Das Versagen der Europäer im Jugoslawienkonflikt

von Andreas Zumach
Hintergrund
Hintergrund

Zum Zeitpunkt, an dem dieser Artikel geschrieben wird, wird in Genf fleißig weiterverhandelt. Doch keine der in der Londoner Konferenz An­fang September feierlich verkündeten dreizehn Prinzipien, denen alle Kriegsparteien zugestimmt hatten, ist in die Realität umgesetzt worden. Krieg, "ethnische Säuberung" und heimtückische Gemetzel an Zivilisten gehen mit unverminderter Brutalität weiter.

Das bisherige weitgehende Versagen von UNO, KSZE, EG, NATO und WEU im Jugoslawienkonflikt ist von unter­schiedlicher Größe und Bedeutung für die Zukunft. Bei allen wichtigen Unter­schieden gibt es jedoch einen gemein­samen Nenner: Auch drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sind die fast 50 Jahre gültigen Koordinaten des Ost-West-Konfliktes noch nicht wirk­lich überwunden. Genauso wie die vor allem an UNO und KSZE geknüpften unrealistischen Hoffnungen früherer Jahre übersieht allerdings auch die der­zeitige Enttäuschung in der breiten Öf­fentlichkeit über das Versagen dieser In­stitutionen eine im Grunde banale Tat­sache: multilaterale Institutionen und Staatenbündnisse handeln in einem konkreten Konflikt nicht klüger, besser, schneller oder wirkungsvoller als die Interessen und Fähigkeiten ihrer einflussreichsten Mitglieder dies zulassen.

Inflation der Gipfeltreffen

Wohl kaum einem Konflikt seit 1945 waren so viele internationale Konferen­zen, Sondertagungen, Gipfel und Ver­handlungen gewidmet wie diesem ersten großen europäischen Krieg nach dem Sieg über Hitlerdeutschland. Vor allem in den ersten sechs Monaten bis Anfang 1992 waren diese hektischen Aktivitäten aber vor allem Ausdruck der Konkur­renz um Einfluss und Profilierung zwi­schen verschiedenen westlichen Haupt­städten sowie zwischen EG, WEU und NATO.

Die wesentlichen Jugoslawien-Aktivi­täten zwischen Juli 1991 und Januar 1992 fanden im Rahmen der EG statt; die KSZE erhielt lediglich eine Stati­stenrolle, obschon sie nach der UNO am besten geeignet gewesen wäre, um den Rahmen für eine Beendigung der Kriegshandlungen und eine friedliche Konfliktlösung zu setzen. Dies liegt vor allem an ihren noch immer sehr man­gelhaften Kompetenzen und ihrer insti­tutionellen und infrastrukturellen Schwäche. Zwar wurde etwa das strikte Konsensprinzip aufgelockert zugunsten eines Verfahrens, das die Verurteilung eines KSZE-Staates auch gegen dessen Stimme erlaubt. Auf einen Ausschluss des Rumpfgebildes Rest-Jugoslawien konnten sich die inzwischen 51 KSZE-Staaten jedoch auch nach monatelangen Beratungen bislang nicht einigen.

Auch die Fingerübungen der Westeuro­päischen Union (WEU), dem europäi­schen Pfeiler der NATO, waren kaum mehr als heiße Luft. Sie sollten vor al­lem der Profilierung dieser Jahrzehnte ohne Bedeutung dahingeschlummerten Organisation gegen die NATO dienen. Dahinter steckt nicht zuletzt das Bestre­ben Frankreichs, das westeuropäische Militärbündnis auf - und die in Paris un­geliebte, weil von den USA dominierten NATO abzuwerten. Diese ihrerseits be­trieb lediglich Ankündigungspolitik, zum Teil mit erheblichem Trommelwir­bel. Die von NATO und WEU gemein­sam in die Adria entsandte Flotte zur "Überwachung" der gegen Serbien ver­hängten Sanktionen war eine Farce. Zur Bereitstellung von Soldaten aus westeu­ropäischen Staaten zur Aufstockung der UN-Truppen in Bosnien-Herzegowina, die NATO und WEU Anfang September großspurig und in offener Konkurrenz zueinander ankündigten, bedurfte es beider Militärbündnisse überhaupt nicht. Diese Entscheidungen wurden letztlich auf Ebene der nationalen Regierungen getroffen. Und die Soldaten unterstehen in Bosnien-Herzegowina ausschließlich dem UNO-Kommando und tragen we­der einen NATO- noch einen WEU-Hut.

Der Hinterhof der EG?

Es war die Europäische Gemeinschaft, die den Anspruch erhob, "die Europäer" seien zur Lösung von Konflikten auf "ihrem Kontinent" in der Lage. Dem entsprach damals noch weltweit eine Erwartungshaltung, die sich mit dem Auf-und Ausbau von EG und KSZE in den letzten dreißig Jahren zunehmend herausgebildet hatte. Nur so ist über­haupt zu erklären, daß nicht zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt des Kon­fliktes die Option UNO ins Spiel ge­bracht wurde.

Die EG war allerdings denkbar schlecht auf den Konflikt vorbereitet. Das gilt auch für die USA. Denn Regierungen und Oppositionsparteien in den westli­chen Staaten, Politikwissenschaft und kritische Intelligenz hatten sich gegen­über der innenpolitischen Situation und Entwicklung Jugoslawiens über viele Jahre ignorant verhalten. Solange Jugo­slawien mit seiner von Moskau unab­hängigen Außenpolitik eine dem We­sten genehme und kalkulierbare Rolle spielte, schien aus westlicher Sicht alles in Ordnung. Zur "Belohnung" für diese Rolle wurde Belgrad unter anderem mit massiven Waffenlieferungen bedacht. Waffen, die im jüngsten Balkankrieg zum Einsatz kamen. Diese Haltung än­derte sich auch nicht nach dem Tode Titos und der 1981 beginnenden militä­risch-polizeilichen Unterdrückung der Albaner in der autonomen Provinz Ko­sovo.

Inzwischen ist der Mythos von der Son­derrolle Europas gründlich zerstört. Schon im Sommer 1991 sprach einiges gegen die Realitätstüchtigkeit dieses Mythos: zwei der vier größten und ge­wichtigsten EG-Staaten - Frankreich und insbesondere Deutschland - waren zumeist auf entgegengesetzter Seite zu­tiefst verstrickt in die Kriege und Kon­flikte, die sich auf dem Territorium des bisherigen Jugoslawiens im 19. und 20. Jahrhundert bis 1945 abspielten, die an­deren beiden - Großbritannien und Ita­lien - waren zumindest am Rande betei­ligt. Die Hoffnung, dies sei lange vorbei und von den BewohnerInnen Ex-Jugo­slawiens vergessen und vergeben, er­wies sich als Illusion. Zumal Frankreich und Deutschland durch ihr Verhalten auch in dem aktuellen Konflikt Anlässe boten für den Verdacht, sie spielten nach wie vor die serbische beziehungs­weise die kroatische Karte.

 

Die Rolle der EG im Jugoslawienkon­flikt, vor allem die von vielen Seiten (UN-Generalsekretär, USA, anderen EG-Mitgliedern und selbst dem seiner­zeitigen EG-Vermittler Lord Carring­ton) als falsch und verhängnisvoll kriti­sierte Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien und Kroatien ist ohne die Politik Deutschlands und seines damali­gen Außenministers Hans-Dietrich Gen­scher nicht erklärbar. Um die Beweg­gründe für die Politik Deutschlands gibt es immer noch vorwiegend Behauptun­gen und Spekulationen.

Eine dieser Spekulationen lautet, die wiedervereinigte Bundesrepublik habe mit der forcierten Anerkennung die Zer­stückelung Jugoslawiens betreiben wollen, um so ihren politischen, wirt­schaftlichen und strategischen Einfluss in Südosteuropa zu vergrößern. Dies behauptet nicht nur die serbische Propa­ganda ("Viertes Reich"), sondern auch mancher Linker in der Bundesrepublik. Für die Stichhaltigkeit dieser These wurden bislang wenige Belege auf den Tisch gelegt. Das von einigen ange­führte Interesse etwa der deutschen Atomwirtschaft an der Betreibung eines AKWs reicht wohl kaum aus. Es spre­chen im Gegenteil einige Indizien dafür, daß die Zerstückelung Jugoslawiens und die dadurch verschärften Spannungen in der Balkanregion dem Interesse zumin­dest der deutschen Außenwirtschaft zu­widerlaufen. So führte etwa der auf Ser­bien gemünzte und vor allem auf Bon­ner Drängen gefasste Sanktionsbeschluss der EG-Außenminister Anfang Dezem­ber 1991 zu zahlreichen Protesten deut­scher Exportunternehmen bei der Bun­desregierung. Denn in Reaktion auf den Sanktionsbeschluss sperrte die Regie­rung in Belgrad wichtige Transitwege für Exporte in die Türkei und andere Staaten Südosteuropas.

Es gibt viele Hinweise darauf, daß dem Bonner Handelns statt eines strategi­schen Masterplanes eher ein Gestrüpp aus Motiven, Einflüssen und Defiziten von zum Teil sehr banaler Natur zu Grunde lag. Unter die Defizite fällt die bereits für alle westlichen Staaten kon­statierte jahrelange Ignoranz gegenüber der innenpolitischen Situation Jugosla­wiens. Zur spezifischen Ignoranz seitens der BRD gehört, daß die jüngste ge­meinsame Vergangenheit der beiden Staaten, die Verbrechen Hitlerdeutsch­lands und die Kooperation zwischen deutschen und kroatischen Faschisten beim Genozid an den Serben bis dato kein Thema waren. Diesbezüglich war (und ist) Jugoslawien - ähnlich wie Ru­mänien und Bulgarien - ein weißer Fleck auf der Landkarte der Mitte der 60er Jahre begonnenen deutschen Ost­politik.

Die Krise Hans-Dietrich Genschers

Zu diesem Defizit kam die Krise von Genscher. Siebzehn Jahre lang hatte der - nach Gromykos Abtritt - dienstälteste Außenminister der Welt seine Ver­dienste vor allem in der Ostpolitik ge­sammelt. Die Veränderung der welt-und europapolitischen Rahmenbedingungen und der Wegfall liebgewordener Akti­onsfelder führte zu einer "erheblichen Desorientierung" und zur "hektischen Suche nach neuen Betätigungs-und Ein­flussmöglichkeiten", wie Bonner Politi­ker im Sommer/Herbst '91 seine dama­lige Verfassung beschrieben.

Zunächst bewegte der Bundesaußenmi­nister sich durchaus noch in gewohnten Bahnen. "Erhaltung der jugoslawischen Föderation" lautete noch bis nach Be­ginn der bewaffneten Auseinanderset­zungen im Juli 91 die Linie, die er sowohl innerhalb der Bonner Koalition (gegen die CSU) wie der EG verfocht. Für seinen Umschwung hin zu einer Politik der forcierten Anerkennung Sloweniens und dann Kroatiens gab es eine Reihe von Einflussfaktoren: Da war zunächst Genschers "Gefühl" oder auch "Überzeugung", gerade die Deutschen, die gerade ihre Vereinigung und "volle Souveränität" erlangt hatten, dürften an­dere in ihrem Souveränitätsstreben "nicht alleine lassen". Dazu kam Anfang Juli 91 eine regelrechte Kampagne, die die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter Federführung ihres Redakteurs J.G.Reißmüller gegen die Serben und für die umgehende Anerkennung Slo­weniens und Kroatiens durch Deutsch­land führte. Die Serben wurden aus­nahmslos verteufelt, die Kroaten und ihr Präsident Tudjman als völlig unschul­dige, unterstützenswerte Demokraten bezeichnet.

Unter dem Eindruck der FAZ-Kampa­gne revidierten wichtige CDU-Politiker ihre Haltung. Den Ausschlag gab aber schließlich die Position einiger führen­der Außen-und Sicherheitspolitiker der SPD, bei denen Voigt und Gansel die Befürwortung der Anerkennung durch­setzten. Offiziell besiegelt wurde dieser ganze innenpolitische Meinungsbil­dungsprozeß mit der Resolution des Deutschen Bundestags vom 14. Novem­ber 91, in dem die Bundesregierung of­fiziell zur Anerkennung Kroatiens und Sloweniens aufgefordert wird. Dieser Resolution stimmten neben den Koalitionsfraktio­nen auch die große Mehrheit der Abge­ordneten von SPD und Bündnis 90/Grüne zu.

Von der einmal festgeklopften neuen Linie ließ sich Genscher auch durch die besten Sachargu­mente nicht mehr ab­bringen. Auf einem Treffen des Bun­desaußenministers mit den deut­schen Auslandsbotschaftern im Herbst 1991 rieten diese ihrem obersten Dienstherrn fast einhellig von einer vorschnellen Anerken­nung Kroatiens ab. Und auch die Bedenken verschiedener EG-Part­ner gegen die neue Bonner Haltung be­stärkten Genscher eher noch, an ihr festzuhalten. Es war ein Fehler der an­deren EG-Staaten, daß sie sich trotz al­ler gewichtiger Beden­ken letzten Endes die Bonner An­erkennungslinie aufzwin­gen lie­ßen. Natürlich läßt sich heute nachträglich nicht beweisen, daß eine andere Strategie der EG er­folgreicher gewesen wäre - zumin­dest in dem Sinne erfolgreicher, daß der Krieg, Vertrei­bung und die anderen brutalen Men­schenrechtsverletzungen in diesem Ausmaß verhindert worden wären.

Anerkennungs-Farce

Mit der Anerkennung Kroatiens hielt sich die EG nicht an die von ihr selbst zuvor aufgestellte Bedin­gung einer Ein­haltung und Garan­tie der Menschen-und Minderhei­tenrechte (Badinter-Gutach­ten). Vollends zur unglaubwürdigen Farce geriet die Politik der Zwölferge­meinschaft, als sie mit Rücksicht auf griechische Bedenken Mazedonien, ge­gen dessen Menschen­rechtspolitik die Badinter-Kommission im Unterschied zu der Kroatiens keinen Einspruch er­hoben hatte, die Anerken­nung verwei­gerte. Die größte Inkonse­quenz liegt al­lerdings darin, daß die EG bis heute nicht willens und in der Lage ist, das von ihr bereits Anfang Dezem­ber 91 verhängte und im Mai 92 von der UNO übernommende Embargo wenig­stens unter den eigenen Mitgliedern durch­zusetzen. Nach wie vor werden strategi­sche Güter wie Öl aus Grie­chenland an die Serben geliefert. Aber auch Firmen aus der BRD und anderen EG-Staaten brechen das Embargo.

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