Deutschland und die Atomwaffenfrage

von Dieter Deiseroth
Schwerpunkt
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I. Der deutsche Atomwaffenverzicht

Die Bundesrepublik Deutschland hat - wie eine Vielzahl anderer Staaten - auf Atomwaffen verzichtet. Seit ihrem am 2. Mai 1975 wirksam gewordenen Bei­tritt zum "Vertrag über die Nichtver­breitung von Kernwaffen" (im folgen­den: NV-Vertrag) ist sie wie jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet,

"Kernwaffen und sonstige Kernspreng­körper oder die Verfügungsgewalt dar­über von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder her­zustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernspreng­körpern zu suchen oder anzunehmen".

Dieser Atomwaffenverzicht geht weiter als die von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1954/55 im Rah­men der sog. Pariser Verträge eingegan­gene völkerrechtliche Verpflichtung,

"Atomwaffen, chemische und biologi­sche Waffen in ihrem Gebiet nicht her­zustellen".

Denn die Verzichtserklärung von 1954/55 enthält keinen Verzicht auf

-     den Besitz und die Verfügungsgewalt über Atomwaffen,

-     die Verwendung von Atomwaffen,

-     die Herstellung von Atomwaffen auf dem Gebiet anderer Staaten (für Zwecke der Bundesrepublik) und

-     die Forschung auf dem Atomwaffen­sektor (unterhalb der schwer zu defi­nierenden Herstellungsschwelle).

Im sog. 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 (BGBl. 1990 II S. 1318) hat die Bundesrepublik Deutschland ihren sich aus dem NV-Vertrag ergebenden völ­kerrechtlich wirksamen Verzicht

"auf die Herstellung und den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie auf die Verfügungsgewalt über sie"

bekräftigt und erklärt, "daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Ver­pflichtungen halten wird".

Daraus wird vielfach geschlossen, die "Atomwaffenfrage" sei für Deutschland kein Thema mehr. Stimmt dies?

II. Die Lagerung von Atomwaffen in Deutschland - die Fakten

Die fünf neuen Bundesländer und Berlin sind atomwaffenfrei. Dies ist eines der positiven Ergebnisse des 2+4-Vertrages (Art. 5 Abs. 3 Satz 3) und der staatli­chen Vereinigung von BRD und DDR.

Diese Atomwaffenfreiheit gilt aber nicht für die alten Bundesländer.

Die atomar bestückten Mittelstreckenra­keten (Pershing II und Cruise Missiles) sowie die "nuklearen Artilleriege­schosse" und die "Gefechtsköpfe der bodengestützten nuklearen Kurzstrec­kenraketensysteme" sind zwar zwi­schenzeitlich aufgrund der zwischen den USA und der früheren Sowjetunion ab­geschlossenen Abrüstungsabkommen aus ganz Deutschland und den anderen NATO-Staaten abgezogen worden.

Aber: Auf dem Territorium Deutsch­lands (und der anderen europäischen Staaten) lagern nach wie vor Atomwaf­fen: atomar bestückte Kurzstreckenra­keten, die aus der Luft von Flugzeugen abgeschossen werden können (sog. nu­kleare Flugzeugbewaffnung).

An ihren Abbau ist nicht gedacht. Sie sollen nach Auffassung der NATO und der deutschen Bundesregierung auf un­absehbare Zeit weiterhin in Deutschland bleiben. Ihre genaue Zahl und ihre La­gerorte werden von den offiziellen staatlichen Stellen geheimgehalten. Die Bevölkerung soll sie nicht erfahren (vgl. dazu u.a. die Erklärung der Bundesre­gierung vom 21. April 1993 vor dem Deutschen Bundestag, Bundestags­drucksache 12/4766, S. 2). vielfach wird allerdings in der Öffentlichkeit davon berichtet, heute seien im NATO-Bereich ca. 700 Atomwaffen in Europa nach wie vor stationiert, darunter auch in Deutschland. Diese Atomwaffen stehen unter der alleinigen Verfügungsgewalt der US-Regierung und der US-Kom­mandobehörden.

Hinzu kommen noch die eigenen natio­nalen Nuklearstreitkräfte Großbritanni­ens und Frankreichs. Frankreich besaß im Jahre 1994 525 atomare Spreng­köpfe, Großbritannien ca. 200. Ob Großbritannien und Frankreich auch in Deutschland Atomwaffen gelagert ha­ben, ist nicht bekannt.

III. Der Einsatz der in Deutschland gelagerten Atomwaffen

1. Der NV-Vertrag und die nukleare Komponente der NATO-Strategie

a) Art. VI des NV-Vertrages verpflichtet seit 1970 jede Vertragspartei, "in redli­cher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen"

(1.) "zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft" und

(2.) "zur nuklearen Abrüstung" sowie

(3.) "über einen Vertrag zur allgemei­nen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle".

Obwohl der Kalte Krieg zu Ende ist und erklärtermaßen eine nukleare militäri­sche Bedrohung nicht (mehr) besteht, halten die USA und die anderen Atom­waffenmächte an der Notwendigkeit von Nuklearwaffen fest. Die NATO und ihre Mitgliedstaaten, die über Atomwaf­fen verfügen, treten zwar - wie die aktu­ellen Konflikte um Irak, Nordkorea und Pakistan zeigen - erfreulicherweise für eine strikte Einhaltung des NV-Vertra­ges und die Verlängerung seiner Gel­tungsdauer über 1995 hinaus ein. Sie sind jedoch - ebenso wie in der Zeit des Kalten Krieges - nicht bereit, auf die Option des Einsatzes und sogar des Er­steinsatzes von Atomwaffen durch die NATO bzw. durch deren Atomwaffen­mächte zu verzichten.

Auch die gegenwärtige Staatsführung Russlands beansprucht seit 1993 nun­mehr das Recht zum atomaren Erstein­satz.

Die Regierungen der NATO-Staaten und auch die deutsche Bundesregierung lehnen erklärtermaßen prinzipiell einen Verzicht auf die Möglichkeit des Erst- oder Zweiteinsatzes von Atomwaffen durch einen NATO-Staat ab. Die Bun­desregierung hat vor dem Deutschen Bundestag am 21. April 1993 hierzu ausdrücklich erklärt (vgl. BT-Drs. 12/4766, S. 3):

"Diese eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrate­gie des Bündnisses, weil konventionelle Streitkräfte allein die Kriegsverhütung nicht gewährleisten können. ... Deshalb wird die Bundesregierung nicht für den Abzug dieser Waffen aus Deutschland oder Europa eintreten. Ebenfalls wird die Bundesregierung nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz ein­treten, ggf. Nuklearwaffen als erste ein­zusetzen. ... Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungs­strategie aushöhlen. Die Möglichkeit und Führbarkeit konventioneller Kriege würde zunehmen."

Diese Haltung der NATO-Staaten ist mit Art. VI des NV-Vertrages nicht vereinbar. Denn Art. VI des NV-Ver­trages verlangt mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit von allen Vertragsstaa­ten, namentlich gerade von den Atom­waffen besitzenden Staaten, "in redli­cher Absicht" Verhandlungen mit dem Ziel der "nuklearen Abrüstung" und zur "allgemeinen und vollständigen Abrü­stung" (gerade auch der Atomwaffen) unter strenger und wirksamer interna­tionaler Kontrolle zu führen. Über die Art und die Dauer dieser Verhandlungen können die Vertragsstaaten streiten. Da­gegen dürfen sie das in Art. VI nor­mierte Verhandlungsgebot und Ver­handlungsziel als solches nicht in Frage stellen und nicht ignorieren. Anderen­falls sind sie vertragsbrüchig. Das grundsätzliche Ablehnen von Verhand­lungen über einen vollständigen Ver­zicht auf Atomwaffen und das grund­sätzliche weitere Beharren auf dem Be­sitz und auf der Option des Einsatzes oder gar des Ersteinsatzes dieser Waffen negiert die grundsätzliche völkerrechtli­che Verpflichtung aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrages.

Dies ist alles andere als eine Bagatelle, über die man zur Tagesordnung überge­hen könnte.

(1) Die Ablehnung von Verhandlungen über einen vollständigen Verzicht auf Atomwaffen ist - ebenso wie das prinzi­pielle Beharren auf dem weiteren Besitz sowie auf der prinzipiellen Option eines Einsatzes von Atomwaffen - ein schwerwiegender völkerrechtlicher Vertragsbruch. Dies gilt nicht nur für die NATO-Atomwaffenstaaten USA, Großbritannien sowie für Frankreich.

In gleicher Weise gilt dies selbstver­ständlich für andere Atomwaffen-Staa­ten außerhalb der NATO, die - wie z.B. Russland in der Nach-Gorbatschow-Ära - auf dem weiteren Besitz von Atom­waffen prinzipiell beharren, an der Op­tion ihres Einsatzes "im Fall des Falles" festhalten und sich prinzipiell weigern, "in redlicher Absicht" Verhandlungen mit dem Ziel der vollständigen nuklea­ren Abrüstung zu führen.

Staaten, die diesen Vertragsbruch billi­gen und unterstützen, verhalten sich selbst völkerrechtswidrig.

(2) Der fortgesetzte Verstoß gegen Art. VI des NV-Vertrages gefährdet zugleich den NV-Vertrag, d.h. die Verlängerung seiner Geltungsdauer über das Jahr 1995 hinaus.

Zahlreiche Staaten haben nämlich in­nerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen wiederholt die Nichtbeachtung des Art. VI durch die Nuklearmächte zum Anlass genommen, ihre Bereitschaft zum weiteren Festhalten am NV-Ver­trag und zu einem fortgesetzten Atom­waffenverzicht für die Zukunft in Frage zu stellen. Niemand bestreitet: Eine Nichtverlängerung des NV-Vertrages oder seine "Aufweichung" wäre eine äußerst gefährliche Entwicklung für den Weltfrieden.

Deshalb gilt: Wer das "Regime" der Nichtweiterverbreitung von Atomwaf­fen (Non-Proliferation) und damit den NV-Vertrag als dessen wichtigsten Pfeiler retten will, muß für eine unver­zügliche Beendigung des weiteren Ver­stoßes gegen seinen Art. VI eintreten.

2. "Nukleare Teilhabe"

Nach der vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) am 12. Juli 1994 vorgelegten "Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundes­wehr" (im Folgenden: KL), die zwi­schenzeitlich auch vom Bundeskabinett gebilligt worden ist, soll die Bundes­wehr künftig aus "Hauptverteidigungs­kräften" und "Krisenreaktionskräften" bestehen. Die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr sollen nach der KL ein­gesetzt werden

-     in der Landesverteidigung

-     in NATO und WEU zur Krisenbe­wältigung und Konfliktverhinderung sowie zur Verteidigung

-     im Rahmen der Vereinten Nationen und

-     der KSZE (Einsätze im gesamten Spektrum von humanitären Maß­nahmen bis hin zu militärischen Ein­sätzen gemäß der Charta der Verein­ten Nationen").

Zu diesem Zweck müssen, so heißt es in den KL, "schnell einsetzbare und verle­gefähige Kräfte vorgehalten werden", u.a.

"in der Luftwaffe sechs fliegende Staf­feln für Luftangriff, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe" (vgl. ebd. S. 7).

"Nukleare Teilhabe" bedeutet nach einer von der Wochenzeitung "Die Zeit" zi­tierten diesbezüglichen Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums eine "breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter eu­ropäischer Bündnispartner an nuklearen Aufgaben", wobei von seitens der Bun­deswehr u.a. "eine begrenzte Anzahl von Tornado-Flugzeugen als Trägersy­stems dem Bündnis zur Verfügung ge­stellt werden" (vgl. Die Zeit vom 12. August 1994, S. 4).

Im Klartext heißt dies:

Die Bundeswehr wird darauf eingestellt, daß im Rahmen ihrer "Krisenreak­tions­kräfte" u.a. "schnell einsetzbare und ver­legefähige" flie­gende Staffeln der Bundesluftwaffe mit Tornado-Flug­zeu­gen vorgehalten wer­den, die als Element der "nuklearen Teilhabe" der Bundes­wehr als nukleare Trägersysteme Ver­wendung finden sol­len.

Dies wirft mehrere Fragen aus.

(1.) Wenn die Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr eine Reichweite von 550 bis 1.400 km haben (vgl. dazu Mech­tersheimer/Barth, Militarisierungsatlas, 2. Aufl. 1988, S. 376), ist zu fragen, wo sie als deutsche "Teilhabe" an einem möglichen Nukleareinsatz von NATO-Bündnispartnern (USA, Großbritannien, Frankreich) eingesetzt werden sollen. Die nuklearen Schaltzentralen der Atommächte Russland und China liegen außerhalb der Reichweite der Tornado-Flugzeuge. Für welche Einsatzorte und -ziele innerhalb der Reichweite der Tor­nado-Flugzeuge werden dann aber Ein­satzpläne im Rahmen der "nuklearen Teilhabe" konzipiert?

(2.) Wie dargelegt, ist nach Art. II des NV-Vertrages jeder Nichtkernwaffen­staat und damit auch die Bundesrepublik Deutschland "verpflichtet, ... Kernwaf­fen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen". Im 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 hat die Bundesrepublik Deutschland diesen Atomwaffenver­zicht "bekräftigt und erklärt ..., daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtung halten wird".

Wenn nun entsprechend der neuen "Konzeptionellen Leitlinie zur Wei­terentwicklung der Bundeswehr" für einen Nukleareinsatz von NATO-Bünd­nispartnern deutsche Tornado-Flug­zeuge mit deutschen Piloten "als nu­kleare Trägersysteme" zur Verfügung gestellt werden, stellt sich die zwin­gende Frage, ob dann nicht deutsche Hoheitsträger zumindest mittelbare Ver­fügungsgewalt über Atomwaffen haben (werden), wenn ein deutsches Tornado-Flugzeug für einen Nukleareinsatz mit ihnen beladen und in den Einsatz ge­schickt wird? Wie soll sich dies und wie sollen sich darauf gerichtete Planungs- und Vorbereitungshandlungen mit dem deutschen Atomwaffenverzicht vertra­gen?

(3.) NATO-Bündnispflichten

Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 1. Dezember 1993 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der u.a. vorsieht, in Artikel 26 des Grundgesetzes einen Absatz 4 einzufü­gen, der folgenden Wortlaut haben soll:

"Die Entwicklung, Herstellung, Lage­rung, Beförderung, das In-Verkehr-Bringen, die Aufstellung und Anwen­dung von atomaren, bakteriologischen, chemischen und anderen Massenver­nichtungswaffen sowie die Drohung mit ihrer Anwendung sind verfassungswid­rig. Sie sind unter Strafe zu stellen. Be­stehende Bündnisverpflichtungen bleiben unberührt." (vgl. BT-Drs. 12/6323, S. 24)

Die Sätze 1 und 2 des Vorschlags sind sehr zu begrüßen.

Was es mit dem dritten Satz auf sich hat, ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs. Diese lautet:

"Satz 2 trägt bestehenden Bindungen der Bundesrepublik Deutschland aus der Bündnis- und Verteidigungskooperation in der NATO und in Europa Rechnung, nach denen auf ihrem Boden auch Atomwaffen gelagert und von dort eingesetzt werden dürfen." (vgl. BT-Drs. 12/6323, S. 24, rechte Spalte)

Im Klartext heißt dies:

Die SPD geht davon aus, daß "im Falle eines Falles" die auf deutschem Boden nach wie vor noch gelagerten Atomwaf­fen (der Atommächte USA sowie evtl. Frankreichs und Großbritanniens) von hier aus eingesetzt werden dürfen. Von deutschem Boden aus bleiben also Atomschläge weiterhin möglich, fak­tisch und - so die Auffassung der SPD - auch rechtlich?

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