Anti-Corona-Demos

Gerüchteküchen der Neuen Rechten?

von Renate Wanie
Im Blickpunkt
Im Blickpunkt
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Gerüchte verbreiten sich nicht unähnlich einer Seuche: Der römische Dichter Vergil nennt das Gerücht ein Übel, das so schnell ist wie kein anderes. Seine Macht beziehe es aus seiner Schnelligkeit, und indem es sich verbreite, gewinne es an Kraft hinzu. (1) Auf heute übertragen lässt es sich auf das Internet und seine Echokammern beziehen, z.B. zur einfachen und blitzschnellen Verbreitung von Gerüchten und Verschwörungstheorien.

Verschwörungsmythen haben Hochkonjunktur. Besonders auf sogenannten Anti-Corona- oder Hygiene-Demonstrationen in vielen Städten wird z.B. eine unterstellte Impfpflicht zur „Corona-Diktatur“ der Herrschenden, zur weiteren Panikerzeugung dienen Geflüchtete, die die Krankheit eingeschleppt hätten. Die Maskenpflicht wird zum Symbol der Unterdrückung, eine Maßnahme, die gezielt zu anderen Zwecken eingesetzt worden sei, Deutschlandfahnen dekorieren die höchst unterschiedlichen Gruppierungen in diesen Protestbewegungen. Das Corona-Virus - eine Projektionsfläche für alle möglichen Ängste? Eine heterogene Sammlungsbewegung aus der Mitte der Gesellschaft, ein Mobilisierungsfeld für die Neuen Rechten? (2)

Es ist nicht gerade einfach, den Überblick zu behalten, wer da mit welcher Weltanschauung  auf der Straße ist, das ist in Heidelberg ähnlich wie in Stuttgart oder Berlin, nur die Zahl der Demonstrierenden ist unterschiedlich groß: Neben radikalen Impfgegner*innen protestieren esoterische wahrheitssuchende „Aluhut-Träger“, „Infokrieger“ kämpfen gegen die „Lügenpresse“ oder den Einfluss von Bill Gates auf die Corona-Pandemie, der eine Dezimierung der Weltbevölkerung durch Impfungen gefordert habe. Aufdruck auf einem Mundschutz: „Gib Gates keine Chance!“. (3) Naturkundler*innen behaupten, das Inhalieren einer Kochsalzlösung mache immun, neofaschistische Akteure hingegen behaupten, die Regierung betreibe mit der Verbreitung des Virus einen Austausch der Bevölkerung. (4) Wieder andere Stimmen bagatellisieren die Epidemie als Psychose oder Hysterie. Nicht zu überhören sind auf diesen Demonstrationen auch nationalistische Appelle: Es brauche eine Renationalisierung und einen solidarischen Patriotismus.

Mehrere Tausend kamen Mitte Mai gleichzeitig in verschiedenen Städten wie in Berlin, Stuttgart, Frankfurt/M und München zusammen. Immer häufiger kommt es zu Übergriffen auf  Journalist*innen, Vertreter*innen der angeblichen „Lügenpresse“. Die Polizei leitete Strafverfahren ein, u.a. wegen tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte. Vergleiche der Lage in Deutschland heute mit der Situation in den dreißiger Jahren während der Nazi-Herrschaft wurden laut, ja sie wurde sogar mit der Sklaverei gleichgesetzt, von der man sich befreien müsse. Verschwörungsideologen haben Hochkonjunktur.

Frieden und Freiheit?
Die Parolen „Wir sind das Volk“, „Volksverräter“, „Nationaler Widerstand und Freiheit!“, „Frieden und Freiheit“ sind Begriffe, die bereits bei den Montagsmahnwachen eingesetzt wurden. Eine Inszenierung als Sprachrohr des vermeintlichen Volkswillens? Wer kann schon etwas gegen Frieden und Freiheit haben? Doch wenn man genau hinhört, versteht man, dass der Friede durch ein Kartell aus Finanzoligarchie und den sog. Systemmedien gefährdet sein soll. „Das alles geschieht perfiderweise unter der Berufung auf Artikel 20 des Grundgesetzes, das Recht zum Widerstand - gegen den angeblich totalitären Hygienestaat.“ (5) Wird hier mit einem Freiheitsbegriff operiert, der die individuelle Freiheit über die der Vielen stellt? Bedeutet hier möglicherweise Freiheit, keine Rücksicht auf das Infektionsschutzgesetz zu nehmen und unter Umständen Risikogruppen mit einer tödlichen Freiheit zu konfrontieren? Zwei Fragen, die die Autorin Carina Book in einem Artikel in „Analyse und Kritik“ stellt. (6) Besteht die Freiheit der Wahrheitssuchenden möglicherweise darin, die Flucht aus der Realität anzutreten und in Eskapismus zu verfallen? Doch was ist die Wirklichkeit? Sind es die dramatischen Bilder aus Norditalien, die den Transport der Leichen in die überlasteten Krematorien zeigten? Nach den Gesetzen der Mikrobiologie hängt die Rate der Neuinfektionen vor allem von der Intensität sozialer Kontakte ab. Bedeutet dies möglicherweise, dass wir vorübergehend unsere individuelle Freiheit einschränken sollten – zum einen um das Virus an der Ausbreitung zu hindern und zum anderen, um langfristig unsere Freiheit zu verteidigen? Wer gibt die richtigen Antworten auf z.T. berechtigte Fragen und Existenzängste? Wie gesundheitspolitisch umgehen mit den faktenbasierten Ergebnissen aus der Epidemiologie und der Virologie? „Bei aller berechtigten Kritik sind wir damit noch meilenweit von autoritären Verhältnissen wie beispielsweise in Ungarn entfernt, wo Ministerpräsident Viktor Orbán neuerdings per Dekret regiert.“ (7)

Aus der rechten internationalen Politik
Wie sehen Erklärungen auf der Ebene der internationalen Politik aus? Im Iran beispielsweise behauptete die Führung, bei der Pandemie handele es sich um die Attacke des US-amerikanischen Militärs. Nicht zu überhören ist ein antisemitischer Zungenschlag von regierungstreuen Medien in der Türkei, bei der Pandemie ginge es um den biologischen Krieg einer zionistischen Terrororganisation, um an den Börsen zu profitieren. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hingegen spricht von Hysterie, baut in der Krise ein Feindbild auf und macht China als den Schuldigen an der Pandemie aus. (8) Die Grenzen zwischen Gerücht, Lüge und politischer Instrumentalisierung des Virus sind offensichtlich fließend.

Globalisierung
Corona ist eine globalisierte, eine grenzüberschreitende Seuche. Globalisierung im Sinne von Intensivierung und Beschleunigung grenzüberschreitender Transaktionen, wie z.B. von Handel, Finanzen, Menschen und eben auch Epidemien. Doch „Globalisierung bedarf auch eines institutionalisierten Rahmens, der zentrale internationale öffentliche Güter garantiert: wirtschaftliche Stabilität und politische Sicherheit.“ (9) Institutionalisierte Global Governance eben, bereitgestellt durch internationale Verträge und Kooperationen von weltweiten Institutionen. In der Folge mit all den Konsequenzen der Globalisierung für die Umwelt, Migration und kulturellen Wandel. Aktuell werden die Folgen manifest durch das Corona-Virus im Alltag: Neben der Erkrankung auch Rezession, Unterbrechung der Produktionsketten, eine mögliche Weltwirtschaftskrise und geschlossene Grenzen, an denen auch Geflüchtete abgewiesen werden. Werden in der Nachwirkung von „Corona“ die Globalisierung und ihre neoliberalen Gewinner zukünftig in Frage stehen?

Woran halten?
„Sich an bestimmte Regeln zu halten und sich und seinen Mitmenschen so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Pandemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll sein.“ (10) Denn ein Lockdown verfolgt aktuell vor allem das Ziel, die weitere Übertragung des Corona-Virus zu unterbinden und ebenso das aktuell privatisierte, profitorientierte und krankgesparte Gesundheitswesen vor Überlastung und das Leben besonders gefährdeter Personen zu schützen. Mit den zunächst rasant angestiegenen Ansteckungszahlen und im Vergleich mit den Erfahrungen anderer Länder waren die rigiden Beschränkungen in Deutschland partiell angemessen. Und sie waren zeitweise auch deshalb notwendig, da die Bundesregierung über Jahre die notwendigen Maßnahmen zur Krisenprävention verschleppt hat. Doch waren die auferlegten Beschränkungen verhältnismäßig? Skepsis und kritische Fragen sind berechtigt: Die massiven Veränderungen des in der ersten Phase im Eilverfahren reformierten Infektionsschutzgesetzes waren gravierend. Offener Protest war geboten und wurde laut. Das Verfassungsrecht hat auch in der Krise zu gelten. „Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie gelten, weil sie auch in katastrophalen Fällen gelten.“ (11) Das anfangs pauschale Versammlungsverbot wurde Ende April vom Bundesverfassungsgericht auf Grund einer Klage aufgehoben, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 GG für die Demokratie wieder konstituierend und auf Länderebene differenziert geregelt. Auf alle Fälle müssen wir weiter wachsam sein und uns dafür einsetzen, dass die neuen Einschränkungen nicht zum Normalzustand werden! 

Wer sind die Anti-Hygiene-Demonstrierenden, die sich faktenresistent gegen eine „Herrschaft der Virologen“ und „Corona-Diktatur“ wehren? Diese heterogene neue Sammlungsbewegung kommt aus der Mitte der Gesellschaft und wird nicht von der einen Weltanschauung getragen, sondern besteht aus höchst unterschiedlichen Gruppierungen, einem diffusen Protest gegen die politische Elite, der bis in bürgerliche Kreise hineinreicht. Sind sie die Neue Rechte, die sich von identitären nationalistischen Rechtsextremen mobilisieren lassen (wird)?

Wie die „Aluhüte“ ticken, das wissen wir nun, doch was macht derweil die „Stahlhelmfraktion“  in dieser tiefen sozialen und ökonomischen Verunsicherung? Sie geht in die Offensive, kauft US-Atombombenflieger, beschafft Kampfdrohnen und drängt auf die Erhöhung des Rüstungsetats – eine Herausforderung für die in Sachen Abrüstung „systemrelevante Friedensbewegung“ zu massenhaften Protestaktionen!

Anmerkungen
1 Fechler, Hans-Ulrich (2020): Unerhört, diese Gerüchte! Eine kleine Kulturgeschichte. In: Rhein-Neckar-Zeitung, Magazin Nr. 129, 6./7. Juni 2020
2 von Lucke, Albrecht (2020): Widerstand 2020: Wer reitet die Corona-Welle? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2020, S. 5-8
3 Abschlag, Michael (2020): Besorgte Bürger und Verschwörungstheoretiker. Bei der Anti-Corona-Demo in Heidelberg trafen berechtigte Anliegen auf krude Thesen. In: Rhein-Neckar-Zeitung, 25.5.2020, S. 8
4 Fechler a.a.O., S. 2
5 von Lucke a.a.O., S. 8
6 Carina Book (2020): Uneindeutigkeiten der Grauzonen. Warum die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen bleiben. In: Analyse und Kritik Nr. 660, 19.5.2020, S. 7
7 Leisegang, Daniel (2020): Corona und die Grundrechte: Einsicht in die Notwendigkeit. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2020, S. 25-28
8 Fechler a.a.O., S. 2
9 Menzel, Ulrich (2020): Der Corona-Schock: Die finale Entzauberung der Globalisierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 4/2020, S. 37-44
10 Gössner, Rolf (2020): Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand. In: Ossietzky 8/2020
11 Heribert Prantl, SZ, 15.3.20

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