Syrien

Der Krieg in Syrien – Jenseits der Debatte um Chemiewaffen

von Karl Grobe

Unser Syrien-Bild ist verzerrt und einseitig. Es war konzentriert im Spiegel-Titelbild vom Oktober 2013 mit der suggestiv über das Kopfbild des syrischen Präsidenten Baschir al-Assad gelegten Schlagzeile: „Wie leben Sie mit dieser Schuld, Herr Assad?“ Das war kein bloßer Kauf-Anreiz (Publikumsillustrierte und Massenmedien müssen Titel so gestalten, dass Kaufwünsche erzeugt werden, das versteht sich). Es war die Quintessenz der Berichterstattung aus den dreißig Monaten, die der Bürgerkrieg in Syrien in jener Woche dauerte.

„Gut“ und „böse“ waren längst zugeordnet, als die Nachrichten über Chemiewaffen – Giftgas-Granaten und Giftgas-Einsatz – bekannt wurden. Die Bilder der Opfer, Kinder darunter, zeigten das Unmenschliche. Die Fernseh-Nachrichten unterlegten sie tagelang jedem Bericht aus und über Syrien. Das suggerierte die Verantwortung Baschir al-Assads oder wenigstens „des Regimes“; das war psychologische Vorbereitung auf Krieg. Assads Sprecher hatten nie eindeutig erklärt, dass der Staat über Chemiewaffen verfügte, wohl aber, dass er sie höchstens zur Vergeltung einsetzen werde (ähnlich argumentierten israelische Regierungen in Verweis auf ihr nukleares Arsenal). Das Verbrechen war identifiziert – der Verbrecher aber eben nicht; denn eine Vermutung, und sei sie noch so begründet, ist kein Beweis. Dass überdies die Rebellen – oder eine ihrer Fraktionen – ebenfalls über C-Waffen verfügten, war zwar berichtet, aber rasch vergessen worden. Es lief auf die psychologische Vorbereitung eines „Waffengangs“ hinaus, eines nur wenige Tage dauernden Fern-Angriffs auf bestimmte Ziele in Syrien. Die US-Regierung vermied es zwar peinlich, einen C-Waffen-Einsatz des Regimes als bewiesen zu bezeichnen, und ging nie weiter als zu verkünden, sie habe keinen Zweifel mehr daran, dass die syrische Armee Präsident Obamas „rote Linie“ überschritten habe. Annahmen, dass den Giftgasangriff Rebellengruppen oder vom Regime abgefallene (oder übereifrige) Offiziere zu verantworten hätten, wurden nicht weiter untersucht. Und das Argument, dass Assads Regierung angesichts jüngster militärischer Erfolge gerade keinen vernünftigen Grund gehabt hätte, Giftgasgranaten zu verschießen, beachteten die meisten Medien kaum. Auch die sich ausweitende internationale Ablehnung eines Krieges – auch eines Alleingangs der USA – nahmen nicht alle zur Kenntnis.

Die Zustimmung der UN hätte es, anders als im Fall des „Flugverbots“ über Libyen, sicher nicht gegeben. Und Russlands Präsident Putin hatte ohnehin vor unkalkulierbaren Folgen einer US-Intervention warnen lassen. Unter den mittleren Mächte trommelte nur Großbritannien für den Krieg – genauer: die konservative Regierung Cameron, gegen den bekundeten Willen der Mehrheit aller Briten. Aber anders als manche Presseorgane und Sender es zu wissen glaubten, war US-Präsident Barack Obama nicht zum Militäreinsatz bereit.

So konnten sich die beiden Großmächte auf einen „Plan A“ einigen. Er bestand darin, dass USA und Russland sowie deren Verbündete und vor allem auch Syrien der baldigen Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zustimmten, und er war das Ergebnis eines mehr oder weniger heimlichen Zusammenspiels, das länger angebahnt war. John Kerry, der US-Außenminister, versprach sich kalkuliert. Russlands Regierung griff das Thema sofort auf und Syriens Präsident Baschir al-Assad stimmte prompt zu. Alles war offenbar gründlich vorbereitet, und zwar in St. Petersburg beim Gipfeltreffen – außerhalb des großen Konferenzraums, gewissermaßen wie im orthodoxen Gottesdienst: hinter der Ikonostase, für die Gemeinde unsichtbar. Und die internationalen Beschlüsse folgten rasch. Syrien akzeptierte die internationale Untersuchung des Gasangriffs und trat umgehend der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bei. Damit war die Gefahr, aus einem „begrenzten Militärschlag“ könnte sich eine weltweite Krise entwickeln, erst einmal behoben.

Iran schwächen
Allerdings gibt es einen „Plan B“, falls die Einigung auf Nichtkrieg nicht wirkt. Kerry hat ihn deutlich gemacht, ehe noch ernsthaft mit Plan A begonnen wurde. Die Verfechter dieses Plans wollen die Regierung des Baschir Assad weghaben, um fast jeden Preis. Näheres ist in den Veröffentlichungen des „Project for a New American Century“ (PNAC), einst der Ideenfabrik des George W. Bush und seiner Administration, nachzulesen. Das strategische Ziel ist es, „Iran zu schwächen“: Fällt nämlich Syrien (genauer: fällt Syrien ihnen in die Hände), dann wankt Iran, so dass es auf jene Rolle reduziert wird, die britische und amerikanische „Dienste“ ihm vor 60 Jahren schon einmal aufgezwungen haben – 1953 mittels der Einmischung der CIA, um den gewählten persischen Präsidenten Mossadek zu stürzen, den Schah wieder einzusetzen und zum unbedingt gefolgschaftstreuen Anhänger der USA zu machen – und den westlichen Erdöltrusts die Verfügungsgewalt über Irans wichtigsten Energierohstoff zu sichern.

Iran ist eins der wichtigsten Elemente des syrischen Konflikts. Damaskus wird als einziger Verbündeter Irans in der Region angesehen, steht in dieser Sichtweise also einer Ausweitung der westlichen – also amerikanischen – Kontrolle über den Nahen Osten entgegen. Aus eben diesem Grunde erklärt sich das russische Interesse am Fortbestand der Herrschaft Baschir al-Assads und der von seinem Clan beherrschten Baath-Gruppe inklusive Militär. Das Interesse am Mittelmeer-Kriegshafen in Tartus ist dagegen durchaus zweitrangig. Anders als viele konservative Vertreter des militär-industriell-politischen Establishments in den USA denken die meisten ihrer russischen Konkurrenten nicht vorwiegend in den geopolitischen Kategorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, dynamischen Kategorien.

Spiel der Großmächte
Der amerikanisch-russische Gegensatz ist die weltpolitisch oberste, aber auch am wenigsten sichtbare Konfliktebene. Unübersehbar spielt nun auch China das „neue große Spiel“ mit, energisch aber friedlich mit den USA konkurrierend und Russland eher als (kleineren) Verbündeten auf Zeit denn als strategischen Partner einschätzend. Er setzt das – geopolitsch definierte – „große Spiel“ des 19. Jahrhunderts fort, den Konkurrenzkampf der imperialistischen Mächte, damals vor allem Englands und Russlands, um die Herrschaft über Asien. Die modernen Zutaten sind ökonomisch: Herrschaft über Energierohstoffe und militärisch: Herrschaft mittels der Drohung durch Nuklearwaffen, zugleich Aufrechterhaltung des Oligopols der Nuklearstaaten. Im Nahen Osten verfügen zwei Mächte über Nuklearwaffen, Israel und die USA (auf ihren Flotten im Mittelmeer und im Indischen Ozean). Massenvernichtungswaffen anderer Art, C-Waffen, besaß (besitzt?) Syrien. In ähnlich realistischer und zynischer Argumentation verwiesen (verweisen) beide Regimes auf das darin enthaltene Abschreckungspotential hin, Nachklang der mutually-assured-destruction-Thesen des Kalten Krieges. Der erzwungene Verzicht des syrischen Regimes auf C-Waffen, wie er gerade praktiziert wird, verändert das militärische Kräfteverhältnis in der Region.

Der Bürgerkrieg in Syrien
Einem Ende des Bürgerkriegs ist das Land damit keineswegs näher. Der ist ja nicht wegen dieser Massentötungsgeräte ausgebrochen, sondern hat sich aus einem lokalen Zusammenstoß zwischen Bürgern und der Staatsgewalt entwickelt. Im Frühjahr 2011 ging die Staatsgewalt unverhältnismäßig hart gegen Kinder und Jugendliche vor, die Parolen aus dem „arabischen Frühling“ (wohl vor allem Ägyptens) auf Wände geschrieben hatten. Der behördliche Willkürakt gegen die Schüler zündete eine Volksbewegung. Aber anders als in Ägypten oder Tunesien war sie weder einheitlich noch umfassend.

Noch Anfang 2013 stand die Mehrheit der Bevölkerung eher hinter dem jüngeren Assad, der als Erbe seines Vaters 2000 immerhin einige Reformen versprochen und begonnen hatte, als hinter einer der anderen Konfliktparteien. Und die verschiedenen im Untergrund weiter bestehenden traditionellen Oppositions- und Widerstandsbewegungen waren voneinander isoliert und gelegentlich bitter verfeindet. Das Regime stützte sich dabei nicht allein auf die allgegenwärtige Baath-Parteiorganisation, das Militär und die Sicherheitsdienste. Es konnte sich auf einen in den meisten großen Städten entstandenen – oft mit reicher Tradition verbundenen – Mittelstand der Händler und des Basars sowie der Intellektuellen stützen, denen die säkulare Ausrichtung des Staates ein gewisses Maß an Gedanken- und Ausdrucksfreiheit ließ.

Unter den traditionellen Oppositionsparteien und Strömungen ist die Ichwan, die Muslimbrüderschaft, am bekanntesten. Auf Mitgliedschaft stand seit 1981 (Gesetz Nr. 49) die Todesstrafe. In Hama hatte die Regierung unter Hafes al-Assad im April 1982 ein fürchterliches Blutbad unter den Ichwan angerichtet; es soll an die 100.000 Todesopfer gegeben haben. Danach bestand zwar ein auf bestimmte Moscheen gestütztes streng konspiratives Ichwan-Netz weiter; doch die Umstände der Konspiration und der Verfolgung verhinderten, dass es auch nur annähernd die Bedeutung der immerhin halb geduldeten Bruderschaft wie in Ägypten gewann. Und die wiederum auf die Umstände zurückzuführende Radikalisierung und Dogmatisierung bremste eine geistige Beeinflussung der religiös toleranten und vielfältigen Bevölkerungsmehrheit aus.

Die in der ein halbes Jahrhundert zurückliegenden demokratischen Periode entstandenen säkularen Oppositionsparteien hatten inzwischen ihren Einfluss eingebüßt. Die Nationale Demokratische Sammlungsbewegung (darin unter anderem die Demokratische Volkspartei, die Revolutionäre Arbeiterpartei, die Demokratisch-Sozialistische Baath) und andere Kräfte waren ins Exil getrieben, untereinander zersplittert und im Lande selbst fast ohne Kontakte. Die Regierung trieb mit der Zulassung der Volksfront für Wandel und Freiheit (seit April 2012 im Damaszener Parlament vertreten) einen weiteren Keil in die säkulare Opposition.

Der Syrische Nationalrat, der 2011 in Istanbul gegründet wurde und dem sich auch die Muslimbrüder angeschlossen haben, beansprucht die Rolle des Widerstands- und Rebellen-Sprechers. Er vertritt seit über einem Jahr Syrien in der Arabischen Liga (anstelle der Regierung), doch er ist weder eine politische Einheit noch hat er bisher Wurzeln im Volk, von einigen Regionen und Stadtbezirken abgesehen. Von den 140 Gründungsmitgliedern sollen 85 der „inneren“ und 55 der „äußeren“ Opposition angehört haben, doch nur 73 waren namentlich bekannt. Die verkündeten Ziele – Garantie der Grundrechte, Gleichheit aller Bürger, Unabhängigkeit der Justiz, Presse-, Organisations- und Religionsfreiheit – waren indes betont säkularen Gruppen nicht überzeugend genug; Koordinationsgruppen, Koalitionen und Komitees misstrauten von Anfang an der starken Präsenz islamistischer Kräfte. Doch auch deren Stärke beruht eher auf Zuwendungen durch interessierte Staaten und Konzerne als auf politischem Einfluss.

Inzwischen sind radikal-islamistische Akteure aufgetreten und haben in einigen Landesteilen faktisch die Macht übernommen. In Raqqah am mittleren Euphrat, einer wichtigen Agrarregion, herrscht die Nusra-Front, der 10.000 Militante zugerechnet werden; sie verficht die Idee eines weltweiten Kalifats und unterhält enge Verbindungen mit dem irakischen Ableger der Al Qaida. Im Sommer 2013 berichtete das Wall Street Journal (WSJ) erstmals, dass der Nusra-Front „Irak-Veteranen“ angehören, doch ist das WSJ bei allem seriösen Auftritt nicht über jeden Zweifel erhaben. – Andere jihadistische Vereinigungen vergleichbarer Größenordnung haben sich teils mit der Jabha an-Nusra zusammengetan, teils wieder von ihr distanziert. Daneben kämpfen die Free Syrian Army, deren Kern Deserteure aus der syrischen Armee bilden und die durchweg modern bewaffnet ist, und mit ihr kooperierende säkulare Gruppen für einen weltlichen Staat.

So haben sich aus den lokalen Aufständen und Demonstrationen in den verschiedenen Städten und Provinzen neue unvorhergesehene Fronten entwickelt. Sie sind oft aus örtlichen Gegebenheiten entstanden, in späteren Stadien mischten sich überörtliche Kräfte ein, schließlich ist Intervention aus dem Ausland zu erkennen; während auf der Seite des Regimes ein Wechselspiel von Lockerung und Einmischung etwa der im Libanon verankerten Hisbollah oder Irans und diplomatische Rückendeckung durch Russland und China bemerkbar wurde, beispielsweise in den UN.

Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Emirate
Den islamistisch orientierten Verbänden geben Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Emirate reichliche Unterstützung. Die Finanzierung der Militanten – nicht nur in Syrien – hat nicht nur altruistische (religiöse und andere ideologische) Motive. Die Rekrutierung besonders aktiver – fanatisierter – Jugendlicher sehen die arabischen Regimes nicht ungern: auf diese Weise werden sie ein Potential rebellischer und möglicherweise revolutionärer Bewegungen im eigenen Land los. Die Jihadisten sichern den Oligarchen der petrofeudalen arabischen Staaten Verbündete im angrenzenden Ausland. Die Ausbreitung der wahhabitischen Variante des Islam und noch weiter vereinfachter, umso dogmatischer Abarten der Lehre, die mit dem Geist der Verkündung durch Mohammed nicht mehr viel zu tun haben, bildet im übrigen kein Hindernis für die US-Regierung, ebenfalls als Geldgeber und – vertreten durch Geheimdienste und private Sicherheitsorganisationen – gelegentlich Mitkämpfer aufzutreten. Da kehrt das seit zwanzig Jahren bekannte Muster wieder, das nach 1979 die Afghanistan-Kriege prägte: Ko-Finanzierung religiöser Fanatiker (darunter der Taliban) durch USA und Saudi-Arabien.

Die bis vor zwei Jahren stabile, zwar undemokratische, aber die Existenz von 22 Millionen Syrern gewährleistende Staatsordnung ist durch den Bürgerkrieg mit seinen vielen sich überkreuzenden Fronten schwer angeschlagen. Das ist eine abstrakte Feststellung. Konkret sind den Kämpfen bisher über 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Rund zwei Millionen sind aus dem Land geflohen. Weit über vier Millionen sind oder waren in Syrien selbst auf der Flucht vor den kämpfenden Banden. Ein Drittel aller Syrer hat seine Existenzgrundlage verloren. Große Teile der einst prosperierenden Städte Aleppo, Hama, Homs und Vororte von Damaskus sind Kriegsgebiet und bleiben sicher auch dann noch länger unbewohnbar, wenn der Krieg einmal endet.

Syriens Regierung hat eine Friedenskonferenz eingefordert. Das haben auch die „Staaten der Weltgemeinschaft“ – die mit den USA Verbündeten – getan. Die syrische Regierung verlangt das Ende der Intervention. Die kämpfenden Regimegegner fordern den Ausschluss der Regimevertreter von einer solchen Konferenz. Aber eine wie auch immer geartete Einigung ohne das Assad-Regime (vielleicht aber ohne Baschir al-Assad) ist schon deshalb nicht realistisch zu erwarten, weil ein großer Teil der Bevölkerung weiter zu ihm steht, in erster Linie aus Furcht vor der Religionsdiktatur der Fanatiker. Nicht nur Christen, Drusen und Alawiten, zusammen ein Viertel der Bevölkerung, sondern auch die säkular Gestimmten und der tolerante Teil der sunnitischen Mehrheit haben Grund zur Sorge.

Die Situation scheint hoffnungslos. Eine militärische Intervention von außen würde sie noch verschlechtern.

 

Quellen
Interessante Analysen und Diskussionsbeiträge stehen auf der Internetseite Qantara ‹de.qantara.de›, die von der Deutschen Welle unterhalten wird. Immer beachtenswert sind die Interviews deutscher Medien mit Michael Lüders, zuletzt seine Analyse „Syrische Zeitenwende?“ in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 10/2013. Eine unabhängige Arbeit ist ausländischen Journalisten nicht möglich.

Die Nachrichtenagentur Sana ‹sana.sy/eng› verbreitet die Lesart der Assad-Regierung. Lesarten der Oppositionen gibt eine Kleingruppe in Großbritannien (Informationszentrum für Menschenrechte) heraus. Aus der Region sind die Beiträge von Middle East Online ‹www.middle-east-online.com/english/› oft erhellend. Die früher als bestinformiert angesehene Seite Syriacomment ‹www.joshualandis.com/blog/› hat durch Fehleinschätzungen an Glaubwürdigkeit eingebüßt, ist aber nach wie vor als Quelle wichtig.

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege
Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.