Palästina: Repression der Herrschenden alleiPalästina: Repression der Herrschenden allein kann islamistische Gewalt nicht stoppen n kann islamistische Gewalt nicht stoppen

Der blutige Terror entspringt nicht nur ideologischen Dogmen

von Ludwig Watzal

Der Islam ist ins Gerede gekommen, insbesondere seit den Anschlägen vom 11. September in New York City und Washington. Seither scheint es, als wolle der Westen unter Führung der USA einen Krieg gegen den politischen Islam führen. Vorerst freilich richtet sich dieser "Krieg gegen den Terror" nur gegen die Drahtzieher der Anschläge, die Afghanistan als ihre Basis missbrauchten. Nun, da das Taliban-Regime zerschlagen ist, könnten sich die US-Truppen zurückziehen. Ihr Auftrag ist beendet. Die amerikanischen Kriegspläne reichen jedoch weiter; sie zielen auf den Nahen Osten. Länder wie Irak, Iran, Somalia und der Jemen gelten als potenzielle Angriffsziele. Darüber hinaus hat die US-Administration eine "Terrorliste" veröffentlicht, auf der sich unter anderem Organisationen wie die libanesische Hizbollah und die palästinensische Hamas, der Islamische Dschihad und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) befinden. Glaubt man der Washingtoner Rhetorik, wird sich der "Krieg gegen den Terror" über Jahre hinziehen. Das schürt Ängste und Zweifel. Ängste vor neuen Kriegen und Zweifel daran, ob mit diesen Ländern und Organisationen die wirklichen Ursachen des Terrors ins Fadenkreuz geraten.

Der politische Islam oder Islamismus hat in jedem Land seine eigenen politisch-ökonomischen Ursachen. So sind die Ausprägungen des Islamismus in Algerien, in Iran, Afghanistan, Saudi-Arabien, Pakistan, Ägypten oder in Palästina unterschiedlich. Diese Unterschiede spielen jedoch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung keine wesentliche Rolle. Alle Spielarten des Islamismus stehen unter generellem Terrorismusverdacht. So haben die USA die libanesische Regierung angewiesen, gegen die Hizbollah vorzugehen, ihre Konten zu sperren und die Organisation zu verbieten. Beirut hat dies verständlicherweise abgelehnt und auf die tiefe Verwurzelung der Hizbollah in der Bevölkerung verweisen. Die Hizbollah wird im Libanon eher als eine soziale Bewegung denn als eine "Terrororganisation" wahrgenommen. Im westlichen Bewusstsein jedoch hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die primär israelischer Lesart folgt. Eine Lesart, die ihrerseits aus der jahrelangen Besetzung von Teilen Libanons durch die israelische Armee resultiert. Der Westen wäre in seinem antiterroristischen Kampf schlecht beraten, sich diese Sichtweise unkritisch zu eigen zu machen. Die Hizbollah hat in all ihren Verlautbarungen ihren Aktionsradius immer auf den Libanon beschränkt gesehen. Sie wollte die israelischen Besatzer aus dem Lande vertreiben, was bis auf einen kleinen Landstrich auch gelungen ist.

Reale Bedrohung
Ebenso einseitig wie die Hizbollah werden auch Hamas und der Islamische Dschihad nur auf den "Terror" reduziert. Es ist richtig, dass beide Organisationen zu Mitteln terroristischer Gewalt greifen. Aber eine Festlegung nur auf Terrorismus trifft die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität nicht. Wenn Arafat von den USA und Israel immer wieder massiv unter Druck gesetzt wird, gegen beide Organisationen vorzugehen und sie zu zerschlagen, dann scheint das aus israelischer Sicht durchaus verständlich. Die Bedrohung ist schließlich real und für viele unschuldige Israelis tödlich. Arafat jedoch kann und will sich diesem Druck nicht uneingeschränkt beugen, weil ihm dies den Vorwurf der Kollaboration mit dem Feind eintragen würde.

Im Allgemeinen wird Hamas mit islamischem Fundamentalismus und den mörderischen Selbstmordattentaten assoziiert. Oberste Ziel ist die Befreiung Palästinas durch einen heiligen Krieg gegen Israel und dessen Ersetzung durch einen islamischen Staat. Hamas will die Gesellschaft im Geiste des Islam reformieren. Diese islamische Vision in Verbindung mit dem nationalistischen Anspruch und der Militanz gegenüber Israel prägt das Bild von Hamas als einer ideologisch intransigenten und politisch rigiden Bewegung. In der Tat verfolgt die Organisation ihr Ziele absolut und kompromisslos. Ihre Markenzeichen sind islamisches und nationalistisches Eiferertum, radikale Opposition gegen den israelisch-palästinensischen Friedensprozess und die diversen Terrorstrategien und Gewaltaktionen gegen Israel. Hamas verbindet Religion mit Nationalismus und erhebt damit einen Anspruch auf die vollständige Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft und eines künftigen Staates Palästina.

Hamas jedoch ist ein Produkt der ersten Intifada, des palästinensischen Aufstandes vom Dezember 1987. Die Organisation hat ihre Wurzeln in der Muslimbruderschaft und wurde anfangs als Gegenmacht zu PLO von Israel wohlwollend unterstützt. Bis man schließlich erkennen musste, dass dies der vergebliche Versuch war, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Bei näherer Betrachtung der Ursprünge und des Verhaltens von Hamas seit seiner Gründung ergibt sich aber ein überaus differenziertes Bild. Primär entfaltet Hamas seine Aktivitäten nicht auf dem politischen, sondern auf dem sozialen Sektor. Die Organisation stellt den von der israelischen Besatzung am härtesten Betroffenen Sozialleistungen kostenlos zur Verfügung. Die Gelder dafür stammen zum Teil aus ausländischen Spenden.

Als religiöse Bewegung ist Hamas tief in der palästinensischen Gesellschaft verwurzelt. Folglich besitzt sie ein Sensorium für die Ängste der Menschen, teilt ihre Sorgen, formuliert ihre Hoffnungen und richtet ihre Aktivitäten nach ihren Bedürfnissen und Schwierigkeiten aus. Obwohl die einfachen Menschen ihre Machtbasis bilden, ist es Hamas gelungen, Klassenstrukturen und soziale Unterschiede zu überwinden und in allen Schichten Fuß zu fassen. In seiner sozialen und politischen Opposition gegenüber der PLO kann sich Hamas auch auf die Unterstützung einiger palästinensischer Christen stützen. Hamas unterhält eine große Anzahl von Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Jugend- und Sportclubs sowie Erwachsenenbildungseinrichtungen. Die Organisation bietet medizinische Dienste an, unterhält Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen für Bedürftige.

Anpassungsfähig
Hamas ist aber auch ein Gefangener seiner eigenen Dogmen und Kompromisslosigkeit gegenüber Israel. Der größte Teil seiner Aktionen kann aus den Spannungen zwischen seinem dogmatisch-ideologischen Anspruch und seinem pragmatischen Ansatz in Bezug auf das politische und institutionelle Überleben gesehen werden. Trotz dieser Widersprüche verfolgt die Organisation einen pragmatischen Kurs. Anpassung an die Gegebenheiten wurde zum zentralen Merkmal für das politische Verhalten von Hamas. Die Führung ist sich bewusst, dass eine ausschließlich islamische Vision für Palästina zu einer totalen Konfrontation nicht nur mit Israel, sondern auch mit Arafats Autonomiebehörde, der PLO und lokalen Notablen führen würde. Obwohl Hamas den Kampf gegen Israel zu einer religiösen Pflicht erklärt hat, lässt es seine sozialpolitischen Interessen nicht außer acht. Die Organisation hat sich ihren politischen Realismus bewahrt. Sie hat zwar den Friedensprozess von Anfang an abgelehnt, aber auch eine totale Konfrontation mit Arafats Behörde vermieden. Ebenso hat sie Israel das Existenzrecht verweigert, gleichzeitig aber die Bereitschaft zu einer Tolerierung und einer zeitlichen Koexistenz erklärt. Diesen gleichen Pragmatismus legte man an den Tag, indem man den Oslo-Prozess ablehnte, gleichzeitig aber die Mitglieder aufforderte, sich als Individuen am Aufbau eines palästinensischen Staates zu beteiligen.

Wie kompliziert das Innenleben von Hamas abseits des reinen Terrorvorwurfs ist, zeigt das Verhältnis zwischen der Führung in den besetzten Gebieten und der Führung im Exil. Zwischen beiden herrschen in Bezug auf die Strategie erhebliche Differenzen. Wollte die Führung im Ausland eine "Revolution von oben", so plädierte die lokale Führung eher für eine Strategie, die sich an den örtlichen Bedürfnissen und Reformen orientierte. Die auswärtigen Führungskader fürchteten, von den internen marginalisiert zu werden. Durch eine Strategie der Eskalation erlangt die auswärtige Führung im Augenblick wieder die Oberhand. Sowohl Israel als auch die Autonomiebehörde versuchen durch militärischen Druck und Repressionsmaßnahmen, den Einfluss von außen zu unterbinden und mit den pragmatischeren Vertretern in den besetzten Gebieten zu kooperieren.

Hamas hat schon mehrfach "Waffenstillstandsabkommen" angeboten - wenn Israel sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht und Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines Staates "Palästina" akzeptiert. Doch diese Angebote waren immer nur temporär gemeint. Es ging um taktischen Waffenstillstand, nicht mehr. Auf der anderen Seite: Hat Israel bis in die 90er Jahre nicht auch die PLO ausschließlich als "Terrororganisation" betrachtet, mit der es keine Verhandlungen geben dürfe? Das einseitige "Terrorimage", das Israel der Hamas immer noch aufdrücken will, war bereits bei der Gründung der Organisation nicht überzeugend. Und so schwierig dies unter dem Eindruck furchtbarer Selbstmordattentate auch ist: Der Terror palästinensischer Islamisten entspringt nicht nur ideologischen Dogmen. Er resultiert auch aus einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt in einem Konflikt, bei dem die Kräfte höchst ungleich verteilt sind. Mit Repression allein lässt sich dieser Teufelskreis nicht durchbrechen. Im Gegenteil: Die Stigmatisierung als Terrororganisation be- und verhindert tatsächlich vorhandene Differenzierungsprozesse. Sie erschwert den Übergang von einer heute bestenfalls taktisch motivierten hin zu einer strategischen Akzeptanz des israelischen Existenzrechts durch solche Gruppierungen wie Hamas oder Hisbollah. Das Klischee wird zur self fulfilling prophecy. Auf diese Erkenntnis sollten nicht zuletzt die Europäer gegenüber den USA und Israel drängen. Zurück zur Übersicht

aus: Das Parlament, Nr. 03 - 04 / 18./25. Januar 2002

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