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Das Versagen der Europäer im Jugoslawienkonflikt
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Zum Zeitpunkt, an dem dieser Artikel geschrieben wird, wird in Genf fleißig weiterverhandelt. Doch keine der in der Londoner Konferenz Anfang September feierlich verkündeten dreizehn Prinzipien, denen alle Kriegsparteien zugestimmt hatten, ist in die Realität umgesetzt worden. Krieg, "ethnische Säuberung" und heimtückische Gemetzel an Zivilisten gehen mit unverminderter Brutalität weiter.
Das bisherige weitgehende Versagen von UNO, KSZE, EG, NATO und WEU im Jugoslawienkonflikt ist von unterschiedlicher Größe und Bedeutung für die Zukunft. Bei allen wichtigen Unterschieden gibt es jedoch einen gemeinsamen Nenner: Auch drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sind die fast 50 Jahre gültigen Koordinaten des Ost-West-Konfliktes noch nicht wirklich überwunden. Genauso wie die vor allem an UNO und KSZE geknüpften unrealistischen Hoffnungen früherer Jahre übersieht allerdings auch die derzeitige Enttäuschung in der breiten Öffentlichkeit über das Versagen dieser Institutionen eine im Grunde banale Tatsache: multilaterale Institutionen und Staatenbündnisse handeln in einem konkreten Konflikt nicht klüger, besser, schneller oder wirkungsvoller als die Interessen und Fähigkeiten ihrer einflussreichsten Mitglieder dies zulassen.
Inflation der Gipfeltreffen
Wohl kaum einem Konflikt seit 1945 waren so viele internationale Konferenzen, Sondertagungen, Gipfel und Verhandlungen gewidmet wie diesem ersten großen europäischen Krieg nach dem Sieg über Hitlerdeutschland. Vor allem in den ersten sechs Monaten bis Anfang 1992 waren diese hektischen Aktivitäten aber vor allem Ausdruck der Konkurrenz um Einfluss und Profilierung zwischen verschiedenen westlichen Hauptstädten sowie zwischen EG, WEU und NATO.
Die wesentlichen Jugoslawien-Aktivitäten zwischen Juli 1991 und Januar 1992 fanden im Rahmen der EG statt; die KSZE erhielt lediglich eine Statistenrolle, obschon sie nach der UNO am besten geeignet gewesen wäre, um den Rahmen für eine Beendigung der Kriegshandlungen und eine friedliche Konfliktlösung zu setzen. Dies liegt vor allem an ihren noch immer sehr mangelhaften Kompetenzen und ihrer institutionellen und infrastrukturellen Schwäche. Zwar wurde etwa das strikte Konsensprinzip aufgelockert zugunsten eines Verfahrens, das die Verurteilung eines KSZE-Staates auch gegen dessen Stimme erlaubt. Auf einen Ausschluss des Rumpfgebildes Rest-Jugoslawien konnten sich die inzwischen 51 KSZE-Staaten jedoch auch nach monatelangen Beratungen bislang nicht einigen.
Auch die Fingerübungen der Westeuropäischen Union (WEU), dem europäischen Pfeiler der NATO, waren kaum mehr als heiße Luft. Sie sollten vor allem der Profilierung dieser Jahrzehnte ohne Bedeutung dahingeschlummerten Organisation gegen die NATO dienen. Dahinter steckt nicht zuletzt das Bestreben Frankreichs, das westeuropäische Militärbündnis auf - und die in Paris ungeliebte, weil von den USA dominierten NATO abzuwerten. Diese ihrerseits betrieb lediglich Ankündigungspolitik, zum Teil mit erheblichem Trommelwirbel. Die von NATO und WEU gemeinsam in die Adria entsandte Flotte zur "Überwachung" der gegen Serbien verhängten Sanktionen war eine Farce. Zur Bereitstellung von Soldaten aus westeuropäischen Staaten zur Aufstockung der UN-Truppen in Bosnien-Herzegowina, die NATO und WEU Anfang September großspurig und in offener Konkurrenz zueinander ankündigten, bedurfte es beider Militärbündnisse überhaupt nicht. Diese Entscheidungen wurden letztlich auf Ebene der nationalen Regierungen getroffen. Und die Soldaten unterstehen in Bosnien-Herzegowina ausschließlich dem UNO-Kommando und tragen weder einen NATO- noch einen WEU-Hut.
Der Hinterhof der EG?
Es war die Europäische Gemeinschaft, die den Anspruch erhob, "die Europäer" seien zur Lösung von Konflikten auf "ihrem Kontinent" in der Lage. Dem entsprach damals noch weltweit eine Erwartungshaltung, die sich mit dem Auf-und Ausbau von EG und KSZE in den letzten dreißig Jahren zunehmend herausgebildet hatte. Nur so ist überhaupt zu erklären, daß nicht zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt des Konfliktes die Option UNO ins Spiel gebracht wurde.
Die EG war allerdings denkbar schlecht auf den Konflikt vorbereitet. Das gilt auch für die USA. Denn Regierungen und Oppositionsparteien in den westlichen Staaten, Politikwissenschaft und kritische Intelligenz hatten sich gegenüber der innenpolitischen Situation und Entwicklung Jugoslawiens über viele Jahre ignorant verhalten. Solange Jugoslawien mit seiner von Moskau unabhängigen Außenpolitik eine dem Westen genehme und kalkulierbare Rolle spielte, schien aus westlicher Sicht alles in Ordnung. Zur "Belohnung" für diese Rolle wurde Belgrad unter anderem mit massiven Waffenlieferungen bedacht. Waffen, die im jüngsten Balkankrieg zum Einsatz kamen. Diese Haltung änderte sich auch nicht nach dem Tode Titos und der 1981 beginnenden militärisch-polizeilichen Unterdrückung der Albaner in der autonomen Provinz Kosovo.
Inzwischen ist der Mythos von der Sonderrolle Europas gründlich zerstört. Schon im Sommer 1991 sprach einiges gegen die Realitätstüchtigkeit dieses Mythos: zwei der vier größten und gewichtigsten EG-Staaten - Frankreich und insbesondere Deutschland - waren zumeist auf entgegengesetzter Seite zutiefst verstrickt in die Kriege und Konflikte, die sich auf dem Territorium des bisherigen Jugoslawiens im 19. und 20. Jahrhundert bis 1945 abspielten, die anderen beiden - Großbritannien und Italien - waren zumindest am Rande beteiligt. Die Hoffnung, dies sei lange vorbei und von den BewohnerInnen Ex-Jugoslawiens vergessen und vergeben, erwies sich als Illusion. Zumal Frankreich und Deutschland durch ihr Verhalten auch in dem aktuellen Konflikt Anlässe boten für den Verdacht, sie spielten nach wie vor die serbische beziehungsweise die kroatische Karte.
Die Rolle der EG im Jugoslawienkonflikt, vor allem die von vielen Seiten (UN-Generalsekretär, USA, anderen EG-Mitgliedern und selbst dem seinerzeitigen EG-Vermittler Lord Carrington) als falsch und verhängnisvoll kritisierte Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien und Kroatien ist ohne die Politik Deutschlands und seines damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher nicht erklärbar. Um die Beweggründe für die Politik Deutschlands gibt es immer noch vorwiegend Behauptungen und Spekulationen.
Eine dieser Spekulationen lautet, die wiedervereinigte Bundesrepublik habe mit der forcierten Anerkennung die Zerstückelung Jugoslawiens betreiben wollen, um so ihren politischen, wirtschaftlichen und strategischen Einfluss in Südosteuropa zu vergrößern. Dies behauptet nicht nur die serbische Propaganda ("Viertes Reich"), sondern auch mancher Linker in der Bundesrepublik. Für die Stichhaltigkeit dieser These wurden bislang wenige Belege auf den Tisch gelegt. Das von einigen angeführte Interesse etwa der deutschen Atomwirtschaft an der Betreibung eines AKWs reicht wohl kaum aus. Es sprechen im Gegenteil einige Indizien dafür, daß die Zerstückelung Jugoslawiens und die dadurch verschärften Spannungen in der Balkanregion dem Interesse zumindest der deutschen Außenwirtschaft zuwiderlaufen. So führte etwa der auf Serbien gemünzte und vor allem auf Bonner Drängen gefasste Sanktionsbeschluss der EG-Außenminister Anfang Dezember 1991 zu zahlreichen Protesten deutscher Exportunternehmen bei der Bundesregierung. Denn in Reaktion auf den Sanktionsbeschluss sperrte die Regierung in Belgrad wichtige Transitwege für Exporte in die Türkei und andere Staaten Südosteuropas.
Es gibt viele Hinweise darauf, daß dem Bonner Handelns statt eines strategischen Masterplanes eher ein Gestrüpp aus Motiven, Einflüssen und Defiziten von zum Teil sehr banaler Natur zu Grunde lag. Unter die Defizite fällt die bereits für alle westlichen Staaten konstatierte jahrelange Ignoranz gegenüber der innenpolitischen Situation Jugoslawiens. Zur spezifischen Ignoranz seitens der BRD gehört, daß die jüngste gemeinsame Vergangenheit der beiden Staaten, die Verbrechen Hitlerdeutschlands und die Kooperation zwischen deutschen und kroatischen Faschisten beim Genozid an den Serben bis dato kein Thema waren. Diesbezüglich war (und ist) Jugoslawien - ähnlich wie Rumänien und Bulgarien - ein weißer Fleck auf der Landkarte der Mitte der 60er Jahre begonnenen deutschen Ostpolitik.
Die Krise Hans-Dietrich Genschers
Zu diesem Defizit kam die Krise von Genscher. Siebzehn Jahre lang hatte der - nach Gromykos Abtritt - dienstälteste Außenminister der Welt seine Verdienste vor allem in der Ostpolitik gesammelt. Die Veränderung der welt-und europapolitischen Rahmenbedingungen und der Wegfall liebgewordener Aktionsfelder führte zu einer "erheblichen Desorientierung" und zur "hektischen Suche nach neuen Betätigungs-und Einflussmöglichkeiten", wie Bonner Politiker im Sommer/Herbst '91 seine damalige Verfassung beschrieben.
Zunächst bewegte der Bundesaußenminister sich durchaus noch in gewohnten Bahnen. "Erhaltung der jugoslawischen Föderation" lautete noch bis nach Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Juli 91 die Linie, die er sowohl innerhalb der Bonner Koalition (gegen die CSU) wie der EG verfocht. Für seinen Umschwung hin zu einer Politik der forcierten Anerkennung Sloweniens und dann Kroatiens gab es eine Reihe von Einflussfaktoren: Da war zunächst Genschers "Gefühl" oder auch "Überzeugung", gerade die Deutschen, die gerade ihre Vereinigung und "volle Souveränität" erlangt hatten, dürften andere in ihrem Souveränitätsstreben "nicht alleine lassen". Dazu kam Anfang Juli 91 eine regelrechte Kampagne, die die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter Federführung ihres Redakteurs J.G.Reißmüller gegen die Serben und für die umgehende Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland führte. Die Serben wurden ausnahmslos verteufelt, die Kroaten und ihr Präsident Tudjman als völlig unschuldige, unterstützenswerte Demokraten bezeichnet.
Unter dem Eindruck der FAZ-Kampagne revidierten wichtige CDU-Politiker ihre Haltung. Den Ausschlag gab aber schließlich die Position einiger führender Außen-und Sicherheitspolitiker der SPD, bei denen Voigt und Gansel die Befürwortung der Anerkennung durchsetzten. Offiziell besiegelt wurde dieser ganze innenpolitische Meinungsbildungsprozeß mit der Resolution des Deutschen Bundestags vom 14. November 91, in dem die Bundesregierung offiziell zur Anerkennung Kroatiens und Sloweniens aufgefordert wird. Dieser Resolution stimmten neben den Koalitionsfraktionen auch die große Mehrheit der Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Grüne zu.
Von der einmal festgeklopften neuen Linie ließ sich Genscher auch durch die besten Sachargumente nicht mehr abbringen. Auf einem Treffen des Bundesaußenministers mit den deutschen Auslandsbotschaftern im Herbst 1991 rieten diese ihrem obersten Dienstherrn fast einhellig von einer vorschnellen Anerkennung Kroatiens ab. Und auch die Bedenken verschiedener EG-Partner gegen die neue Bonner Haltung bestärkten Genscher eher noch, an ihr festzuhalten. Es war ein Fehler der anderen EG-Staaten, daß sie sich trotz aller gewichtiger Bedenken letzten Endes die Bonner Anerkennungslinie aufzwingen ließen. Natürlich läßt sich heute nachträglich nicht beweisen, daß eine andere Strategie der EG erfolgreicher gewesen wäre - zumindest in dem Sinne erfolgreicher, daß der Krieg, Vertreibung und die anderen brutalen Menschenrechtsverletzungen in diesem Ausmaß verhindert worden wären.
Anerkennungs-Farce
Mit der Anerkennung Kroatiens hielt sich die EG nicht an die von ihr selbst zuvor aufgestellte Bedingung einer Einhaltung und Garantie der Menschen-und Minderheitenrechte (Badinter-Gutachten). Vollends zur unglaubwürdigen Farce geriet die Politik der Zwölfergemeinschaft, als sie mit Rücksicht auf griechische Bedenken Mazedonien, gegen dessen Menschenrechtspolitik die Badinter-Kommission im Unterschied zu der Kroatiens keinen Einspruch erhoben hatte, die Anerkennung verweigerte. Die größte Inkonsequenz liegt allerdings darin, daß die EG bis heute nicht willens und in der Lage ist, das von ihr bereits Anfang Dezember 91 verhängte und im Mai 92 von der UNO übernommende Embargo wenigstens unter den eigenen Mitgliedern durchzusetzen. Nach wie vor werden strategische Güter wie Öl aus Griechenland an die Serben geliefert. Aber auch Firmen aus der BRD und anderen EG-Staaten brechen das Embargo.