Indien, Israel, Iran

Der Westen misst Atomwaffen und das Streben danach mit unterschiedlichem Maß

von Otmar Steinbicker

Als am 19. April Indien eine atomwaffenfähige Langstreckenrakete testete, die eine Reichweite von 5000 Kilometern haben soll, war die Reaktion bei Regierungen und Medien im Westen sachlich-gelassen. Verschiedene Zeitungen wiesen darauf hin, dass dieser Schritt Indien in die Reihe der großen Atommächte führt, dass das gesamte Territorium Chinas und Pakistans im Radius der neuen Raketen liegt, ja dass sogar Europa erreicht werden kann. Auch auf die Gefahr, dass damit ein neues Wettrüsten in Asien ausgelöst werden kann, das zugleich bei bisherigen Nicht-Atommächten den Wunsch nach Atomwaffenbesitz auslösen kann, wurde verwiesen. Aber diese Hinweise kamen ohne jede Aufregung, ohne Ruf nach Sanktionen und ohne Forderung nach Aufstellung eines Raketenabwehrsystems gegen die Bedrohung durch indische Atomraketen.

Die Unterschiede zwischen Indien und dem Iran fallen ins Auge:

• Indien hat Atomwaffen, Iran wird vorgeworfen, nach Atomwaffen zu streben.

• Indien hat jetzt atomwaffenfähige Langstreckenraketen, Iran versucht noch, Raketen mit längerer Reichweite zu entwickeln.

• Indien gilt als Verbündeter, Iran als Gegner der USA

• Indien hat den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben, Iran ja

Die gelassene Reaktion des Westens auf den massiven Rüstungsschritt Indiens macht eine Lösung der Atomverhandlungen mit Iran bei den bevorstehenden Verhandlungen nicht einfacher. Zu Recht besteht nicht nur der Westen darauf, dass der Atomwaffensperrvertrag auch von Iran eingehalten wird. Doch auch Iran macht Rechte aus dem Atomwaffensperrvertrag geltend, nämlich sein Recht auf „friedliche“ Nutzung der Atomenergie.

Der Atomwaffensperrvertrag erlaubt die Nutzung und Weiterentwicklung der Atomenergie für „friedliche“ Zwecke. Dazu gehört auch die Urananreicherung, die im Fall Irans auf der gleichen Technologie wie im deutschen Gronau basiert. Die Urananreicherung kann aber auch zur Herstellung waffenfähigen Urans genutzt werden. Die Grenzen sind fließend. Wer Uran zu 20 Prozent anreichern kann, wie es für Atomreaktoren benötigt wird, der kann es auch irgendwann zu 80 Prozent anreichern, wie es für Atomwaffen benötigt wird. Zu kontrollieren, dass diese Grenzen nicht überschritten werden, ist Aufgabe der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA.

Wobei auch schon die „legale“ „friedliche“ Nutzung der Atomenergie Gefahren für eine militärische Nutzung birgt. Die Zentrifugentechnologie zur Urananreicherung spionierte der pakistanische Atomphysiker Dr. Abdul Qadeer Khan zwischen 1972 bis 1976 in der Urananreicherungsanlage im niederländischen Almelo aus, die vom gleichen Unternehmen Urenco betrieben wird, wie im deutschen Gronau. Über Pakistan gelang das Know-how auch in den Iran.

Iran steht nicht allerdings unbegründet im Verdacht, insgeheim an Atomwaffen zu arbeiten. Ob er es tut und wieweit eventuell die Arbeiten gediehen sind, darüber streiten die Experten. Der US-Geheimdienst CIA verneinte zuletzt, dass Iran schon bald über Atomwaffen verfügen könne.

Wie auch immer: Die Zeit drängt, eine diplomatische Lösung zu finden, bevor Iran Atomwaffen besitzt oder die USA oder Israel versuchen, das Problem militärisch anzugehen, was nicht zu einer Lösung, sondern nur zu einer unabsehbaren Katastrophe für die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens führen dürfte.

Leicht wird eine solche Lösung nicht sein! Da gibt es vielerlei Interessen zu berücksichtigen, vor allem aber Sicherheitsinteressen Irans und Israels. Iran sieht sich zunehmend von den USA bedroht und sucht möglicherweise sein Heil in klassischer atomarer Abschreckung als Überlebensgarantie. Wenn die eigenen Waffen nicht bis in die USA reichen, dann könnte Israel als Geisel dienen. Israel sieht sich im möglichen Schatten iranischer Atomraketen bedroht, möchte aber auf die eigenen vermutlich 200 Atomsprengköpfe, die auch Iran bedrohen können, nicht verzichten.

Es gibt Stimmen, die sagen: Wenn Israel nicht auf Atomwaffen verzichten will, dann soll auch Iran Atomwaffen haben dürfen. Da beide keinen Selbstmord begehen wollen, werden sie schon keinen Atomkrieg anzetteln. Schließlich hatten auch die USA und die UdSSR im Kalten Krieg davor zurückgeschreckt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Auch im Kalten Krieg haben wir mehrfach enormes Glück gehabt, dass es nicht zum Einsatz von Atomwaffen kam. Bei der Kubakrise 1962 entging die Welt nur knapp eines bewusst geplanten Einsatzes von Atomwaffen. Später war es eher die Gefahr einer Reaktion auf einen Fehlalarm. Sowohl in den USA wie in der UdSSR gab es mehrfach Situationen, in denen die Computer meldeten, die jeweils andere Seite habe Atomraketen gestartet und es dauerte reichlich Zeit, bis erkannt war, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Je kürzer die Reichweite, desto kürzer die Vorwarnzeit und die Zeit, die für die Überprüfung von Alarmen bleibt.

Wenn Israel und Iran sich eines Tages mit Atomwaffen gegenüberstehen sollten, wäre damit eine hochbrisante Situation geschaffen. Wer diese Gefahr bannen will, wird um die Abrüstung auch der israelischen Atomwaffen nicht umhin kommen.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de