Deutschlands heimliche Profiarmee

von Ulrich Finckh

Die Bundeswehr besteht fast nur aus Freiwilligen. Nur sie werden im Ausland eingesetzt. Trotzdem wird so getan, als hätten wir eine Wehrpflichtarmee. Der Autor versucht in aller Kürze eine kritische Nachfrage.

Über einhundert Jahre Streit um die Wehrpflicht
1.1 Die Wehrpflicht wurde in Preußen 1814 eingeführt und war alles andere als demokratisch. Zwar wurde die Offizierslaufbahn auch Bürgerlichen eröffnet und das Leistungsprinzip eingeführt, aber die Armee blieb ein Instrument des Königs. Zunehmend wurde darauf geachtet, nur für die Monarchie problemlose Männer vom Lande einzuberufen. Sozialisten sollten nicht einmal Unteroffizier werden.

1.2 Im von Preußen so genannten Badischen Feldzug haben die Wehrpflichtarmeen Preußens und seiner Verbündeten die 1848er Bewegung zusammengeschossen. Preußens Armee führte Bismarcks Kabinettskriege und entzog sich weitgehend demokratischer Kontrolle. Für den Nationalismus und Militarismus im 19. Jahrhundert wurde die Armee mit ihrer Bevorzugung der bürgerlichen „Einjährigen“ und der Rolle der Offiziere und Reserveoffiziere ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor.

1.3 Die Revolutionsidee von einer allgemeinen Volksbewaffnung und die schon 1847 in den Offenburger Forderungen des Volkes verlangte „Beeidigung des Militärs auf die Verfassung“ gab es natürlich nicht. Bebels Kritik an der Klassenarmee war nur zu berechtigt, sollte aber nicht zu einem sozialdemokratischen Wehrpflichtprinzip erhoben werden. Die Wehrpflicht war 1914 Voraussetzung für den deutschen „Griff nach der Weltmacht“.

1.4 Der Versailler Vertrag verbot Deutschland die Wehrpflicht und begrenzte die Armee auf 100.000 Mann. Zwar konnte dieses verkleinerte Heer gegen die Räterepubliken in Bayern und Bremen eingesetzt werden, doch nicht gegen rechte Putschisten. Man hatte ja noch vor kurzem miteinander im Schützengraben gelegen und lehnte die Demokratie ebenso ab, wie dies auch weite Teile der Beamtenschaft, der Justiz, der Kirchen und Hochschulen taten. Der Eid auf die Verfassung wurde sofort vergessen, als das Heer nach dem Tod Hindenburgs auf Hitler vereidigt wurde.

1.5 Wieder eingeführt wurde die Wehrpflicht von Hitler zur Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges. Ohne Wehrpflicht wäre der Krieg gegen fast ganz Europa unmöglich gewesen.

2. Profiarmee - Wolf im Schafsfell der Wehrpflicht
2.1 Das Grundgesetz enthält einen Friedensauftrag und garantiert Grundrechte. Das wurde durch die Wehrverfassung von 1955 übergangen. Die nach Artikel 19,2 GG im Wesensgehalt unantastbaren Grundrechte wie das in Artikel 2,2 GG festgeschriebene Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wurden mitsamt diesem Wesensgehalt außer Kraft gesetzt.

2.2  Das Wehrpflichtgesetz von 1956 führte die Wehrpflicht wieder ein. Eine Vereidigung auf die Verfassung gab und gibt es nicht. Kriegsdienstverweigerung wurde höchst restriktiv geregelt und jahrelang zu Gunsten der Wehrpflicht skandalös missachtet.

2.3 Aus der Wehrpflichtarmee von 450.000 Mann, die im Rahmen der NATO aufgestellt wurde, und aus der weitgehend abgewickelten NVA der DDR ist inzwischen eine gesamtdeutsche „Armee  im Einsatz“ geworden. Sie besteht fast nur noch aus Freiwilligen. Die meisten der 250.000 Soldatinnen und Soldaten sind Zeit- und Berufssoldaten, ca. 25.000 freiwillig länger dienende Soldaten („FWDL“) und ca. 30.000 Grundwehrdienstleistende („W 9“). Nach der angekündigten Verkürzung der Grundwehrdienstzeit auf sechs Monate sollen künftig 50.000 Wehrpflichtige pro Jahr einberufen werden. Dann sind sogar nur noch 25.000, also nur ein Zehntel der Bundeswehr, Grundwehrdienstleistende. Sie haben militärisch keinen Sinn und dienen nur noch der Tarnung der Profiarmee als angebliche Wehrpflichtarmee.

3. Probleme der Wehrpflicht
3.1 Das größte Problem ist derzeit die fehlende „Wehrgerechtigkeit“. Das Verfassungsgericht hat diesen Begriff 1978 geprägt, als es die (unberechtigte) Sorge hatte, durch das damals so genannte Postkartengesetz gebe es so viele Zivildienstleistende, dass die Wehrgerechtigkeit leide. Inzwischen können von den ca. 400.000 Wehrpflichtigen eines Jahrgangs aber nur ca. 10.000 direkt als Zeitsoldaten, ca. 18.000 als FWDL und ca. 45.000 (demnächst 50.000) als Wehrpflichtige einberufen werden. Auch wenn man ca. 100.000 Zivildienstleistende und ca. 20.000 für andere Aufgaben mit Ersatzdienstcharakter Freigestellte hinzurechnet, wird von den 400.000 nicht einmal die Hälfte einberufen. Von Wehrgerechtigkeit keine Spur!

3.2 Die Ungerechtigkeit wird als besonders belastend empfunden, weil die nicht Einberufenen erhebliche Vorteile haben. Außerdem gibt es durch die Einberufungen fatale Eingriffe in die Lebensplanung (Einberufungen aus dem Studium, aus einem befristeten Arbeitsverhältnis oder aus einer Probezeit heraus).

3.2 Dass nur wenige einberufen werden, bringt für alle Wehrpflichtigen große Unsicherheit und verführt das Verteidigungsministerium zu vielfachem Betrug. Bis zu 50.000 Wehrpflichtige wurden in den letzten Jahren nicht gemustert und unglaubliche 40 % für untauglich erklärt! Wer sich als Kriegsdienstverweigerer meldet, wird eher tauglich geschrieben und dann auf jeden Fall zum Zivildienst einberufen oder zu einem anderen Dienst genötigt.

3.4 Ein weiteres Problem ist der Zwangsdienstcharakter der Wehrpflicht. Die angelsächsischen Demokratien sowie Belgien, Niederlande und Frankreich haben keine Wehrpflicht im Frieden, wohl aber Diktaturen wie Iran und Nordkorea oder Staaten am Rande des Krieges wie Israel, Griechenland und die Türkei.

3.5 Gern verschwiegen werden die undemokratische Geschichte der Wehrpflicht und der im Prinzip undemokratische Stil allen Militärs.

4. Probleme der Profiarmee
4.1 Für die Freiwilligen muss überall geworben werden. Das geschieht längst, auch bei zu jungen Leuten und vor allem in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Werbung militarisiert die Schulen, vor allem die Berufsschulen, und ist vielfach irreführend nur auf „Job“ und „sicheren Arbeitsplatz“ ausgerichtet. Dabei ist nichts so unsicher wie „kriegsähnliche“ Einsätze.

4.2 Während für die Offizierslaufbahnen mit Studienmöglichkeiten geworben werden kann, gibt es für die einfachen Laufbahnen keine vergleichbaren Vergünstigungen, nur hohe Zahlungen bei den gefährlichen Einsätzen. Das Ergebnis ist eine eher negative Auswahl der Freiwilligen.

4.3 Die Behauptung, eine Profiarmee sei teurer, ist wenig glaubhaft. Für den winzigen Anteil von Grundwehrdienstleistenden wird ein Riesenverwaltungsapparat aufrechterhalten für Erfassung, Musterung, Einberufung und Wehrüberwachung. Außerdem müssen für die ständig wechselnden Ausbildungseinheiten viele Vorgesetzte und Kader abgestellt werden, die für die einsetzbare Truppe ausfallen. Der Verzicht auf das Zehntel Wehrpflichtige stärkt die Einsatzarmee und spart zusätzlich Liegenschaften und Verwaltung. Das notwendige Mehr an Werbung kann nicht teurer sein, weil die Bundeswehr bereits fast nur aus Freiwilligen besteht.

4.4 Gegen die Gefahr, dass die Profiarmee ohne Wehrpflichtige aus dem Ruder läuft, gibt es gleich drei Sicherungen: Den parlamentarisch kontrollierten zivilen Oberbefehl über die Bundeswehr, den Wehrbeauftragten des Bundestages, der alle Einheiten der Bundeswehr unangemeldet besuchen und kontrollieren kann, und das Recht des Bundestagsverteidigungsausschusses, sich in einen Untersuchungsausschuss zu verwandeln.

5. Folgen für die Ersatzdienste
5.1 Mit der Wehrpflicht würden alle Ersatzdienste wegfallen. Da in den letzten Jahren die Zahl der Zivildienstleistenden schon von zeitweise 150.000 auf ca. 65.000 reduziert wurde, ohne dass es große Probleme gab, ist die weitere Reduzierung des Zivildienstes auf null Plätze jedenfalls kein Problem. Die Einsatzstellen, die Probleme behaupten, haben entweder Unrecht, oder sie haben ihre Zivildienstleistenden rechtswidrig anstelle normaler Beschäftigter eingesetzt.

5.2 Schwieriger könnte es für andere Ersatzdienste werden, etwa für den Katastrophenschutz bei THW, Rotem Kreuz, freiwilligen Feuerwehren etc. Manche Helfer dort haben sich gemeldet, um damit der Bundeswehr zu entgehen. Ohne Wehrpflicht müssten diese Dienste ihre Helfer als echte Freiwillige werben. Der Sache nach ist das natürlich angemessener als der Druck der Wehrpflicht. 

6. Gibt es Alternativen?
6.1 Die Kommunalverbände schlagen einen allgemeinen Pflichtdienst vor. Der ist aber nicht nur in Artikel 12 GG, sondern auch in diversen Menschenrechtskonventionen verboten, die die BRD binden. Außerdem ist er viel zu teuer, weil er einen riesigen Verwaltungsapparat braucht, der für Männer und Frauen doppelt so groß wie der bisherige für die Wehrpflicht sein müsste.

6.2 Costa Rica hat eine Alternative verwirklicht, die kaum jemand bei uns zu denken wagt. Mitten im von Krisen und Kriegen geschüttelten Mittelamerika hat Costa Rica das Militär abgeschafft und das eingesparte Geld für Bildung und Infrastruktur verwendet. Das Land wurde dadurch zur „Schweiz“ Lateinamerikas und zum Vermittler in vielen Konflikten seiner Nachbarn.

6.3 Um vom Militär wegzukommen, ist die beste Möglichkeit die Stärkung des internationalen Rechtes. Ansätze dazu gibt es vielfach, weltweit die UNO und ihre Unterorganisationen, sowie viele internationale Konventionen und außerdem regionale Organisationen.

6.4 Zur Unterstützung der Konversion weg vom Militär ist es sinnvoll, die Möglichkeiten Ziviler Konfliktaustragung auszubauen, und weltweit beim Aufbau gerechter ziviler Strukturen zu helfen. 

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Hintergrund
Pfarrer i. R. Ulrich Finckh war von 1971 - 2003 Vorsitzender der Zentralstelle KDV und von 1974 - 2004 Mitglied im Beirat für den Zivildienst. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied im Sozialen Friedensdienst Bremen.