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Auszug aus dem Friedensgutachten 1999
Der Bruch der NATO mit sich selbst

Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung und an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts vollzieht die Nato den Bruch mit sich selbst. Während der längsten Zeit ihres Bestehens hatte sie eine klare Funktion. Sie war der tragende Pfeiler in der Machtbalance zweier sich gegenseitig in Schach haltender Weltsysteme. Die Ära des wechselseitigen Drohens, des maßlosen Rüstens, des Spiels mit dem Untergang schuf keinen Frieden. Aber sie kann sich als Minimalerfolg zugute halten, ohne Krieg geendet zu haben. Sicherheit im Sinne von Kriegsverhütung ist das Verdienst der Nato. Davon hat sie sich losgesagt. Sie verhütet den Krieg nicht mehr, sie führt ihn.
Geschaffen in Reaktion auf die Unterwerfung Osteuropas unter sowjetische Herrschaft und zur Bewahrung Westeuropas vor einem ähnlichen Schicksal, stellte das Verschwinden dieser Gefahr die Nato vor die Wahl, entweder ebenfalls zu verschwinden oder sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen. Den Ausgang der Suche fasst das Strategiedokument in Worte. Noch ehe es veröffentlicht war, beleuchtete der neuerliche Balkankrieg die aufgeworfenen Probleme:
1. Am Anfang der westlichen Interventionsplanung zu
Kosovo standen zwei unumstößliche politische
Überzeugungen: dass der vierjährige Krieg nach
dem Zerfall Jugoslawiens durch frühzeitigen
Waffeneinsatz von außen hätte verkürzt werden
können, und dass es Nato-Bomben gewesen seien, die
das Blutvergießen in Bosnien schließlich beendet
haben. Beide Überzeugungen beruhen auf
fehlerhafter Analyse, es sind Trugschlüsse - der
erste mit großer Wahrscheinlichkeit, der zweite
mit Gewissheit. Die Absicht, es in Kosovo gar
nicht erst so weit kommen zu, lassen, war löblich,
die Mittelwahl untauglich. Wer nur Gewalttäter
bestraft, schafft die Gewaltursachen nicht aus der
Welt. Wer nur die Drohspirale betätigt, provoziert
das Desaster.
2. Um einen komplexen ethnonationalen Konflikt hoher
Gewaltvirulenz erfolgreich eindämmen zu können,
bedarf es der ganzen Bandbreite erfolgsfähiger
Instrumente: der politischen Krisenprävention, der
zivilen Streitbeilegung, der Schlichtung und
Vermittlung sowie als ultima ratio auch der
Unterbindung bereits ausgebrochener Gewalt
durch Gegengewalt. Zweifellos verfügt Europa,
verfügt der Westen über sämtliche dieser
Instrumente und zusätzlich über ein breites
Reservoir an positiven wie negativen ökonomischen
Sanktionsmitteln. Die Nato dagegen hat nur ein
einziges Mittel, dieses jedoch im Übermaß:
militärische Macht. Sie ist ein Bündnis, sie denkt
und sie handelt wie ein Bündnis nach den Maximen
der höchstwirksamen Bekämpfung eines Gegners. In
politischer Konfliktmoderation mit Augenmaß und
Stehvermögen hat sie weder Kompetenz noch
Erfahrung. Als oberste Instanz der
Krisenbewältigung in Europa ist sie eine
Fehlbesetzung.
3. Die Nato ersetzt die Verpflichtung auf das Recht
durch die Leitkategorie des Interesses. Das
internationale Recht ermächtigt aber weder
Staaten noch Staatenkoalitionen, ihre Interessen
nach eigenem Gutdünken wahrzunehmen. Es stellt
ihnen nicht ein beliebiges Vorgehen anheim. Es
deckt nicht die unbeschränkte Mittelwahl. Es
billigt vor allem nicht den Griff zu den Waffen
nach freiem Ermessen. Wie kann ein Bündnis
politische Akteure zum Verzicht auf Gewalt und zur
Befolgung für alle geltender Regeln anhalten, wenn
es sich selbst davon freistellt? Das Völkerrecht
markiert den erreichten Grad an Zivilität im
internationalen System. Es ist kein weniger
kostbares Gut als innerhalb demokratischer
Gesellschaften der Rechtsstaat. Wo es Lücken
aufweist, muss es verbessert werden. Die
Abschaffung wäre die schlechteste Alternative.
4. Je mehr die Nato in den Vordergrund tritt, desto
stärker geraten die übrigen Institutionen in ihren
Schatten. So hat die zivile Beobachtermission der
OSZE in Kosovo während der gesamten Einsatzdauer
ihre vorgesehene Mannschaftsstärke nicht
erreichen können. Personal und Logistik in
Abrufbereitschaft standen nicht zur Verfügung. Die
1997 noch 16 Mitgliedstaaten der Nato investierten
in die Aufgaben, die sie als Bündnispartner
gemeinsam wahrnehmen, 440 Milliarden Dollar. Im
gleichen Jahr betrug der von 54 Teilnehmerstaaten
bestrittene Haushalt der OSZE 54 Millionen Dollar.
Auf einen Dollar für die gesamteuropäische
Sicherheitsorganisation kamen folglich 8000 Dollar
für Streitkräfte und Rüstungen, zuzüglich der
Verteidigungsetats der übrigen 38 OSZE-Staaten.
Das Zahlenverhältnis spiegelt die politische
Prioritätensetzung und erklärt zu Teilen die
Ineffizienz europäischer Sicherheitspolitik.
5. Hauptverlierer des gesteigerten Geltungsanspruchs
der Nato ist die Russische Föderation. Die
Nato-Russland-Grundlagenakte, die den gemeinsamen
Sicherheits- und Stabilitätsraum Europa ohne
Trennlinien und Einflusssphären beschwört und den
Gewaltverzicht gegen jedweden Staat, seine
Souveränität, territoriale Unversehrheit und
politische Unabhängigkeit bekräftigt, hat sich als
das sicherheitspolitische Dokument mit dem
kürzesten Verfallsdatum erwiesen. Russland, wird
nicht mehr benötigt, so das häufig zu hörende
Argument, es sei denn, die politikbestimmenden
Nato-Mächte beschließen, als Balkan-Kontaktgruppe
zu tagen. Widerstandsunfähigkeit zwingt zur
Fügsamkeit: Wer die Hand aufhalten muss, kann
nicht die Faust ballen. Aber nahezu alle
Konfliktherde Europas mit einem kosovo-ähnlichen
Krisenpotential liegen entlang der russischen
Grenzen. Dort könnte Moskau im Spannungsfall
Verfahrensweisen adaptieren, die das westliche
Bündnis auf dem Balkan eingeführt hat.
Das gesamte Gutachten mit den Schwerpunkten Balkankrieg und Asienkrise ist im Lit-Verlag Münster für DM 24,80 erhältlich. ISBN 3-8258-4249-5