Türkei

Die deutsche Türkeipolitik gehört auf den Müllhaufen der Geschichte

von Memo Sahin
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

In den letzten Jahren wurde in der Türkei ein maßgeschneiderter Ein-Mann-Apparat installiert. In der „Neuen Türkei“ Erdogans ist die Gewaltenteilung praktisch aufgehoben. Erdogan regiert per Dekret; Legislative, Exekutive und Judikative liegen fest in seiner Hand.

Ich möchte ganz kurz und in einigen Bereichen die 1990er Jahre mit Erdogans „Neuer Türkei“ vergleichen. In vieler Hinsicht ist die heutige Lage schlimmer als die der 1990er Jahre. Damals waren fast nur KurdInnen die Zielscheibe. Heute gilt fast jeder, der Erdogan und seine Machenschaften kritisiert, als potenzieller Terrorist.

Der Romanzier und Journalist Ahmet Altan wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er Erdogan kritisiert hat. Ein Industrieller wie Osman Kavala, der die demokratischen und sozialen Gruppen und den Gezi-Widerstand unterstützte, wird wie ein Terrorist behandelt. Ein kurdischer Politiker und Vorsitzender der HDP, Selahattin Demirtas, sitzt mit weiteren über 10.000 seiner ParteigenossInnen im Gefängnis, weil er es gewagt hat, als Präsidentschaftskandidat gegen Erdogan anzutreten.

In den 1990er Jahren wurden kurdische Dörfer zerstört und ihre AnwohnerInnen vertrieben. In der „Neuen Türkei“ Erdogans waren dann 2015/16 die kurdischen Städte dran. Etwa eine Million KurdInnen wurden erneut vertrieben, weil diese Städte Hochburgen der kurdischen Bewegung waren, die mit bis zu 80-90 Prozent die HDP gewählt haben.

In den 1990er Jahren wurden grenzüberschreitende Operationen im Irak durchgeführt. In der „Neuen Türkei“ Erdogans wurde die kurdische Enklave Afrin in Syrien von islamistischen Milizen besetzt.

Damals, in den 1990er Jahren, hatte man in der Türkei die formelle Gewaltenteilung. Das Parlament konnte die Regierenden kontrollieren. Gerichte konnten nach Gesetzen handeln und entscheiden. Selbst in den blutigen Kriegsjahren der 1990er Jahre wurden parlamentarische Untersuchungskommissionen eingeschaltet, um z.B. die Zerstörungen kurdischer Dörfer zu untersuchen. Die extralegalen Hinrichtungen kurdischer PolitikerInnen, Intellektuellen, JournalistInnen und MenschenrechtlerInnen sowie das Bündnis „Politik-Sicherheitsapparat-Mafiabanden“ war 1997 das Hauptthema und beschäftigte einen Parlamentsausschuss.

Die Herrschenden der 1990er Jahre konnten die Presse nicht gleichschalten, Erdogan aber hat es geschafft. Damals konnte man, wenn es auch schwierig war, vom Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen und demonstrieren. Heute dürfen nicht einmal die Samstagsmütter, Mütter der vom Staat verschleppten und getöteten Menschen, auf die Straße gehen.

Damals hat man kurdische Parteien verboten. Heute verbietet man sie nicht, nimmt aber massenhaft die Kader, gewählte ParlamentierInnen und BürgermeisterInnen der HDP in Haft und versucht die legalen kurdischen Einrichtungen und Parteien zu lähmen.

Die deutsch-türkischen Beziehungen
Die deutsch-türkische Zusammenarbeit hat eine lange Geschichte. Dabei darf die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft nicht unerwähnt bleiben, auch die Rolle und Mittäterschaft Deutschlands beim Völkermord an ArmenierInnen.

Allemal spielten zwischen den Staaten die politischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen eine große Rolle. Dazu kam dann 2015 der Flüchtlingsdeal zwischen EU und der  Türkei (laut EU-Kommission fehlen Belege in Höhe für mindestens 1,1 Milliarden Euro der von der EU an die Türkei gezahlten 6 Milliarden).

Über 6.000 deutsche Firmen arbeiten in der Türkei, und Deutschland verkauft jährlich Waren im Wert von über 22 Milliarden Euro an die Türkei. Beide Staaten sind außerdem Mitglied in der NATO, und die Türkei ist EU-Beitrittskandidatin. Darüber hinaus ist die Türkei ein großes Land und liegt an einer Schnittstelle zwischen Osten und Westen, Norden und Süden.

Mehrere Millionen Menschen aus der Türkei leben in Deutschland und über 1,5 Millionen von ihnen haben hier Wahlrecht, d.h. sie sind deutscher StaatsbürgerInnen, die bei den Wahlen in Deutschland berücksichtigt werden.

Außerdem hat die Türkei als Staat neben Dutzenden Konsulaten viele Einrichtungen wie die DITIB mit 1.000 Moscheen in Deutschland. Die Imame dieser Moscheen werden in Ankara ausgewählt und fühlen sich nicht Deutschland verbunden, sondern der Türkei.

Je mehr der Druck aus der Türkei in Richtung Deutschland zunahm, je mehr Erdogan die Bundesregierung angriff und beschimpfte, desto schwieriger wurde die Situation für hier lebende kurdische und türkische DemokratInnen. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich nur einige der Öffentlichkeit bekannte Fälle noch einmal kurz erwähnen:

Deutsche Waffenlieferungen mussten in den 1990er Jahren durch öffentlichen Druck, wenn auch nur vorübergehend, eingestellt werden. Ein Kriegsminister namens Dr. Gerhard Stoltenberg musste Ende März 1992 seinen Hut nehmen, weil deutsche Waffen und Panzer von der Türkei gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt wurden.

Im Fall von Afrin erklärte die Bundesregierung, dass keine Waffen mehr in die Türkei geliefert würden. Entgegen dieser Erklärung lieferte sie noch während der türkischen Invasion in Afrin Waffen an die Türkei und ist mitschuldig an der Besetzung Afrins und der Vertreibung Hunderttausender ZivilistInnen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bezeichnet die Türkei als eine Besatzungsmacht in Syrien.

Die Bundesregierung unterstützt die von der Muslimbruderschaft dominierte syrische Nationalkoalition und lässt Millionen Euro in die Kassen der Islamisten fließen (jw, 7.4.18). Außerdem unternimmt sie alles, damit die kurdischen VertreterInnen an den UN-Verhandlungen über Syrien in Genf nicht teilnehmen (Andreas Zumach). Die Hermesbürgschaften für die Türkei seien eingestellt, erklärte die Bundesregierung. Später kam aber heraus, dass sie uns belogen hat.

Auch die Rechte der kurdisch-türkischen Demokraten sind vom Grundgesetz geschützt
Die Meinungs-, Presse-, Versammlungs-, Kunst- und die Reisefreiheit sind feste Bestandteile der Grundrechte und werden vom Grundgesetz geschützt.

Wenn wir auch anders aussehen, leben wir doch seit Jahrzehnten in Deutschland. Viele von uns haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Und die verbrieften Grundrechte gelten auch für uns. Dennoch hindert der lange Arm Erdogans uns, von diesen Grundrechten Gebrauch zu machen. Bezüglich der Verletzung der Grundrechte der hier lebenden kurdischen und türkischen DemokratInnen ist die Bundesregierung fast untätig.

Nicht nur in der Türkei, auch hier in Deutschland und in Europa sind die kurdischen und türkischen DemokratInnen nicht sicher. Gegen etwa 60.000 Menschen wurden von der Türkei Haftbefehle an Interpol übermittelt. Tausende können sich wegen dieser Haftbefehle nicht einmal in Europa frei bewegen. Erdogans „Neue Türkei“ verhält sich wie einen Piratenstaat und hat durch die Zusammenarbeit der Geheimdienste aus 20 Staaten um die einhundert Menschen in die Türkei verschleppt. (Heute-Journal, 5.4.18)
Wenn die Bundesregierung und Bundesbehörden die KölnerInnen Dogan Akhanli, Kemal K., Adil Demirci, Hozan Canê und weitere gewarnt hätten, wären sie nicht in Gefängnissen gelandet.

Adil Yigit lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Weil er beim Erdogan-Besuch in Berlin mit einem T-Shirt „Freiheit für Journalisten“ auf der Pressekonferenz Platz nahm, wollte die Ausländerbehörde ihn in Januar 2019 in die Türkei abschieben.

Ali Zülfikar lebt in Köln und ist Maler. Er hatte in Linz eine Ausstellung. Nach Druck des türkischen Konsulats musste er eines seiner Gemälde zensieren. Eine Statue von Erdogan während der Biennale in Wiesbaden musste auf Druck des türkischen Konsulats entfernt werden.

Der Krimiautor Matthias Gibert muss unter Polizeischutz leben, weil er in seinem Buch die Willkür Erdogans thematisiert hat.

Auch die Versammlungsfreiheit der hier lebenden kurdischen und türkischen DemokratInnen ist gefährdet. Nicht nur Kundgebungen und Demonstrationen werden mit lächerlichen Gründen verboten und nicht genehmigt, selbst Saalveranstaltungen werden nicht geduldet. In Köln zum Beispiel werden selbst bei den genehmigten Kundgebungen keine Essens- und Infostände mehr erlaubt. Ermittlungsverfahren gegen kurdische Aktivisten nehmen jährlich zu.

Während Deutschland wegen des Giftattentats in England im Fall Skripal russische DiplomatInnen ausgewiesen hat, operieren über 6.000 AgentInnen des türkischen Geheimdienstes MIT weiterhin ungestört in Deutschland.

Im September 2018 wurde Erdogan in Berlin hofiert, und Merkel fuhr in die Türkei, um die türkischen Bestrebungen in Syrien zu unterstützen. Dieser Besuch kommt einer Anerkennung der türkischen Besatzung in Afrin und in Nordsyrien gleich.

Die Türkei-Politik Deutschlands wird immer noch von der Türkei-Politik Schröders beeinflusst. Dank seiner direkten Kontakte zu Erdogan agierte Schröder in den letzten Jahren als Botschafter zwischen beiden Staaten und wirkte so erfolgreich bei der Befreiung einiger Geiseln mit.

Diese wenigen Beispiele stellen der Bundesregierung ein Armutszeugnis für ihre Türkei-Politik aus. Um das Blatt zu wenden, müssen die GenossInnen der SPD den ersten Schritt tun! Wie Hatrz IV gehört auch die Schröder'sche Türkei-Politik auf den Müllhaufen der Geschichte!

Eine Umkehr von dieser verfehlten Politik ist möglich
Eine Umkehr von dieser verfehlten Politik könnte schon heute beginnen, indem sich die Bundesregierung bei der EU und bei den Vereinten Nationen gegen die neuen Kriegs- und Invasionspläne der Türkei bezüglich Nordsyrien positioniert und öffentlich den Rückzug der türkischen Truppen aus Afrin und Nordsyrien gemäß dem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages fordert.

Bundeskriminalamt und Bundesjustizministerium könnten, von der Türkei auf die Interpolliste gesetzte, hier lebende kurdische und türkische DemokratInnen informieren und in der EU ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Willkür vereinbaren.
Die Bundesregierung könnte die Freilassung der politischen Gefangenen, allen voran der gewählten Abgeordneten und BürgermeisterInnen fordern, den Export der Rüstungsgüter einstellen und die Hermesbürgschaften aussetzen.

Wir sind Menschen und BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland. Die Zweiklassenbürgerschaft muss endlich aufhören, weil sie verletzt und das Zugehörigkeitsgefühl der betroffenen Menschen mit ihren Familien, Verwandten und FreundInnen abmildert.

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege