaften Europas, einschließlich der Türkei, müsse man lernen, die andere Seite in ihren Argumenten und Befürchtungen ernst zu nehmenund auf diese einzugehen. Auch unter uns gibt es Feindbilder, die uns die Wirklichkeit verstellen. Für alle Veränderungsprozesse brauchen wir einen langen Atem.

Kontakt: Geschäftsstelle: Postfach 903170, D-51124 Köln, Tel: 02203-126 76, Fax: 126 77, dialogkreis [at] t-online [dot] de, www.dialogkreis.de. Koordination: Andreas Buro, Am Sonnenberg 42, 61279 Grävenwiesbach, Tel:06086-30 87, Fax:06086-243, Andreas [dot] Buro [at] gmx [dot] de

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