Einander verstehen? Über Chancen in deutsch-russischen Begegnungen

Deutsch-russische Begegnungen

von Hanne-Margret Birckenbach
Hintergrund
Hintergrund

Die Ursachen für die Konfrontationen in den deutsch-russischen Beziehungen sind umstritten. Alle Seiten haben Verabredungen mit den anderen verletzt, aber keine Seite erkennt an, was sie zu dieser negativen Entwicklung beigetragen hat. Alle möchten, dass es besser wird. Kontrovers wird diskutiert, wie das geschehen kann.

Die deutsche Position ist: Wir haben verstanden, wie Russland tickt und wissen, was Putin tun muss: Die Krim an die Ukraine zurückgeben, sich aus dem Donbass zurückziehen und die Menschenrechte achten. Damit wir verstanden werden, üben wir Druck aus. Denn – so die Überschrift eines Artikels im Handelsblatt vom 17. Juni 2021: „Moskau braucht Zuckerbrot und Peitsche.“

Die russische Position ist: Wir haben verstanden, wie der Westen tickt. Wir lassen uns nicht länger über seine Absichten täuschen, auch nicht von Deutschland. Der Westen muss seine Arroganz beenden, russische Sicherheitsinteressen respektieren, mit uns auf Augenhöhe verhandeln. Wir sind stark genug und lassen Sanktionen und verzuckerte Anreize ins Leere laufen.

Zivilgesellschaftliche Begegnungen
Beide Seiten meinen, genug von der anderen Seite zu verstehen, um ihre Position zu behaupten. Aus einer solchen Sicht gibt es keine Notwendigkeit zum ernsthaften Dialog im Sinne eines gemeinsamen zukunftsorientierten Denkens. Bei dieser Ausgangslage sind die Chancen gering, durch zivilgesellschaftliche Begegnungen politische Veränderungen zu erzielen. Das Wenige aber gilt es zu nutzen, um bessere Zeiten durch vertiefte Kenntnisse von einander vorzubereiten. Das heißt, mutig das Interesse an einer friedenspolitischen Neuentwicklung zu vertreten und die Verbindungen mit Menschen aus Russland unabhängig von deren politischen Haltungen zu suchen. Dass Dialog angesichts von Differenzen von Werten und Interessen unmöglich sei, ist Ideologie. Es ist schwierig, man muss Dialog können und wollen. Kooperation funktioniert schließlich in vielen wirtschaftlichen, sportlichen, kulturellen und auch regionalpolitischen Bereichen. Deutschland ist nach China weiterhin der zweitwichtigste Handelspartner von Russland, und wer handelt, muss sich auch begegnen. Es gibt das Deutsch-Russische Forum, den akademischen Austausch und mehr als 100 deutsch-russische Städtepartnerschaften. Die Bürgermeisterbewegung für Frieden tritt für das Verbot von Atomwaffen ein und auch für Städtesolidarität, die Überwindung von Hunger und Armut, Flüchtlingsleid, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. 67 Städte in Russland beteiligen sich. Die mit Köln und Chemnitz partnerschaftlich verbundene Stadt Wolgograd hat eine Koordinierungsfunktion übernommen. Diese bessere Seite der deutsch-russischen Beziehungen kann gestärkt werden, in dem über sie berichtet und für eine Weiterentwicklung geworben wird. Das gelingt am ehesten, wenn man etwas zu erzählen hat, wenn man sich also beteiligt.

Themen aus der Friedensbewegung gelangen bei diesen Treffen bislang allerdings nur selten auf die Tagesordnung und dies insbesondere dann nicht, wenn sie sicherheitslogisch und abgrenzend formuliert werden. Gleichwohl bietet der informelle Austausch am Rande fast immer Gelegenheiten zum rücksichtsvollen Gespräch. Rücksichtnahme ist das A&O in jedem Dialog. Eine Grundregel lautet: Gesprochen werden kann nur darüber, worüber alle Beteiligten sprechen wollen. Einige Themen sind immer präsent, andere tabu, aber es gibt viele verbindende Themen im Zwischenbereich.

Dialogthemen
Immer präsent ist der traumatische Vernichtungskrieg, den Deutschland gegen die Menschen in der Sowjetunion geführt hat. Wie das Kriegsleid gesehen und der Opfer gedacht wird, hängt noch immer davon ab, ob ein Staat einen Krieg gewonnen oder verloren hat. Das ist allerdings auch im deutsch-französischen und deutsch-britischen Erinnern nur wenig anders. Und was jede Generation aus dieser Vergangenheit lernt, bleibt offen. In Russland helfen die Symbole des Sieges, das Leid zu ertragen. In Deutschland hilft die Rede von der Befreiung, um sich von der nationalsozialistischen Herrschaft zu distanzieren. Aber nicht in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind die Menschen bereit, den Sieg der Roten Armee als Befreiung zu sehen. Ob Sieg oder Befreiung – ein Kampf mit solchen Opferzahlen taugt nie als Vorbild für die Beseitigung von Unrechtsregimen. Nirgends können Deutsche das so gut begreifen wie in der Begegnung mit Menschen aus Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die auf Dauer 27 Millionen Tote beklagen müssen.

Nahezu tabu im deutsch-russischen zivilgesellschaftlichen Dialog sind die offene Kritik an der politischen Führung, an der russischen Außen- und Innenpolitik und der Unterdrückung der politischen Opposition. Das Tabu Menschenrechte gilt vor allem für die politischen, weniger für die sozialen Menschenrechte. Verbindend sind vor allem Themen, die nicht in rechtlichen Kategorien diskutiert werden müssen, sondern alltagsnah behandelt werden können. Die Themen betreffen Grundbedürfnisse und entsprechen dem Verständnis von positivem Frieden: Ausbildung und berufliche Entwicklung von Kindern, Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, Wohnen, Gesundheit, Ernährung, Städtebau und kommunale Infrastruktur.

Rücksicht zu nehmen bedeutet auch, die Bedingungen für das Gespräch über einen Konflikt zu erspüren. In einer demokratischen Gesellschaft gehört Konfliktfähigkeit heute zum Bildungskanon, weil man sich hier einen guten Ausgang vorstellen kann. In Russland funktioniert dies selten. Hier fürchten Menschen oft eine Eskalation, an der Gemeinschaft zerbricht. Wenn Begegnungen konstruktiv verlaufen sollen, ist es daher geraten, auf Verfahren zu setzen, die in der Friedenspädagogik (1) und in der mediativen Friedensarbeit (2) erprobt sind. In der deutsch-russischen Zusammenarbeit werden diese professionellen Ansätze bisher nur wenig genutzt, selbst wenn Materialien in russischer Sprache wie im Fall des Ausstellungsprojektes „Peace Counts“ (http://www.peace-counts.de/) verfügbar sind.

Die Wirkungen von Begegnungen sind nur wenig erforscht, die von deutsch-russischen Begegnungen gar nicht. Dennoch können Aussagen über mögliche Wirkungszusammenhänge gemacht werden. Die Teilnehmer*innen erweitern ihren Blick, weil sie einander als Menschen in Lebensformen erfahren, die den Klischees nicht entsprechen. Das stärkt die Widerständigkeit gegenüber der Entmenschlichung im politischen Diskurs und die Fähigkeiten, sich daran zu beteiligen. Aus einigen Jugendlichen werden Journalist*innen oder Politiker*innen, die erfahren haben, wie Dialog produktiv gestaltet werden kann. Immer entscheidet die beteiligte Person selbst, was sie aus ihrer Erfahrung macht. Seit vielen Jahren gibt es in das Projekt „Ferien vom Krieg“ mit jungen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie aus dem Nahen Osten. Muss immer erst Gewalt im Spiel sein? „Ferien von der Konfrontation“ könnten Entspannung in den deutsch-russischen Beziehungen vorbildhaft erlebbar machen.

Anmerkungen
1 U. Jäger, Friedenspädagogik und Konflikttransformation, 2014, online, file:///Users/hmb/Downloads/jaeger_handbook_d-2.pdf.
2 D. Splinter, L. Wüstehube (Hrsg.), Mehr Dialog wagen, Frankfurt/M, 2020

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