Die Revolution der Kerzen

von Bernd Rieche

Wer würde sich nicht häufiger folgende Schlagzeilen wünschen: „Die Massendemonstrationen verlaufen gewaltfrei. Die Opposition und Regierung sitzen nun an einem Tisch. Sie bereiten die ersten freien Wahlen vor und einigen sich auf eine Übergangsregierung. Trotz in Bereitschaft stehender Armee und massiver Polizeipräsenz verliefen die Proteste friedlich; schwere Verletzungen oder  Todesfälle sind nicht bekannt geworden.“

Doch, manchmal gibt es solche Schlagzeilen, z.B. in Berlin und Leipzig anno 1989.

Freilich herrscht seitdem nicht „Friede auf Erden“. Aber ein Schritt dahin ist getan. Ein Unrechtsregime wurde überwunden und dies gewalt-frei. Die Menschen sind mit Kerzen auf die Straße gegangen. Von zehntausenden Menschen auf der Straße hob kein einziger einen Stein auf, um ihn zu  werfen.

Die Revolution der Kerzen war erfolgreich. Dass dies ohne Blutvergießen geschah, ist ein Wunder und Beispiel der Kraft der Gewaltfreiheit. Viele und vieles haben dazu beigetragen, dass dies möglich war: der sowjetische Politikwechsel unter Michail Gorbatschow (Perestroika und Glasnost), das Ende der kommunistischen Systeme in Nachbarstaaten (insbesondere in Ungarn und der Tschechoslowakei), der Bankrott des Wirtschaftssystems in der DDR und anderen Ostblockstaaten, Erosionsprozesse bei der Legitimation des politischen Systems, die vorangegangene Herausbildung von oppositioneller Gruppen und anderes mehr.  Einer der Gründe und Faktoren dafür, dass die Mauer gewaltfrei überwunden wurde, war die Arbeit der Friedensbewegung in der DDR.

Waffendienstverweigerer in der DDR
Eine Wurzel der ostdeutschen Friedensbewegung sind die Waffendienstverweigerer, die meist Bausoldaten waren.

Als 1961 die allgemeine Wehrpflicht nach dem Mauerbau auch in der DDR eingeführt wurde, stand die Staatsführung nach der ersten Einberufung 1962 vor dem Problem, dass einige den Wehrdienst, vor allem aus religiösen Gründen, verweigerten. Obwohl die Zahl mit einigen wenigen hundert je Jahrgang, etwa 0,2% aller gemusterten jungen Männer, recht klein war, gelang es der NVA nicht, mit stundenlangen Vernehmungen vor den Musterungskommissionen, Gerichtsprozessen, Inhaftierungen und Drangsalierungen wie Ausbildungs- und Studienplatzverlusten etc. das Problem zu lösen. Etwa 1550 junge Männer der ersten Jahrgänge blieben, oft auf sich allein gestellt, ihrer Überzeugung treu und standhaft. So erzwangen sie letztlich vom selbsternannten „Friedensstaat“ DDR, der sich in dieser Frage keine weitere Blöße gegenüber dem Westen geben konnte oder wollte, eine Lösung. Es wurde die im sozialistischen Lager einmaligen Regelung für Kriegsdienstverweigerer, die „Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten“ eingeführt. Diese ermöglichte Wehrpflichtigen, „die aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen“, einen Wehrdienst in der NVA ohne Waffe abzuleisten. Im Laufe der Geschichte der Bausoldaten wurden sie in unterschiedlicher Form für militärische Bauarbeiten oder zivile Arbeiten in Betrieben eingesetzt. Sie waren in Kasernen stationiert, trugen Uniform und waren in die militärischen Strukturen eingebunden. Aus diesen einigen hundert je Jahrgang am Anfang wurden in den 80er Jahren einige tausend. Den Mut zur totalen Verweigerung und die damit verbundene Inkaufnahme von Inhaftierung brachten nur sehr wenige auf.

Eine Entscheidung für einen Dienst bei den Bausoldaten bedeutete in der Regel bis in die 1980er Jahre hinein zahlreiche Nachteile in Beruf und Ausbildung, in der Regel war ein Studium, abgesehen von Theologie, dann nicht möglich.

Die Friedensbewegung entsteht
Spätestens mit der Änderung des DDR-Wehrdienstgesetzes, wonach im Mobilmachungsfall nun auch Frauen eingezogen werden konnten, wurde das bis dahin vor allem von persönlich betroffenen Männern dominierte Thema ein Geschlechter übergreifendes. In Berlin gründete sich 1982 die Gruppe „Frauen für den Frieden“, der sich bald mehrere hundert Frauen anschlossen.

Da die meisten Aktiven in der evangelischen Kirche beheimatet waren, provozierten sie damit auch die innerkirchliche Auseinandersetzung um die Frage von Kriegsdienstsverweigerung und später um militärische Abschreckung und Abrüstung.

Das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR war immer spannungsvoll und ambivalent. Die Kirchen wurden vom Staat geduldet, sollten sich aber auf (eng gefasste) kultische Aufgaben beschränken. Die Arbeit der Kirche, insbesondere der evangelischen Kirche, hatte immer auch politische Bedeutung, über die es allerdings permanente und teilweise heftige innerkirchliche Auseinandersetzungen gab. Um sich ihre relative Handlungsfreiheit zu bewahren, begaben sich die Kirchenleitungen auf eine Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerspruch gegenüber dem SED-Regime. Dieses Programm fand seinen Ausdruck in der einprägsamen und zugleich vieldeutigen Formel von der „Kirche im Sozialismus“, die ein Abschied von der Fundamentalopposition der 50er Jahre war.

Die Frage der Kriegsdienstverweigerung belebte die Diskussion in den Kirchen, vor allem in den jungen Gemeinden. Ehemalige Bausoldaten blieben an Fragen des Friedensdienstes dran, sie riefen die Bevölkerung auf, sich der Militarisierung der Gesellschaft zu widersetzen (u.a. Prenzlauer Bausoldaten 1966; Berliner Appell 1982). Sie waren Initiatoren des ersten Konzeptes „Erziehung zum Frieden“ (Dresden 1969/70), das eine Erziehung frei von Feindbildern, politischen Vorurteilen, Hass und militärischem Denken forderte. Bausoldaten versuchten bereits 1967, eigene Kandidaten für die Volkskammerwahl aufzustellen und entlarvten damit das sozialistische Wahlsystem als Farce. Schon in den siebziger Jahren bildeten die ehemaligen Bausoldaten einen der Kristallisationspunkte der unabhängigen Friedensbewegung (Friedensseminar Königswalde). Sie gehörten zu denen, die sich seit 1981 für einen Sozialen Friedensdienst einsetzten und das Gesetz über den Zivildienst 1990 entscheidend vorantrieben. Sie förderten das Friedenszeugnis der Kirchen in den Gemeinden und auf kirchenpolitischer Ebene. Sie waren in der Beratung und Hilfe für die Wehrdienstverweigerer engagiert. Viele der Bürgerrechtler der achtziger Jahre sind Bausoldaten gewesen. Sie waren es auch, die dann in der Übergangszeit Ministerposten besetzten und zum Teil heute noch im Bundestag sind.

Die achtziger Jahre
Ehemalige Bausoldaten und Totalverweigerer waren in der kirchlichen Friedensbewegung treibend. Diese setzte mit der ersten Friedensdekade 1980 ein weithin sichtbares Zeichen: zehn Tage im November jeden Jahres, in denen auf vielfältigste Weise zu Friedensthemen gearbeitet wurde. Unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ animierten und motivierten diese Veranstaltungen viele junge Menschen zur kritischen Auseinandersetzung mit der militärischen Konfrontation zwischen Ost- und Westeuropa und unterstützten sie bei ihrer Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern. In den westlichen Landeskirchen wurde die gleiche Idee mit den "Friedenswochen" aufgegriffen. Die Friedensdekade wird bis heute weitergeführt.

Anfang der 1980er Jahre entstanden auch die ersten montäglichen Friedensgebete, die in verschieden Orten der DDR aufgegriffen wurden. Oft schienen diese den veranstaltenden Friedenskreisen und Gemeinden mühsam, wenn sich im Normalfall nur sehr wenige versammelten. Trotzdem waren sie der Keim der Montagsdemonstration der gewaltfreien Revolution.

Die oben bereits angesprochene Rolle der evangelischen Kirchen – ihre Eigenständigkeit, ein gewisser Freiraum, ihre institutionelle wie finanzielle Unabhängigkeit - war eine wesentliche Voraussetzungen für den gewaltfreien Umbruch von 1989.

  • Die kirchliche Infrastruktur ermöglichte oppositionellen Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen, unter dem „Dach der Kirche“ zu wirken, sich zu strukturieren und zu vernetzen;
  • Kirchen boten Raum für unabhängige, oft staatskritische Kultur- und Bildungsveranstaltungen;
  • Kirche war Anwalt und Helfer für Opfer staatlicher Gewalt. Leitende Geistliche setzten sich bei staatlichen Behörden für Oppositionelle ein, Ausreisewillige wurden betreut, politische Häftlinge und ihre Angehörigen unterstützt, der Freikauf von Häftlingen nach Westdeutschland wurde vermittelt und vieles mehr;
  • Friedensdekade, konziliarer Prozess, Kirchentage und andere kirchliche Veranstaltungen boten Anregungen und Raum, sich mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen und theologischen Herausforderungen auseinanderzusetzen und neue Visionen zu entwickeln, so auch die Auseinandersetzung mit der Militarisierung der DDR, wie z.B. dem Wehrkundeunterricht an den Schulen, oder die Erarbeitung friedenspädagogischer Materialien.
  • Kirche war auch die einzige Institution, in der Demokratie gelebt wurde und eingeübt werden konnte. Sicher einer der Gründe, warum sehr häufig Pastoren die Runden Tische moderierten und viele kirchliche Mitarbeiter in die Politik gingen – quer durch alle Parteien.

Letztlich war es eine kleine Minderheit, darunter viele Bausoldaten, die mit den aus der kirchlichen Friedensbewegung hervorgegangenen öffentlichen Friedensgebeten den Geist der Freiheit und zugleich der Gewaltfreiheit wachriefen. Sie waren Keimzellen und Auftakt der immer größeren Montagsdemonstrationen. Das weitere ist bekannt: Bei einer solchen Montagsdemonstration, am 9. Oktober 1989 in Leipzig, war die Stimmung besonders angespannt, eine gewaltsame Auflösung der Demonstration stand zu befürchten. In dieser entscheidenden Situation initiierten Kirchenvertreter rasch einen von mehreren stadtbekannten Persönlichkeiten unterzeichneten Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Seine Verlesung in der ganzen Stadt gilt als wesentlicher Faktor, dass es nicht zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, ja, dass letztlich im ganzen Land eine Eskalation verhindert und das SED-Regime gewaltfrei überwunden wurde. Ein Erfolg auch der oppositionellen Friedensbewegung in der DDR.

Literatur
Uwe Koch, Stephan Eschler: Zähne hoch, Kopf zusammenbeißen. Dokumente zur Wehrdienstverweigerung in der DDR 1962-1990, Scheunen-Verlag Kückenshagen 1994.

Bausoldatenkongress  3.-5.9.2004 Potsdam: Zivilcourage und Kompromiss. Bausoldaten in der DDR 1964-1990. Eine Dokumentation. Berlin 2005.

Bernd Rieche, Markus A. Weingardt: Gewaltfreier Widerstand: Die evangelische Kirche in der DDR. In: AGDF (Hrsg.): Gewaltfrei streiten für einen gerechten Frieden. Publik-Forum. Oberursel, 2008. S. 100-109

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Bernd Rieche ist Referent der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden in Bonn und dort u.a. für die Themen zivile, gewaltfreie Konfliktbearbeitung und Friedensbildung zuständig. Bis 2003 war er Geschäftsführer des Friedenskreises Halle e.V.