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Die emanzipatorischen Potentiale der direkten Demokratie in europäischer Perspektive
vonDemokratie ist mehr als eine Regel und mehr als ein Paket von Institutionen. Vom einzelnen Bürger und von der einzelnen Bürgerin aus gesehen erhebt sie den Anspruch, daß keiner und keine in politischen Umständen leben und von Veränderungen dieser politischen Verhältnisse betroffen werden darf, an deren Mitgestaltung er oder sie nicht zumindest einmal die Chance hatte mitzuwirken.
Vom Kollektiv aus gesehen meint die Demokratie den Anspruch, daß das, was politisch in den Institutionen geschieht, Ausdruck des Willens der Mehrheiten der Bürgerinnen und Bürger ist. Ich sage ausdrücklich der Mehrheiten, weil diese je nach Gegenständen wechseln und somit immer auch auf kleinere und größere Minderheiten zu achten ist; ohne Mehrheitsregel als Eselsleiter geht es nicht, aber nur Esel meinen, das sei die einzige Leiter auf dem Weg zur Demokratie.
Diese Definitionen haben zugegebenermaßen eine utopische Tendenz: das heißt, ihre absolute Verwirklichung ist unmöglich. Konkrete Utopien sind jedoch nicht einfach mit Illusionen gleichzusetzen. Der Sinn einer utopischen Tendenz ist es unter anderem, einen konkreten Orientierungspunkt abzugeben, anhand dessen sich einzelne Prozesse, Realitäten und Projekte ebenso wie ihre mögliche Weiterentwicklung beurteilen lassen.
Alles, was es bisher an Demokratie gibt, ist deshalb mehr oder weniger vollendet. Nicht im Sinne, daß wir eine vollendete Demokratie einmal je schaffen, sondern im Sinne der Erhellung der Frage, wie wir diese Unvollendung abbauen können.
Die direkte Demokratie ist zwar auch sehr unvollendet, meiner Meinung nach aber ein klein wenig weniger als die bloß repräsentative Wahldemokratie: Die direkte Demokratie ermöglicht uns, unsere Souveränität weniger an das Parlament delegieren zu müssen. Die direkte Demokratie, welche die Politik auch zwischen den Wahlen nicht zum Monopol der Gewählten macht, sondern die BürgerInnen auch zwischen Wahlen Projekte und Reformen beurteilen, ja sie solche vorschlagen läßt, ist m.E. in ihrem Anspruch und zu einem wesentlichen Teil auch in ihrer realen Wirklichkeit ein ganz klein wenig weniger unvollendet als die repräsentative Demokratie, die der direkten Demokratie ja auch eigen ist.
Die direkte Demokratie ist übrigens mit der in Deutschland üblichen Bezeichnung "plebiszitär" unzulänglich, mißverständlich, ja falsch umschrieben. Unter "Plebisziten" werden im Unterschied zu Referenden Abstimmungen unter den BürgerInnen bezeichnet, die von der Regierung oder einem Präsidenten, jedenfalls von "oben" angesetzt werden, willkürlich und meist zur Beschaffung einer Legitimität, welche das Parlament nicht mehr zu bieten vermag. Die historischen Beispiele reichen von Napoleon, de Gaulle, Pinochet bis Mitterand. Referenden und Volksinitiativen hingegen sind verfassungsmäßig verankerte BürgerInnen-Rechte, mit denen diese Abstimmungen auch dann erzwingen, wenn diese von den Regierenden oder den ParlamentarierInnen nicht gewünscht sind.
Ich befürworte die direkte Demokratie vor allem auch deswegen, wie sie uns veranlaßt, Politik vor allem als individuellen und kollektiven Lernprozeß zu verstehen und nicht als Macht, anderen ein Verhalten aufzuzwingen, das sie mit ihrer Überzeugung nicht vereinbaren können.
Darin liegt das eigentlich Moderne an der alten direkten Demokratie beziehungsweise an dieser ersten Errungenschaft der radikalen, linken und teilweise konservativen Opposition im schweizerischen und den Westküsten-US-Staaten: Moderne Politik ist nicht klassische Machtpolitik von oben nach unten im Sinne des militärischen Befehlens und Kommandierens. Moderne Politik heißt andere Menschen zu überzeugen versuchen, Meinungen zu vertreten, Einsichten zu vermitteln und Perspektiven zur Diskussion zu stellen.
Medium dieser Auseinandersetzung und somit der Ort der Demokratie ist die Öffentlichkeit. Die Modernität der direkten Demokratie liegt also im Zwang zur öffentlichen und diskursiven Legitimierung der jeweiligen Politiken. Weil BürgerInnen das Recht haben mitzureden, ja eigene Vorschläge zu machen, können sich auch Mächtige diesem Legitimationszwang nicht verschließen.
Die direkte Demokratie erlaubt nun eine weit differenziertere und somit sachlich deutlichere Legitimierung von Politik als die repräsentative Demokratie, in der die Legitimation einzig im Wahlakt geschieht. Dieser Wahlakt hat an vielen Orten einen zunehmend rituellen Charakter angenommen und ist sachlich so überfrachtet - unzählige Politiken stehen an zur Beurteilung -, daß nur ausnahmsweise aus einer bestimmten Wahl auch eine Legitimation zu einer bestimmten Politik in einer bestimmten Sache abgeleitet werden kann.
Zudem ist der repräsentativen Demokratie eigen, daß sich vor allem zwei Großparteien gegenüberstehen, die sich politisch aber eher annähern, weil beide um eine kleine Schicht der Bevölkerung in der politischen Mitte buhlen, die für die Mehrheitsbildung meist entscheidend ist. Die repräsentative oder parlamentarische Demokratie hat also eine Reduktion der eigentlichen Auswahlmöglichkeit zwischen den angebotenen Parteien beziehungsweise den möglichen politischen Angeboten zur Folge.
In einer direkten Demokratie hingegen können vor allem via Volksinitiative die Bürgerinnen und Bürger selber bestimmen, welcher Politikbereich eine neue Legitimation erfordert und diese Legitimationsleistung mittels 100.000 Unterschriften einfordern.
Ein Referendum gestattet diese Legitimationsprobe für parlamentarisch bereits beschlossene Gesetze. Diese Legitimation kann, wie die GSoA eben zeigt, selbst dann eingefordert werden, wenn für entsprechende parlamentarische Beschlüsse kein Referendum vorgesehen ist, nämlich via Volksinitiative, da die Verfassung prinzipiell allen Vorschlägen und Ideen offensteht, welche von einer Mehrheit der Stimmenden befürwortet werden.
Wie der Zugang und die Struktur der für das Funktionieren der direkten Demokratie wie erwähnt zentralen Öffentlichkeit demokratisiert werden kann, wie im Hinblick auf die öffentliche Auseinandersetzung die Spieße wenige ungleich werden können, wie auch finanzschwache Minderheiten sich eher Gehör verschaffen können und wie verhindert werden kann, daß nur das vorhandene Geld darüber entscheidet, ob eine Vorlage vors Volk kommt oder nicht, darüber müssen wir nachdenken, diskutieren und entsprechende Reformen einleiten. Statt also demokratische Rechte abzubauen, gilt es ebenso zu fragen, wie die einzelnen BürgerInnen in die Lage versetzt werden können, ihre Rechte verantwortungsbewußt wahrzunehmen. Denn der Kern der direkten Demokratie ist der und die handelnde BügerIn. Politisches Handeln ist weit mehr als institutionelles Handeln.
Dies ist der Grundgedanke von "eurotopia", der BürgerInnenbewegung zur Demokratisierung Europas. Sie versucht im Hinblick auf eine europäische Verfassung mit BürgerInnenrechten, die über das Wahlrecht hinausgehen und für Minderheiten ebenso wie einzelnen Regionen besondere Rechte verankern, eine neue gesamteuropäisch aktive und präsente Demokratiebewegung aufzu-bauen. Wir kommen um die Anstrengungen und die Konflikte nicht herum, welche die Demokratisierung der supranationalen Entscheidungsebene erfordern und mit sich bringen. Es sei denn, es wäre uns egal, wenn wir die Freiheit zum Handeln in den maßgeblichen Bereichen unserer Existenz verlieren würden.
Friedenspolitisch ist diese transnationale Demokratiebewegung mit ihrem Demokratisierungsverständnis deshalb zentral, weil sie Gewalt auch als Ausdruck der höchsten Form der Fremdbestimmung versteht und mit der Förderung und institutionellen Absicherung der Mitbestimmungsrechte von uns allen der Gewalt die Grundlage entziehen will.
Ebenso wie erst die direkte Demokratie die Einleitung von Entscheidungsprozessen über grundsätzliche Alternativen beispielsweise über die weitere Existenz von Armeen möglich macht, die in rein parlamentarischen Demokratien so gar nie zum Beschluß anstehen. Nicht daß die direkte Demokratie ausreichen würde dafür, aber sie ist ein notwendiges Element, das den sozialen Bewegungen erlaubt, ihre Alternativen und Perspektiven direkt der ganzen BürgerInnenschaft zur Entscheidung vorzulegen.