Die Entwicklung der Totalverweigerungsbewegung in der BRD zwischen Anspruch und Realität

von Christian Herz

Die aktuelle Novellierung des Wehrpflichtgesetzes führt ein weiteres Mal zu einer Verschärfung der Wehrungerechtigkeit. Je größer die Wehrungerechtigkeit, desto weniger Wehrpflichtige müssen tatsächlich ihren Dienst ableisten. Seit der Wiedervereinigung verliert die Wehrpflicht auf diese Weise Jahr für Jahr ihren ehemaligen Schrecken für Wehrpflichtige. Mittlerweile dient nur noch circa jeder Fünfte in der Armee - Tendenz: weiter fallend. Ebenso verhält es sich im Zivildienst und in den anderen Ersatzdiensten, wie z.B. im Katastrophenschutz. Immer weniger Männer erfüllen irgendeinen Dienst im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht. Die Wehrpflicht ist in ihrer Kernsubstanz weitgehend ausgehöhlt, die Mehrheit dient überhaupt nicht mehr. In den nächsten Jahren wird sich diese Entwicklung noch weiter zuspitzen. Die Wehrpflicht scheint somit scheibchenweise abzusterben. Anlass genug also, sich hier im Rahmen einer kritischen Standortbestimmung mit der Totalverweigerungsbewegung auseinanderzusetzen.

Immer noch verweigern konsequente Kriegsdienstverweigerer jeden Militärdienst und etwaige Ersatzdienste total. Jeder Totalverweigerer strebt mit seiner radikalen Verweigerung eine Veränderung der Außen- und Militärpolitik an und betrachtet seine Totalverweigerung als Signal. Inwieweit aber entwickelt die Totalverweigerung heute noch eine politische Wirkung? Haben Totalverweigerer bewegt, was sie bewegen wollten? Hat es sich gelohnt, sich den Schikanen, der Kriminalisierung und den gesellschaftlichen Benachteiligungen auszusetzen, und lohnt sich der Einsatz angesichts stark veränderter politischer Rahmenbedingungen tatsächlich noch immer?

I. Historischer Rückblick
Als 1974 die ersten Totalverweigerer in der BRD begannen, sich politisch zu organisieren und nicht mehr nur vereinzelt aufzutreten, reagierten die Wehrpflichtbehörden in Kooperation mit der Justiz sehr variabel und trugen somit zur Verunsicherung bei: Kein Totalverweigerer wusste, welche Sanktionen ihn konkret für seine Totalverweigerung erwarten würden. Von Einstellungen der Verfahren über Geld- und Bewährungs- bis hin zu Haftstrafen war alles möglich. Außerdem konnte es durchaus passieren, mehrmals einberufen und somit erneut der staatlichen Repression ausgesetzt zu werden. Hinzu kamen zahlreiche Nachteile im Berufs- und Sozialleben und Benachteiligungen bei Versicherungen usw. Trotz aller Kriminalisierung und sozialen Stigmatisierung ließ sich das Phänomen Totalverweigerung jedoch bis heute nicht vollständig unterdrücken. Zwar stieg während all der Jahre die Anzahl der Totalverweigerer nicht kontinuierlich, aber es gab sie immer, und zwar unabhängig von den jeweiligen Strafmaßnahmen. Totalverweiger wurden von Feldjägern gejagt, arrestiert, wurden kriminalisiert, zu Geldstrafen, Bewährungsstrafen und sogar Haftstrafen - in Extremfällen bis zu 18 Monaten ohne Bewährung - und mit Doppelbestrafungen von bis zu 22 Monaten verurteilt. Üblicherweise bewegten sich die Verurteilungen zwischen 6 und 12 Monaten und wurden häufig zur Bewährung ausgesetzt, wobei regionale Unterschiede sich deutlich auf das Strafmaß auswirkten. In den Bundesländern mit sozialdemokratischen Regierungen war das Strafmaß häufig geringer als in den konservativ regierten Bundesländern.

Die oft spektakulären Prozesse gegen Totalverweigerer und deren medienwirksame gewaltfreie Aktionen verschafften den vergleichsweise wenigen Totalverweigerern dennoch eine beträchtliche Aufmerksamkeit. Obwohl in keinem Jahr mehr als 100 Wehrpflichtige totalverweigerten, wurden sie dennoch als politischer Faktor wahrgenommen. Ihr Anliegen wurde diskutiert und nach anfänglicher Ablehnung durch die Friedensbewegung und kritische Gesellschaftsschichten mehr und mehr anerkannt und unterstützt. Obzwar es gemessen an der Gesamtzahl der Wehrpflichtigen nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Totalverweigerern gab, ist es diesen aufgrund des sehr persönlichen und elementaren Einsatzes gelungen, die antimilitaristische Kritik grundsätzlich zu radikalisieren. Dies ist ihr bleibender Verdienst.

Nicht gelungen ist ihnen der Aufbau einer Massenbewegung sowie die Schaffung einer effizienten eigenen Interessenvertretung. Totalverweigerung als politische Tat ist individuell geblieben.

Seit der Wiedervereinigung hat sich die Lage aufgrund opportunistischer Erlasse und Gesetze und deren Umsetzung durch die Wehrbehörden weitgehend entspannt. Erstens berufen die Behörden weniger Wehrpflichtige ein als tatsächlich zur Verfügung ständen, so dass faktisch auch weniger von ihnen totalverweigern können. Zweitens reagieren sie mittlerweile sehr flexibel auf potentielle Totalverweigerer und nehmen diese aus der Einberufungsplanung heraus oder mustern sie einfach aus, um die politische Brisanz abzuschwächen. Drittens nehmen auch manche potentielle Totalverweigerer Wehrausnahmen dankbar an, weil sie sich dadurch anderweitig engagieren können, so dass insgesamt die Zahl der Totalverweigerer abnimmt.

II. Perspektiven
Die Fortexistenz der Wehrpflicht hängt wesentlich von der Wirtschaftslage in der BRD und vom Engagement der Wehrpflichtgegner ab. Angesichts der Schwäche der Friedensbewegung ist eher nicht damit zu rechnen, dass die Wehrpflicht aufgrund von Massenverweigerungen, -protesten und -aktionen abgeschafft werden wird. Vielmehr deutet sich ein Verzicht aus finanziellen Gründen an, der durch die Umstrukturierung der Bundeswehr und damit verbunden durch vermehrte Auslandseinsätze befördert wird.

Extrem unwahrscheinlich ist es nach über drei Jahrzehnten Totalverweigerung, dass sich nun plötzlich Totalverweigerer systematisch zusammenschließen und ihre Interessen deutlicher artikulieren und damit einen stärkeren Abschaffungsdruck bewirken. Spektakuläre Prozesse bzw. Aufsehen erregende Aktionen sind eher selten zu erwarten, so dass auch in der öffentlichen Wahrnehmung der Totalverweigerungsbewegung keine gesteigerte Aufmerksamkeit zukommen wird. Dies gilt umso mehr, wenn die Einberufungszahlen weiterhin abgesenkt werden. All das könnte sich aber schlagartig ändern, sollte 2006 die Regierung wieder von der CDU gestellt werden und sollten sich die konservativen Wehrpflichtbefürworter parteiintern durchsetzen können. Gleichwohl wird auch eine Regierung unter konservativer Führung sich den haushaltspolitischen Wahrheiten stellen müssen und wird den Wehrunwillen der bundesrepublikanischen Wehrpflichtigen nicht ignorieren können.

Am ehesten ist jedoch eine Modifizierung der Wehrpflicht zu erwarten, die zahlreiche Wahlmöglichkeiten anbietet und in deren Folge der Wehrpflichtzwang nur noch geringfügig wahrnehmbar bleibt und die zahlreichen Dienstmöglichkeiten als unabhängige Alternativen angesehen werden. Die Wehrpflicht könnte im Grundsatz erhalten bleiben, und die Wehrpflichtigen hätten die Möglichkeit, sich den für sie passendsten Dienst auszusuchen. Unter diesen Umständen würde es noch schwieriger werden, die radikale Verweigerung aller Kriegs- und Ersatzdienste nachvollziehbar zu begründen. Totalverweigerer müssten sich dann noch häufiger gegen den Vorwurf des Märtyrertums zur Wehr setzen und noch mehr opportunistische Argumentationen in ihren Gerichtsverfahren widerlegen.

An der Richtigkeit radikaler Militärkritik ändert all dies freilich nichts.

Allerdings verlöre die Totalverweigerungsbewegung wiederum an politischer Bedeutung. Dies könnte nur kompensiert werden, sofern es den Totalverweigerern einerseits gelänge, die Argumentation für ihre Totalverweigerung weiter zu präzisieren und deutlicher herauszustellen, und andererseits, sich doch noch als Gleichgesinnte zu organisieren und politisch zu verbünden. Angesichts der Erfahrungen der Vergangenheit scheint diese Option jedoch eher ein Wunschtraum zu sein. Folglich wird die Totalverweigerungsbewegung zwar nicht ihre Notwendigkeit, wohl aber an Bedeutung verlieren.

Fazit
Die Totalverweigerungsbewegung hat wesentlich zu einer Radikalisierung der Militärkritik im allgemeinen und der Wehrpflichtkritik im besonderen beigetragen. Zahlenmäßig klein, verhältnismäßig schlecht organisiert, mit nur minimalen materiellen Ressourcen ausgestattet, ist es ihr dennoch gelungen, sich auf der politischen Ebene einen nachhaltigen Einfluss zu erkämpfen. Dies gelang im Wesentlichen aufgrund der radikalen persönlichen Einsatzbereitschaft und der daraus resultierenden Unterstützung durch Sympathisanten. Auch wenn nunmehr sehr wahrscheinlich ist, dass aufgrund weiterer Truppenreduzierungen und zunehmender Wehrdienstausnahmen noch weniger totalverweigert wird, bleibt es doch bis zur endgültigen Aussetzung bzw. Abschaffung der Wehrpflicht notwendig, alle Kriegsdienste radikal zu verweigern bzw. Totalverweigerer zu unterstützen. Die Totalverweigerung ist summa summarum ein sehr effizientes Mittel im Kampf gegen Militarismus und militärische Konfliktlösungsmethoden.

Buchhinweis

Kein Frieden mit der Wehrpflicht

Warum und auf welche Weise entstand die Wehrpflicht? Ist sie eine demokratische Errungenschaft, das sogenannte "legitime Kind der Demokratie", oder eine undemokratische, ungerechte Belastung des Bürgers? Wie wirkt sich die Wehrpflicht in der Gesellschaft aus, welche Folgen hat sie für die jeweiligen Gesellschaftssysteme? Wie viel muss die Gesellschaft wirklich für die Wehrpflicht bezahlen? Kann die Wehrpflicht Kriege verhindern oder fördert sie diese vielmehr? Worin besteht der Mythos der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland und wie kann ihm begegnet werden? Wie wird die Wehrpflicht ethisch, ideologisch, soziologisch und militärisch begründet? Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen kann die Wehrpflicht abgeschafft werden? Warum ist die Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland schwerer durchsetzbar als in anderen Staaten?

Diese und viele andere Fragen werden vom Autor kritisch untersucht. Zunächst wird im ersten Teil die umfangreiche Entstehungsgeschichte aufgearbeitet. Den zweiten Teil der Publikation bilden die Erkenntnisse zu Anwendung und Folgen der allgemeinen Wehrpflicht in allen deutschen Staatssystemen einschließlich der DDR, durch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich werden.

Christian Herz hat bei seinen umfangreichen Forschungsarbeiten bislang unbekannte Dokumente entdeckt, die wesentlich zu einem neuen Verständnis der Wehrpflicht beitragen und die Wehrpflichtdebatte bereichern, und hat diese in der vorliegenden Monographie publiziert.

Christian Herz: Kein Frieden mit der Wehrpflicht. Entstehungsgeschichte, Auswirkungen und Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht.

Agenda-Verlag, Köln 2003, 527 Seiten, 29,80, ISBN 3-89688-165-5. Rabattierter Bezug über Peace-Company möglich: Peace-company [at] gmx [dot] de o. Tel: 030/44042513.

Die "Streitschrift für die totale Kriegsdienstverweigerung" kann gegen Vorkasse von 5 Euro bezogen werden bei: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln.

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Christian Herz ist Mitarbeiter der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär und Autor des Buches: Kein Frieden mit der Wehrpflicht.