Dialog-Kreis – Eine Stimme für das Volk ohne Anwalt

von Memo Sahin

Die Arbeit des Dialog-Kreises begann mit einem „butterweichen“ Appell aus der Feder und aus dem Schatz der jahrzehntelangen Erfahrung eines der wichtigsten Köpfe der Friedensbewegung, Andreas Buro. Er konnte innerhalb von zwei Wochen über 150 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Kultur sowie Menschenrechts- und Friedensbewegung unter einen Hut bringen und sie zu einem gemeinsamen Ziel, nämlich der friedlichen Lösung der Kurdenfrage, bewegen.

„Krieg in der Türkei: Die Zeit ist reif für eine politische Lösung!“ war die Überschrift des Appells, der mit den Unterschriften von Ulrich Albrecht, Franz Alt, Klaus Bednarz, Andreas Buro, Hans-Peter Dürr, Iring Fetscher, Ute Gerhard, Günter Grass, Jürgen Habermas, Inge Jens, Walter Jens, Margarete Mitscherlich, Wolf-Dieter Narr und Horst-Eberhard Richter weitere Persönlichkeiten wie Alfred Biolek, René Böll, Herta Däubler-Gmelin, Katja Ebstein, Erhard Eppler, Gernot Erler, Joschka Fischer, Johan Galtung, Hans W. Geissendörfer, Heiner Geißler, Ulrich Gottstein, Herbert Grönemeyer, Peter Härtling, Dieter Hildebrandt, Joachim Hirsch, Dieter Hooge, Oskar Lafontaine, Peter Maffay, Norman Paech, Peggy Parnass, Erika Pluhar, Claudia Roth, Herbert Schmalstieg, Renate Schmidt, Herbert Schnoor, Johannes Mario Simmel, Heide Simonis, Dorothee Sölle, Klaus Staeck, Udo Steinbach, Manfred Stenner, Wolfgang Thierse, Ludger Vollmer, Martin Walser, Heide Wieczorek-Zeul, Dieter Wunder und Klaus Zwickel erreichte und umfasste. Es war Newroz/März 1995, und der Krieg in der Türkei tobte.

„In der Türkei herrscht seit Jahren Krieg unter einst befreundeten Völkern. Hunderttausende, ja, Millionen Kurden wurden aus ihren Lebensgebieten vertrieben, Dörfer und Landstriche zerstört. Folter und Mord sind an der Tagesordnung. Menschen sterben auf beiden Seiten. Auch Wirtschaft, Recht, Liberalität und Kultur fallen dem Krieg zum Opfer. Eine Gesellschaft zerstört sich selbst, statt die Vielfalt der in ihr lebenden Völker und Kulturen als unschätzbare Bereicherung anzunehmen und alle Kräfte für ein freundschaftlich gleichberechtigtes Zusammenleben zu mobilisieren.

Freundschaft zur Türkei kann in dieser historischen Situation nur heißen, ihrer großen Gesellschaft aus Türken, Kurden, Armeniern, aus Moslems, Christen und vielen anderen Völkern und Religionen beizustehen, um Gespräche und Verhandlungen für das zukünftige friedliche Zusammenleben endlich beginnen zu lassen.

Helfen wir alle mit, damit die Vernunft siegt, damit die seit Jahrhunderten bestehende Freundschaftsbrücke zwischen Kurden und Türken nicht weiter zerstört wird, die zivilen Kräfte sich stärken und Frieden, der Wunsch der großen Mehrheit dieser Völker, Wirklichkeit werden kann. Im türkisch-kurdischen Krieg ist es höchste Zeit für eine politische Lösung!“

In diesen drei kurz und bündig verfassten Absätzen wurden Ziele und Aufgaben des Dialog-Kreises wiedergegeben.

Seit der Veröffentlichung dieses Appells sind inzwischen 14 Jahre vergangen. Auf der Basis dieses Textes konnten zahlreiche Symposien und Konferenzen sowie Gespräche mit Politikern aus Deutschland und der Türkei organisiert, etwa zehn Bücher und Broschüren herausgegeben und Dutzende von Stellungnahmen und Memoranden veröffentlicht werden. Regelmäßige Delegationsbesuche zur Zivilgesellschaft in der Türkei und in Kurdistan konnten zusammen mit der IPPNW stattfinden. Erhebliche humanitäre Hilfe, insbesondere für aus ihren Siedlungen vertriebene Kurden, wurde zusammen mit Pro Humanitate verwirklicht. Dem heutigen Premierminister Erdogan konnte ein Memorandum zum Zusammenhang von Menschenrechten und Kurdenfrage in Ankara vorgestellt werden.

Ein Periodikum, die „Nützlichen Nachrichten“, begleiten seit 1996 mit ihren zum Teil brisanten Informationen wegweisend und dokumentarisch die Reise des Dialog-Kreises.

Vieles konnte der Dialog-Kreis nicht in die Tat umsetzen. Ein Dialog kann stattfinden, wenn mindestens zwei der Parteien sich bereiterklären, mitzuwirken. Bei unserem Beispiel waren die türkischen Persönlichkeiten und Migrantenverbände nicht willig mitzuwirken. Das jahrzehntelange Tabu über die Existenz und Anerkennung der Kurden wurde von ihnen auch in Europa hartnäckig fortgesetzt. Für diese Kreise galt: Alle weiter reichenden Dialoge mit politisch engagierten Kurden und ihren Freunden sollten vermieden werden.

Das kurdische Volk aber hat mit seinem Widerstand das Tabu über die Kurdenfrage zerbrochen. Der türkische Staat sendet heute in der Sprache der bis vor kurzem als „Bergtürken“ bezeichneten Menschen. Der Staatspräsident der Türkei spricht heute von der Kurdenfrage als dem wichtigsten Problem der Türkei, das dringend gelöst werden müsse.

Ein Sprichwort besagt: „Eine weiche und sensible Sprache kann eine Schlange aus dem Loch holen“. Der Dialog-Kreis führt seine Aktivitäten fort, meist unter schwierigen Bedingungen und gegen Widerstände. Die Verfasser und Befürworter der kämpferischen Texte sind aber inzwischen aus dem politischen Leben längst verschwunden.

Der Dialog-Kreis wollte dem „Volk ohne Anwalt“ eine Stimme geben und zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage aus Deutschland beitragen. Inwieweit ihm dies gelungen ist, mögen andere beurteilen.

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