Das Friedensgutachten 2007 - eine kurze Würdigung

von Martin Singe

Alljährlich erscheint im LIT-Verlag, Münster, das Friedensgutachten von fünf bundesdeutschen Friedensforschungsinstituten, darunter die Hess. Stiftung für Konfliktforschung (HSFK) und das Bonner Konversionszentrum (BICC, außerdem: INEF, FEST, IFSH). Es versteht sich als "Jahrbuch der fünf Institute für Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik". Auf 350 Seiten werden aktuelle friedenspolitisch relevante Themen kompetent behandelt. Der diesjährige thematische Schwerpunkt "Militäreinsätze auf dem Prüfstand" widmet sich auf 100 Seiten der neuen interventionistischen Rolle der Bundeswehr und kommt zu unterschiedlich kritischen Bewertungen. Als regionale Schwerpunkte werden der Mittlere Osten, der asiatisch-pazifische Raum und Krisenherde in Afrika behandelt. Die Einzelstudien sind von der einführenden Stellungnahme der Herausgeber, die eine zusammenfassende Bewertung versucht, und einer in Rubriken gegliederten Zeittafel im Ereigniskalender-Stil am Schluss des Buches gerahmt.

Die allesamt lesenswerten Einzelstudien können im Kontext einer kurzen Besprechung natürlich nicht alle eigens behandelt werden; hier müssen einige ausgewählte Schlaglichter auf Beiträge genügen, die aus friedensbewegter Sicht besonders bedeutsam sind.

Kein Pazifismus - aber kritische Interventionsbilanz
Laut Stellungnahme der Herausgeber zum Schwerpunkt ist die neue Rolle der Bundeswehr aktuell mit zu vielen Ungewissheiten versehen: eine klare Kriteriologie für Auslandseinsätze sei nicht erkennbar und müsse daher von der Friedensforschung verstärkt entwickelt und eingefordert werden. Aus Sicht der Friedensbewegung muss hier besonders darauf hingewiesen werden, dass sich die Verfasser der Studie nicht dem Spektrum eines kritischen politischen Pazifismus zuordnen, sondern militärischen Einsätzen - unter strengen Bedingungen - offen gegenüberstehen. Der NATO-Interventionskrieg gegen Jugoslawien 1999 wird als eindeutig völkerrechtswidrig gebrandmarkt, ebenso der Irak-Krieg 2003. Eine sehr kritische kursorische Bilanz der Interventionen von Irak 1991 über Bosnien, Somalia, Kosovo bis Aghanistan 2001 und Irak 2003 zieht Reinhard Mutz in seinem Beitrag. Nüchtern wird analysiert, dass das Ziel Friedenssicherung bei allen Interventionen im Verhältnis zu erstrebtem staatlichen Eigennutz nachrangig ist. Mutz kritisiert deutlich das neue "Sicherheitsweißbuch" von 2006: "Danach sollen deutsche Soldaten in erster Linie weder äußere Gefahren abwenden noch das Land verteidigen, weder den Frieden der Welt schützen noch überhaupt einer spezifisch sicherheitspolitischen Aufgabe nachkommen. An der Spitze ihres Auftragskatalogs steht als qualitativ neue Zielmarkierung nun die Gewährleistung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands." (S. 61) Statt Friedenssicherung sind also tonangebende Motive bei Interventionsentscheidungen "nationale Einflussmehrung und demonstrierte Entschlusskraft, Allianzkohäsion und internationales Prestige." (S. 62)

Bei anderen oder auch manchen zusammenfassenden Beiträgen fragt man sich allerdings z.B. hinsichtlich des Irak-Krieges, ob die Friedensforschungsinstitute nicht doch gelegentlich unter sozialdemokratischer (Des-)Orientierung leiden, wenn behauptet wird: "Die Bundesrepublik hat unter Bundeskanzler Schröder den Irakkrieg entschieden abgelehnt" (S. 4). Hat die Friedensbewegung nicht eindeutig in ihren Aktionen und Erklärungen auf die politisch gewollte Verwicklung der bundesdeutschen Regierungspolitik in diesen Krieg hingewiesen? Sind die Aussagen im Bundesverwaltungsgerichts-Urteil (in Sachen Verweigerung Major Pfaff) zu den völkerrechtswidrigen Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik für diesen Krieg so schwer zu verstehen?

Bundeswehr und Afghanistan
Die bundesdeutsche Afghanistan-Politik wird zwischen US-Dominanz, NATO-Druck und innenpolitischer Scheu, Fehler einzugestehen, verortet, was zu einer inkohärenten Politik und Strategie geführt habe. Daher wird gefordert, den Bundeswehr-Einsatz auf die sichereren Gebiete zu beschränken und für den Fall weiterer Verschlechterungen eine politische Exit-Strategie zu erarbeiten. Im Einzelbeitrag zu Afghanistan wird kritisch angemerkt, dass das Afghanistan-Engagement vom deutschen Interesse auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat mitgeleitet war. Das Mit- bzw. Nebeneinander militärischer und ziviler Einsätze in Afghanistan kann nicht als erfolgreich bewertet werden. Dass für die NATO inzwischen in diesem Einsatz das Interesse am Selbsterhalt größer ist als an der Zukunft Afghanistans, wird im Artikel immerhin angedeutet. Zu wenig bzw. gar nicht wird auf die völkerrechtliche Bewertung von ISAF und OEF in diesem Kontext eingegangen. Dass sich blinde Bündnissolidarität wieder einmal vor Völkerrecht geschoben hat, wird nicht hinreichend betont. Erst recht nicht, dass auch noch diese angeblich unumgängliche Bündnissolidarität dazu dient, eigene neue machtpolitische Ambitionen zu übertünchen. Die Kriegs-Einsätze des Kommando Spezialkräfte finden keinerlei Erwähnung.

Kriterien für Militäreinsätze?
Schließlich werden im Teil der politischen Stellungnahme der Verfasser "unabdingbare" Kriterien für künftige Militäreinsätze benannt, die nicht übermäßig neu oder originär sind:

Rechtmäßigkeit, Ausschöpfung ziviler Alternativen, polit. Gesamtkonzept, Evaluierung und Bereithaltung von Exit-Strategien. Ihr politisches Eigen-Dilemma machen die Verfasser in ihrem 2. Kriterium deutlich: "Unterscheidung von friedenspolitischen und funktionalen Gründen: macht- einfluss- und bündnispolitische Ziele dürfen nicht den Ausschlag geben" (S. 12). Was aber heißt "den Ausschlag geben"? Immerhin wird damit zugestanden, dass machtpolitische usw. Ziele wesentliches Gewicht bei Entscheidungen zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr haben dürfen. Das ist aus friedensbewegter Sicht inakzeptabel. Hier spürt man förmlich das Bemühen, realpolitische Wirksamkeit durch Brückenbau zur Machtpolitik zu erreichen. Demgegenüber muss die Friedensbewegung die Realpolitik weiterhin mit ethisch eindeutigen Forderungen konfrontieren, auch wenn deren Radikalität eine übermorgige Umsetzung unwahrscheinlich macht. Dennoch bleibt es natürlich gut und sinnvoll, wenn (staatlich geförderte) Friedensforschung dazu beiträgt, immer auch denkbare schlimmere Entwicklungen zu verhindern bzw. aufzuhalten oder umzukehren. Es kann nicht darum gehen, zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung Schuldzuweisungen zu diskutieren, sondern lediglich darum, sich jeweils der eigenen unterschiedlichen Rolle bewusst zu bleiben. Und vor allem dort an einem Strang zu ziehen, wo die größten Übereinstimmungen zu finden sind. Dies ist im vorliegenden Gutachten sicherlich in Sachen Atomwaffenpolitik der Fall.

Verzicht auf nukleare Teilhabe als Schritt zur atomwaffenfreien Welt
"Alle fünf Kernwaffenmächte missachten ihre Abrüstungsverpflichtungen, modernisieren ihre Arsenale an Gefechtsköpfen und Trägermitteln und untergraben so die Geschäftsgrundlage des globalen Nichtverbreitungsregimes (Non-Proliferation-Treaty)." (S. 13) Solche Politik trägt dazu bei, dass immer mehr Nicht-Nuklearstaaten nach Atomwaffen streben werden. Die nuklearen Ambitionen weiten sich so immer stärker aus. Im Mittleren Osten könnte sich sogar in Bälde der Albtraum eines atomaren Wettrüstens entwickeln. Hier hat die Bundesregierung reale Handlungsmöglichkeiten, die das Friedensgutachten eindringlich anmahnt: Verzicht auf die nukleare Teilhabe in der NATO und Abzug aller Kernwaffen aus Deutschland. Der Atomwaffenproblematik sind auch die beiden sehr guten Einzelbeiträge von Oliver Meier und Harald Müller gewidmet. Meier fordert, die Debatte um die Aufgabe der nuklearen Teilhabe und den Abzug der Atomwaffen aus Europa zu nutzen, um "die nukleare Abschreckung der NATO grundsätzlich in Frage zu stellen" (S. 95). Nach der Ausmusterung des Tornado als nuklearwaffenfähiges Trägermittel könne die bevorstehende politische Diskussion um neue Trägersysteme ebenfalls genutzt werden. Der Ausstieg einzelner EU-Staaten aus der nuklearen Teilhabe könne einen Dominoeffekt erzeugen. Eine solche Entwicklung wäre schließlich auch einer diplomatischen Lösung der aktuellen Konflikte um die Atomwaffenentwicklung in Iran und Nordkorea zuträglich. Müller stellt noch ausführlicher dar, inwiefern die Nuklearmächte die anderen Staaten geradezu motivieren, sich Kernwaffen zuzulegen. (S. 143ff) Die Nicht-Nuklearmächte der NATO dürften sich nicht länger "im Namen der Bündnissolidarität gewissermaßen in intellektuelle Vorbeugehaft" (S. 145) nehmen lassen. "Statt `Feigheit vor dem Freund` ist eine größere Konfliktbereitschaft anzuraten." (S. 146)

Die Rolle der Soldaten und der Öffentlichkeit
In zwei Beiträgen des Schwerpunktteils wird die Rolle der Öffentlichkeit und die Rolle der Soldaten selbst im Hinblick auf die veränderten neuen Funktionsbestimmungen der Bundeswehr diskutiert. Leider greifen diese Beiträge - aus friedensbewegter Sicht - zu kurz. Wesentliche Konfliktfelder werden nicht berührt, so z.B. die Auseinandersetzungen in der Bundeswehr um ein aufgeklärtes Gehorsamsverständnis bzw. um das Recht auf Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen und das verfassungswidrige Agieren des Verteidigungsministeriums gegen die Freiheit des Gewissens (vgl. die politischen Konflikte um die Soldaten Florian Pfaff und Jürgen Rose sowie das Bundesverwaltungsgerichtsurteil zum soldatischen Gehorsam). Ebenso fehlt eine Hervorhebung bzw. Auseinandersetzung mit der kontinuierlich vorgetragenen Kritik aus der Friedensbewegung an der neuen Interventionsarmee Bundeswehr, wenn pauschal vom Desinteresse der Bevölkerung an diesen Fragen gesprochen wird. Völkerrechtliche Fragen kommen generell sehr kurz, obwohl diese gerade von der Friedensbewegung auch über Aktionen z.B. gegen den Irak-Krieg und die Unterstützung dieses Krieges durch die Bundesregierung immer wieder zum Thema gemacht wurden. Auch auf die Rolle der Bundesregierung bei der Verneblung ihrer Interventionsmotive oder z.B. bei bewusster Geheimhaltungspolitik von Kriegseinsätzen (KSK!) wird nicht eingegangen. Solche kritischen Anfragen an herrschende Politik wären im Friedensgutachten zu wünschen, statt der Regierungspropaganda auf den Leim zu gehen, z.B. im Hinblick auf die angebliche "Ablehnung des Irak-Kriegs durch die Bundesregierung": "Wie Kanzler Schröder seinerzeit betonte, gebe es für jeden Einsatz eine hohe moralische und politische Begründungspflicht." (S. 46f)

Trotz solcher punktueller Kanzlerergebenheit sei das Friedensgutachten 2007 sehr zur Lektüre empfohlen. Insbesondere auch in den einzelnen Länderbeiträgen aus den Bereichen Mittlerer Osten, Asiatisch-Pazifischer Raum und Afrika finden sich eine Fülle friedenspolitisch relevanter aktueller Informationen und Konfliktanalysen sowie perspektivischer Anregungen für konstruktive Politikgestaltung.

Das Friedensgutachten 2007 ist im Buchhandel für 12,90 Euro erhältlich.

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Hintergrund
Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".