Chemie-Waffen: Abzug wozu?

von Otfried Nassauer

Die Operation "Lindwurm", der Abzug von mehr als 100.000 Granaten mit dem tödlichen Nervengas, verlief - Gott sei Dank - ohne größere Zwi­schenfälle. Es gab keinen Unfall, auch nicht beim Bahntransport, bei dem sich hätte zeigen müssen, ob die Transportcontainer Aufprallgeschwin­digkeiten von bis zu 90 km/h ausgehalten hätten, obwohl nur bei Bruch­teilen dieser Geschwindigkeit getestet. Besser so. Und: Es ist noch ein­mal gutgegangen! Die Bundesrepublik ist heute ein von Chemiewaffen freies Land - im Frieden zumindest.

Die Freude über den Abzug der che­mischen Waffen aus der Bundesrepu­blik sollte den Blick für deren beson­dere Problematik aber auch in Zu­kunft nicht trüben. Es gilt, diesen Waffen weiter Aufmerksamkeit zu schenken. Zur Zeit befinden sich die Granaten aus dem pfälzischen Clausen auf See. Bestimmungsort: Johnston-Island im Pazifik. Eine lange und nicht ungefährliche Reise. Dort, so die all­gemeine Annahme, soll das Giftgas verbrannt werden.

Doch weit gefehlt: Eilig haben es die US-Streitkräfte mit diesem Vorhaben derzeit nicht. Die Waffen werden nicht außer Dienst gestellt, sie werden an einen anderen Stationierungsort verla­gert, der US-Army Chemical Activity Western Command, zuständig für den pazifischen Raum, unterstellt und ein­satzbereit gehalten. Die amerikanische Chemiewaffen-Spezialeinheit auf dem Pazifik-Atoll hat dementsprechend nicht nur die Aufgabe, die hochge­fährliche Munition sicher bis zur Ver­nichtung aufzubewahren. Im Gegen­teil: Noch um die letzte Jahreswende - so berichtet einer der dort stationier­ten Offiziere in der Januarausgabe der Fachzeitschrift "Army Chemical Re­view", wurden auf Johnston-Island Fliegerbomben mit chemischen Kampfstoffen technisch überholt. Auch habe man kürzlich erfolgreich eine öbung absolviert, chemische Waffen binnen 24 Stunden für die Verlegung von Johnston-Island zu ei­nem Einsatzort Einsatzort im Pazifik­raum bereitzustellen.

Frühestens in vier Jahren kann tech­nisch mit der Vernichtung der Giftgas­granaten aus der Bundesrepublik be­gonnen werden. Vor dem US-Kongreß hielten es zuständige hohe Offiziere 1989 für möglich, daß die Giftgasgra­naten aus der BRD auch 1997 noch nicht vollständig vernichtet wären. Vielleicht aber werden sie auch noch erheblich länger einsatzbereit gehal­ten. Da diese Granaten "jene in der besten Verfassung in den Lagerbe­ständen der USA" sind, ist anzuneh­men, daß sie zu Teilen jene zwei Pro­zent der heutigen Chemiewaffen-Po­tentiale darstellen werden, die die USA und die UdSSR gemäß ihres bi­lateralen Abkommens über die Ver­nichtung von 98 Prozent ihrer Be­stände vorläufig behalten wollen.

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Hintergrund
Otfried Nassauer (1956-2020) war freier Journalist und leitete das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)