BRD ohne Armee bis zum Jahr 2000?

von Christine Schweitzer

Mit dem Ende des Kalten Krieges besteht zum ersten Mal in Europa eine reelle Chance, das Abschreckungsdenken zu überwinden und Rüstung und Militär abzuschaffen. Die Bundeswehr ist in eine Legitimationskrise geraten. Jetzt, wo der Warschauer Vertrag sich in einem Auflösungsprozeß befindet, fragen sich auch Menschen, die keine grundsätzlichen Gegner des Militärs sind, warum die Bundeswehr nicht abgeschafft wird. Zahlreiche Initiativen und Organisationen in der Friedensbewegung haben diesen Gedanken inzwischen aufgegriffen und Kampagnen "Für eine BRD ohne Armee" (BoA) oder "Entmilitarisierung" entwickelt.

Es gibt viele Gründe, das Militär abschaffen zu wollen

Die jetzt aufgestellte Forderung nach völliger Entmilitarisierung wird durchaus unterschiedlich begründet. Die meisten dieser guten Gründe gibt es nicht erst seit gestern:

  • Aus pazifistischer Sicht ist Krieg ein Verbrechen an der Menschheit. PazifistInnen können es nicht akzeptieren, daß Staaten sich das Recht nehmen, Massenmord vorzubereiten, durchzuführen und auch noch ihre BürgerInnen zur Teilnahme an dieser Unternehmung zwingen.
  • Aus antimilitaristischer Sicht ist das Militär darüber hinaus eine Bedrohung für jede/n BürgerIn des eigenen Landes. Es kann gegen soziale Bewegung eingestzt werden, es steht für das totalitäre System vom Befehl und Gehorsam und für militarisierte, patriarchale Strukturen und trägt diese Strukturen in alle Lebensbereiche hinaus.
  • Es braucht auch niemand PazifistIn zu sein, um zu erkennen, daß moderne Industriegesellschaften nicht militärisch verteidigbar sind. Jeder Krieg - auch ein konventioneller - würde nämlich angesichts der räumlichen Dichte von chemischen Anlagen una AKWs zur totalen Zerstörung dessen führen, was verteidigt werden soll.
  • Aus ökologischer Sicht braucht die Ökokatastrophe die Sammlung aller Ressourcen. Daß nur eine Mark für Rüstung ausgegeben wird, ist aus dieser Perspektive unverantwortbar. Dazu kommt, daß Militär selbst einer der größten Vernichter von Umwelt darstellt.
  • Die Forderung nach Entmilitarisierung kann nicht getrennt von der Frage gerechter internationaler Beziehungen behandelt werden. Dabei erfaßt das Argument, das Rüstung die Gelder verschlingt, die besser zur Bekämpfung von Armut in der Zweidrittelwelt ausgegeben würden, nur einen Teil der Wahrheit (siehe unten).

Diese Begründungen schließen sich nicht aus und können daher gut im Rahmen der Gesamtkampagne nebeneinander stehen. Etwas anders sieht dies mit der letzten aus, nämlich der Argumentation, man könne das Militär jetzt abschaffen, weil es jetzt keinen Gegner mehr gäbe. So verlockend dieses Argument ist, steht es doch auf gleich zwei schwachen Beinen: Es legitimiert indirekt die bisherige Abschreckungspolitik und legt nahe, daß Militär wieder gebraucht werde, falls die Entspannung nicht wie erhofft voranschreitet oder neue "Feinde" sich auftun. Daher wäre die Friedensbewegung gut beraten, die Gründe für die Abschaffung des Militärs von den Gründen, jetzt eine Kampagne zu seiner Abschaffung zu initiieren, zu unterscheiden.

Wozu gibt es das Militär?
Zunächst muß festgestellt werden, daß trotz der Umwälzungen in den Ländern Osteuropas im Westen kein radikales Umdenken in dem Sinne, daß die NATO ihrerseits in Frage gestellt würde, stattfindet. Abrüstungsmaßnahmen wie etwa der Verzicht auf die Modernisierung der atomaren Kurzstreckenwaffen und die Verkleinerung von Truppenstärken sind erklärtermaßen keinne Schritte zur vollständigen Demilitarisierung. Im Gegenteil, am treffendsten könnte die derzeitige Lage als Umrüstung beschrieben werden. Immer mehr deutet sich an, daß der Ost-West-Konflikt durch eine unverschleierte Nord-Süd-Konfrontation ersetzt werden soll. Sogar ein gesamteuropäisch (-nordamerikanisches?) Bündnis gegen die armen Staaten der Zweidrittelwelt wird denkbar, da der Wohlstand des Nordens abhängig ist von der derzeitigen militärgestüzten Struktur der Weltwirtschaft, sprich von der Ausbeutung des Südens. Entmilitarisierung würde nicht nur die für die Schaffung gerechter Strukturen notwendigen Ressourcen frei sehen, sondern dem kapitalistischen Weltsystem einen Teil seiner Zwangsmittel entziehen.

Die Armee abschaffen und was noch?
Es wird gelegentlich davon gesprochen, daß "Bundesrepublik ohne Armee" zur neuen "Maximalforderung" (im Gegensatz zur alten "Minimalforderung") der Friedensbewegung werden könnte. Doch besteht innerhalb der Kampagne bislang keineswegs Einigkeit darüber, was "BoA"eigentlich alles umfaßt. Zwei Ansätze lassen sich unterscheiden: Für die einen ist BoA ein Kürzel für vollständige Entmilitarisierung. So heißt es etwa im Minderner Aufruf: "Entmilitarisierung der Bundesrepublik schließt ein: Abschaffung der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes! Abzug aller ausländischen Streitkräfte! Aufhebung der Wehrpflicht! Grundrecht auf Militärsteuerverweigerung! Stopp aller Rüstungsexporte! Umstellung militärischer Forschung und Produktion auf die Erzeugung ziviler, nützlicher und ökologisch verträglicher Güter! Berufliche Eingliederung derer, die heute von Militär und Rüstung abhängig sind! Streichung aller Militärausgaben! Überwindung des militaristischen Denkens und militärischer Strukturen!"
Andere möchten sich im Interesse der Kräftesammlung an einen Punkt allein auf die Bundeswehr oder auf Bundeswehr und NVA konzentrieren.
Einige der zitierten Forderungen können durchaus auch als Zwischenschritte auf dem Wege zur Entmilitarisierung verstanden werden. Allerdings sind auch hier unterschiedliche Auffassungen in der Bewegung zu verzeichnen:
- Zum einen ist die Frage der Bündniszugehörigkreit der BRD (bzw. des vereinigten Deutschlands) umstritten. Ein Austritt aus der NATO oder gar der EG weckt keineswegs nur bei den Nachbarn Deutschlands die Sorge, daß Deutschland sich erneut zur Großmacht mausern könnte. Sollte die Forderung nach Entmilitarisierung nicht durchsetzbar sein oder in Folge verstärkter nationalistischer Strömungen gar in Remilitarisierung umschlagen, würden so Weichen für eine sehr gefährliche Entwicklung gestellt. Dazu kommt die berechtigte Frage, ob der politische Status der Neutralität überhaupt Sinn macht in den Konflikten der Zukunft, denn auch ein neutrales Deutschland wäre eine wirtschaftliche Macht und Teilhaber an der Ausbeutung des Südens. Auf der anderen Seite kann die Alternative nicht heißen, sich weiter an der Politik der genannten Bündnisse zu beteiligen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte eventuell mit den Stichworten "ziviles Europa ohne Armeen", KSEZ-Prozeß und Wege der transnationalen Zusammenarbeit der Menschen aus den sozialen Bewegungen umrissen werden.
- Zwei andere teilweise recht heftig umstrittene Aspekte sollen hier nur erwähnt werden, nämlich der Stellenwert, welcher der Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht eingeräumt wird (ein zentrales Anliegen besonders von Kriegsdienstverweigerer-Organisationen) und nach Aufbau von Sozialer Verteidigung als Alternative zum Militär. Gegen eine Abschaffung der Wehrpflicht als Zwischenschritt wird gelegentlich die Sorge geäußert, es könne eine Berufsarmee entstehen, während der Sozialen Verteidigung der (meiner Ansicht nach unberechtigte) Ruch anhängt, sich nicht genügend vom militaristischen Denken zu lösen.

Eckpfeiler der Kampagne

Die Erfolgsausssichten der Kampagne "BRD ohne Armee" hängen meines Ermessens daran, wie weit es ihr gelingt, folgende vier Eckpfeiler gleich stark auszubauen weiterzuentwickeln:

1. Informations- und Aufklärungsarbeit
In der ersten Zeit wird Informationsarbeit sicherlich den Hauptbestandteil der Kampagne ausmachen. Wir sollten uns dabei auch im Klaren darüber sein, daß die Abschaffung des Militärs ein langfristiges Ziel ist. Ich persönlich hege Zweifel an der Forderung "BoA 2000". Wenn es uns bis zur Jahrtausendwende gelungen ist, BoA zum Politikum zu machen, von der Utopie zur realen Perspektive zu entwickeln, haben wir schon viel erreicht. Bei dieser Arbeit wird es besonders darauf ankommen, neben den Argumenten gegen das Militär (siehe oben) unsere Alternativen deutlich zu machen: eine Wirtschaftohne Rüstung, eine Jugend ohne Kriegsdienst, eine Gesellschaft ohne Feindbilder und Kriegsangst, ein ziviles Europa ohne Ausbeutung der Zweidrittelwelt. Und vielleicht steht noch vor all diesen Dingen an erster Stelle: Vertrauen in die eigene Macht schaffen, Veränderungen bewirken zu können.

2. Abrüstung erzwingen
Die zweite Aufgabe ist, eine machtvolle gewaltfreie Bewegung zu schaffen, die in der Lage ist, die Regierenden zur totalen Abrüstung zu zwingen.
Die BoA-Kampagne zielt ferzeit nicht auf eine Volkabstimmung, wie sie ihr Vorbild, die "Gruppe für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik" im November 1989 veranstaltet hat. (Sie erhielt damals 36% Zustimmuungt zu ihrer Forderung nach Abschaffung der Schweitzer Armee.) Ob die Forderung nach einen Referendum in Zukunft ein sinnvoller Ansatzpunkt der Kampagne werden kann, muß sich erst noch entscheiden. Es gibt jedoch genügend andere Ansatzpunkte für eine Arbeit vor Ort, von denen hier nur ein paar beispielhaft genannt werden können:

  • Unterschriftensammlungen unter einen AQufruf als Möglichkeit, mit jederfrau und jedermann ins Gespräch zu kommen;
  • Kommunale Friedensarbeit mit dem Ziel, militärfreie Zonen einzurichten;
  • Öffentlichkeitsarbeit mit Flugblättern, Infoständen, Straßentheater, Mahnwachen, Schreiben von LeserInnenbriefen usw;
  • Gewaltfreie Aktionen gegen Einrichtungen der Bundeswehr und der Alliierten, gegen die Militärausstellungen "Unser Heer" usw;
  • Kriegsdienstverweigerung, Rüstungssteurverweigerung und Totalverweigerung; "Wehrkraftzersetzung" durch alternative Information von Rekruten und Soldaten und vieles mehr.

3. Konversion
Die ökonomischen Faktoren sind neben den genannten eine der Hauptursachen für Aufrüstung und Krieg. Deshalb müssen Rüstungskonversion (Umstellung auf ziviler Güter) und regionale KOnversion (Umstellung der Infrastruktur militärisch abhängiger Gemeinden) eine wichtige Rolle in der Kampagne zur Abschaffung des Militärs spielen.

4. Europäisierung
Der vierte Eckpfeiler ist die internationale Zusammenarbeit der Armeeabschaffungsiniativen. Sie sollte genauso intensiviert werden wie Poltik und Wirtschaft ihre Beziehungen internationalisiert haben. Es gibt derzeit schon in einer Reihe europäischer Länder ähnliche Initiativen wie in der Schweiz und der Bundesrepublik, in Polen, Österreich und Spanien.
Die Perspektive heißt:
Ein Europa ohne Aemeen - im eigenen Land jetzt anfangen!
 

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.