Die kapitalistische Krise und die europäische Rüstungsindustrie

von Wendela de Vries

Unter den Top 20 der Waffenproduzenten sind vier europäische Firmen auf hohen Rängen. Führend ist die britische BAE Systems (früher British Aerospace). Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI sah BAE Systems sogar als den größten globalen Waffenhersteller, aber die US-Wochenzeitschrift Defense News, die andere Kategorien verwendet, setzte BAE Systems an dritte Stelle nach den US-Firmen Boeing und Lockheed Martin. Neben BAE sind die drei anderen europäischen Giganten die italienische Finmeccanica und die früher in den Niederlanden ansässige EADS, beide vorwiegend aeronautische Firmen, und die französische Elektronikfirma Thales. Der Umsatz dieser Giganten ist größer als der manches Entwicklungslandes. Sie entstanden seit der Mitte der 1990er Jahre in einem Prozess von Zusammenschlüssen und Aufkäufen, als internationale (vor allem amerikanische) Konkurrenz die europäischen Rüstungsfirmen dazu zwang, nationale Grenzen zu überwinden, um zu überleben. Zu jener Zeit wurde eine Reihe der Rüstungsunternehmen in Staatsbesitz privatisiert, was den Akkumulationsprozess erleichterte. Doch haben die nationalen Regierungen oft Einfluss in ihrer Rüstungsindustrie bewahrt: Finmeccanica gehört zu 30% dem Staat, Thales ist zu 27% Eigentum Frankreichs und EADS ist teilweise Eigentum des französischen Staates und einer spanischen Holding. Man bemerke, dass BAE System demgegenüber rein privat ist, obwohl die Firma auf große Unterstützung ihrer Regierung zählen kann, einschließlich Exportförderung, Finanzierung von Verkäufen und sogar die Deckung von Korruption auf hoher Ebene.

Diese Involvierung des Staates macht deutlich, dass die Rüstungsindustrie kein normaler Sektor der kapitalistischen Wirtschaft ist. Waffenproduktion unterliegt mehr dem nationalen Interesse als irgendeine andere wirtschaftliche Tätigkeit. Durch eine Ausnahmeregelung bezüglich nationaler Sicherheit ist Waffenhandel von dem 1947 geschlossenen GATT Abkommen und allen späteren Handelsabkommen, einschließlich dem WTO und den EU-Verträgen, ausgenommen. Das gibt den Regierungen die Möglichkeit, Forschung und Produktion zu subventionieren und Handel zu fördern. Die nationalen Rüstungsindustrien werden verwöhnt.

Einschnitte bei den Ausgaben
Jedoch seit der Wirtschaftskrise sind Verteidigungshaushalte nicht mal in den USA mehr heilig. Alleine die Tatsache, dass der US Senat den Haushalt überhaupt beschnitten hat – mit ein wenig mehr als 1 % Abzug von den 678 Milliarden, die Obama verlangt hat – beunruhigt die Rüstungsindustrie. In Europa machen die Ausgaben Großbritanniens und Frankreichs alleine rund 40% der europäischen Ausgaben für Verteidigung aus, und 50% des Haushalts für Anschaffungen. Der britische Rüstungsetat sieht sich ernstlichen Einschnitten von 8% über den letzten vier Jahren gegenüber. Dies schließt die Kündigung der Bestellung von Harrier Flugzeugen für Flugzeugträger und die Version des Joint Strike Fighters, die senkrecht landen kann, ein. Großbritannien wird, wie spöttisch gesagt wird, das einzige Land sein mit einem Flugzeugträger ohne Flugzeuge, die mit ihm transportiert werden können. Selbst die Ersetzung von fünf Atom-U-Booten wird verschoben. Andere Bestellungen, wie die für Chinook Hubschrauber, wurden zahlenmäßig verringert. Sowohl das Weiße Haus wie die Rüstungsindustrie im Vereinigten Königreich haben ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht. Man wird erst sehen müssen, ob alle geplanten Einschnitte tatsächlich so vorgenommen werden.

In Frankreich hat sich nur das Wachstum des Verteidigungshaushalts verlangsamt. Bislang ist die Rüstungsindustrie kaum betroffen; die meisten Kürzungen entstehen durch den Verzicht auf Personal. Programme wie ein Update für die Mirage Flugzeuge wurden eher verschoben als aufgehoben. Auf der anderen Seite macht sich die französische Rüstungsindustrie darüber sorgen, dass sie ihre Position auf dem Exportmarkt verlieren könnte. Kein Rafael Kampfjet-Vertrag wurde im letzten Jahr abgeschlossen und die französische Regierung musste einspringen, um die Produktion am Laufen zu halten. Ein weiterer Vorteil – für die Industrie – davon, ein geschütztes nationales Interesse zu sein. Doch wenn die Schuldenprobleme andauern, dann erwarten Analysten mehr Einschnitte bei den Verteidigungsausgaben, besonders nach den Wahlen 2012.

Das Bild in den anderen europäischen Ländern ist gemischt. Spanien beschneidet seinen Verteidigungshaushalt 2011 um 3,5 % reale Kosten im Vergleich zu 2010, besonders durch Einsparungen bei Personalausgaben. In Schweden ist es noch nicht klar, ob und um wie viel die neue Mitte-Rechts-Regierung bei den Verteidigungsausgaben sparen will. Die neue niederländische Regierung beschneidet den Rüstungsetat um 600 Mio. Euro, aber bewahrt den Lieblingsplan der Luftwaffe, Joint Strike Fighters zu kaufen, und begünstigt die Rüstungsindustrie, die von Teilhabe des Staates und Verrechnungen profitiert.

In Deutschland ist es noch unklar, wie die angekündigten Einsparungen bei der Verteidigung bezahlt werden sollen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Abschaffung der Wehrpflicht alleine die Kürzungen abdecken kann. Andere Streichungen werden ebenfalls überlegt, die vermutlich die Gewinne der EADS beeinträchtigen werden. Auf der anderen Seite ist Deutschland zum drittgrößten Waffenexporteur aufgestiegen, indem es praktisch keine Exportbeschränkungen anwendet. Italien hält, trotz früherer Ankündungen von Kürzungen im Verteidigungshaushalt von bis zu 10%, seinen Etat 2011 stabil. Laut eines Managers von Finmeccanica werden die Ausgaben bei der Beschaffung sogar ansteigen, obwohl hier der Wunsch der Vater des Gedankens sein mag. Italien hat vor kurzem seine Bestellung von Eurofighters um 25 Stück gekürzt und wird sechs statt zehn FREMM Fregatten kaufen.

Demgegenüber erhöht Norwegen seine Verteidigungsausgaben um 3,5 % dank seiner steigenden Einnahmen vom Erdöl. Und es gibt auch noch Wachstum in Osteuropa, besonders in Polen, dessen Rüstungshaushalt um 7,1 % gegenüber 2010 wachsen wird, wovon das meiste für Modernisierungen verwendet wird.

Es ist nicht immer möglich, Beschaffungen zu verschieben oder zu kündigen. Was wird zum Beispiel aus den vier FREMM Fregatten, deren Bestellung von der italienischen Marine rückgängig gemacht wurde? Entweder sie werden gar nicht gebaut – mit Konsequenzen für die Beschäftigung auf den italienischen Werften – oder sie werden gebaut und dann sofort weiterverkauft. Das Problem ist jedoch: Wer will sie kaufen? Aufsteigende Länder wie Brasilien mögen das Geld dafür haben, sind sich aber ihrer starken Position in diesem Käufer-Paradies mit einer nur kleinen Gruppe möglicher Kunden sehr bewusst. Sie entscheiden sich für das günstigste Angebot, was unter Umständen nicht die ein wenig billigere gebrauchte Fregatte ist, sondern die Fregatte, die mit Transfer von Nutzung und Technologie kommt – was heißt, eine neugebaute Fregatte.

Reaktionen auf die Kürzungen
Die Rüstungsindustrie bereitet sich auf magere Jahre vor, indem sie interne Kosten einspart, reorganisiert und restrukturiert. Für die größten bedeutet dies Einschnitte in der Bürokratie, Steigerung der Produktionseffizienz und Weiterreichen der Folgen der Krise an Zulieferer. Es bedeutet auch, sich auf verschiedene Kundenwünsche einzulassen. Viele Jahre bevorzugten Kunden nach Wunsch angefertigte Produkte und schnelle Herstellung. Dies gilt besonders für Waffen, die direkte Verwendung im Kampf an der Front finden, wie die Bunker-sprengenden Bomben, die in Rekordzeit entwickelt wurden, als die USA unterirdische irakische Kommandozentren angreifen wollten. Die Kriege in Afghanistan und Irak haben die Zeit zwischen Design und Produktion verkürzt und die direkte Involvierung des Militärs beim Design verstärkt, was aber teuer war. Kunden nach der Krise werden jetzt wieder preisbewusster.

Die Rüstungsindustrie hängt nicht allein von neuen Bestellungen ab. Wartung und Upgrading bestehender System kann beinahe genauso profitabel sein, und die Nachfrage wird in dem Maße steigen, wie bestehendes Material länger benutzt wird, um die Lücken zu schließen, die durch die Verschiebung von Neuanschaffungen entstehen. Und die europäische Industrie ist auch nicht alleine von Ausgaben in Europa abhängig. Besonders die Großen Vier – BAE, Thales, EADS und Finmeccanica – sind Global Players mit Produktionsstätten in aller Welt. Der Fusionsprozess in den letzten zehn Jahren hat nicht nur die Produktionskapazitäten erhöht, sondern auch Zugang zu neuen Märkten erkauft, oft durch Partnerschaft mit lokalen Industrien, die später zu vollem Eigentum wurden. Besonders Thales und BAE haben starke Positionen auf dem Markt in den USA, die die Verluste an Bestellungen in Europa ausgleichen könnten, besonders wenn die USA ihre Kriege fortsetzen, wie sie es unglücklicherweise wahrscheinlich tun werden.

Und es gibt natürlich den Export an Entwicklungsländer. Aufgrund hoher Rohstoffpreise (besonders Öl) können Länder wie Brasilien, Venezuela und Algerien viel Geld für Waffen ausgeben. Da die Rohstoffe nicht so stark von der Wirtschaftskrise betroffen sind, wird sich dieser Trend fortsetzen. Andere Länder wie z.B. Indien versuchen, entsprechend ihres neuen Status als aufstrebende Macht aufzurüsten. Die besorgten Nachbarn dieser Länder reagieren, indem sie ebenfalls mehr Waffen kaufen. Dies führt zu regionalen Rüstungswettläufen im Süden und Profiten im Westen.

Knappe Finanzierungsmittel mögen Probleme für große Waffen-Deals bringen. Der internationale Handel im Allgemeinen wurde von der Wirtschaftskrise hart getroffen, da die Banken mehr zögern, große und riskante Projekte zu finanzieren. Aus diesem Grund haben einige Regierungen ihre Exportkredit-Budgets ausgeweitet. Die europäischen Exportkredite bezahlen ungefähr ein Drittel des Rüstungsexports.

Die Erleichterungen im EU Rüstungsexport
Auf dem internationalen Waffenmarkt begegnet Europa starker Konkurrenz aus den USA, nicht nur außerhalb Europas, sondern auch auf dem europäischen Markt. Mit ihrem gewaltigen Markt zu Hause haben US-Firmen einen kostensparenden Vorteil gegenüber den Europäern. Gemeinsame Produktionsprogramme wie der NH90-Hubschrauber wurden entwickelt, um dem entgegenzuwirken. Doch die meisten dieser Programme sind ineffektiv und überschreiten in extremer Weise ihren Zeitplan und ihr Budget, weil die Arbeit mehr auf der Basis politischer als ökonomischer Kriterien aufgeteilt wird. Der Name NH90 illustriert dies: Er wurde so genannt, weil es der Hubschrauber der 1990er werden sollte, aber die Auslieferung begann 2006.

Eine standardisiertere europäische Beschaffungspolitik im Kontext der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kämpft ebenfalls gegen zu viele nationale Interessen. Die EU gründete eine Europäische Verteidigungsagentur (EDA), um die europäische Verteidigungsfähigkeit zu entwickeln. Dies führte zu einer Minimierung der Rolle der EU-Sicherheitsausnahmeregelung bei der Waffenbeschaffung (Artikel 296 des EU-Vertrages), aber das EDA-Instrument eines öffentlichen Ausschreibungssystems für Rüstungsproduktion – eine Website – ist bislang nicht sehr erfolgreich gewesen.

Die wahrscheinlich erfolgreichste Maßnahme der EU bei der Unterstützung der Rüstungsindustrie war, die innere Sicherheit in einer EU-Budgetlinie unterzubringen. Auf diese Weise ist es möglich, Forschungsprogramme der Rüstungsindustrie mit EU-Mitteln zu fördern und dabei politischen Empfindsamkeiten aus dem Weg zu gehen, indem man schlicht Rüstungsproduktion zu “Sicherheitsproduktion” erklärt.

Fortschritte bei der Verteidigungszusammenarbeit in Europa wurde nur dann gemacht, wenn nur einige wenige Länder zusammenarbeiteten. Zum Beispiel die französisch-englische Initiative, die 2006 in St. Malo gestartet wurde, als eine hochrangige Arbeitsgruppe geschaffen wurde, die aus den beiden stellvertretenden Verteidigungsministern und zwei Top-Managern der Industrie besteht. Am 2. November dieses Jahres haben sich die beiden Länder erneut in Portmouth getroffen. Cameron und Sarkozy unterzeichneten einen Verteidigungsvertrag über mehr Kooperation. Unter anderem wird der Vertrag dabei helfen, das britische Problem der Flugzeugträger zu lösen. Der Vertrag steht; er kann nicht durch nachfolgende Regierungen aufgelöst werden, und er wird durch die französische Nationalversammlung und wahrscheinlich durch britische Parlamentarier ratifiziert werden. Nach einem Regierungsvertreter ist “diese feste Verankerung wichtig, besonders wenn man den Rüstungsindustrien der Länder Vertrauen in die engere Zusammenarbeit geben will”. Dies ist wesentlich, denn die größte Bedrohung für die europäische Rüstungsindustrie ist nicht die Wirtschaftskrise. Es ist die amerikanische und vielleicht in Zukunft auch die chinesische Rüstungsindustrie. Und natürlich ein andauernden Frieden.

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Wendela de Vries ist Politikwissenschaftlerin und Mitbegründerin der niederländischen Campagne tegen Wapenhandel (www.stopwapenhandel.org).