Die Schraube der Gewalt in Ex-Jugo­slawien

von Christine Schweitzer
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Man erinnere sich: Alle Kriegsparteien in Bosnien sind sich in einem Punkt einig, nämlich den über den Winter gültigen Waffenstillstand nicht zu verlängern. Die Regierungstruppen beginnen Ende April, nach­dem keine Wiederaufnahme der Versorgung Sarajevos in Sicht kommt, eine große Offensive gegen die serbischen Truppen rund um die Haupt­stadt. Schon vorher bombardiert die Armee der bosnischen Serben wieder die Städte und setzt Anfang Mai mit dem Granatenangriff auf den Korso von Tuzla, dem 79 Menschen zum Opfer fallen, einen neuen ent­setzlichen Höhepunkt des Terrorkrieges gegen ZivilistInnen.

Schleichende Militärintervention

Im zweiten Golfkrieg war alles klar: Da gab es ein Ultimatum, und Stunden nach dessen Ende flogen die alliierten Flug­zeuge Luftangriffe auf den Irak. In Bos­nien entwickelte sich das militärische Engagement hingegen häppchenweise: Der Präsenz zur Sicherung der humani­tären Versorgung in Bosnien und der militärischen Kontrolle des Embargos auf Adria und Donau folgen ab März 93 das durch NATO-Militärmaschinen überwachte Flugverbot und ab Juni 1993 die Einrichtung der Schutzzonen. Sie dürfen von UN oder NATO militä­risch verteidigt werden (Sicherheitsrat-Resolution 836). Ab Herbst 1993 fliegt die NATO immer wieder einmal Luft­angriffe gegen serbische Stellungen, da­von abgesehen wurden die in dieser und anderen Resolutionen eröffneten Mög­lichkeiten allerdings nicht ausgenutzt.

Ein solcher Luftangriff der NATO auf serbische Stellungen bei Pale veranlas­sen letztere dann Anfang Mai dieses Jahres dazu, 350 UN- Soldaten als Gei­seln zu nehmen. Während die UNO sie auf dem Verhandlungsweg nach und nach frei bekommt, wird beschlossen, eine schnelle Eingreiftruppe durch die NATO aufstellen zu lassen, die eine an­gepeilte Umgruppierung (man lese: Zentralisierung auf weniger verwund­bare Stellungen) der UNO-Truppen ab­sichern soll. Kampferfahrene Eliteein­heiten werden entsandt, um die Blau­helme zu schützen, damit diese die hu­manitäre Hilfe schützen können...

Die Bundesrepublik, die schon lange auf eine neue Gelegenheit wartete, ihre "gewachsene Verantwortung" durch eine Beteiligung an militärischen Abenteuern zu untermauern und sich einen Platz im Weltsicherheitsrat zu verdienen, eilt diensteifrig herbei und beteiligt sich durch acht Tornados und eine Sanitätseinheit. Doch noch wäh­rend die "Krisenreaktionskräfte" aufge­baut werden, dreht sich die Schraube der Gewalt weiter. Die Kämpfe in Bosnien intensivieren sich; Karadzic reagiert mit Angriffen auf die bosnischen Enklaven. Srebrenica wird innerhalb weniger Tage unter den Augen der hilflosen UNO er­obert und die muslimische Bevölkerung vertrieben. Während es noch unklar ist, ob auch Zepa schon erobert ist oder nicht, beschließt die Bosnienkonferenz in London, das militärische Engagement erneut auszuweiten. Gorazde und Sara­jevo sollen durch massive gezielte Luft­angriffe verteidigt werden; die Entsen­dung von Bodentruppen wird hingegen weiterhin abgelehnt (1).

Wie geht es weiter?

Auch auf die Gefahr hin, daß sich bei Erscheinen dieser Ausgabe des "Friedensforums" schon wieder alles geändert hat, soll doch riskiert werden, einige Tendenzen festzuhalten:

- Bleibt die UNPROFOR? Derzeit sieht es so aus, als ob sich diejenigen durchgesetzt hätten, die sich für einen (vorläufigen) Verbleib der UNO-Truppen aussprechen. Hauptgrund dürfte das nationale Prestige der hauptbeteiligten Staaten sein (Frankreich, England, Niederlande und natürlich die USA). Außerdem darf in der ganzen Diskussion nicht übersehen werden, daß es in Ex-Ju­goslawien auch um eine neue inter­nationale Rollenverteilung und um eine Neulegitimation der NATO (und in Deutschland der Bundeswehr na­türlich) geht. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sollen die be­stehenden Armeen und Militärbünd­nisse umgerüstet werden, damit sie zum "weltweiten Schutz der eigenen wirtschaftlichen Interessen" in Zu­kunft zur Verfügung stehen. (Letzteres ist ein Zitat aus den vertei­digungspolitischen Richtlinien des deutschen Ver- teidigungsministeri­ums.) Die sog. "humanitären Inter­ventionen" der letzten Zeit werden genutzt und wurden wohl auch von vornherein beschlossen, um die öf­fentliche Zustimmung zu militäri­schen Interventionen zu gewinnen und die notwendigen technologischen und organisatorischen Anpassungen durchführen zu können. Ein Scheitern des UNPROFOR-Einsatzes wäre für die beteiligten Regierungen unter diesem Gesichtspunkt höchst uner­wünscht.

- Wird das Waffenembargo gegen Bosnien aufgehoben? Die Konferenz der islamischen Staaten hat sich im Juli entschieden, das Embargo gegen Bosnien nicht länger zu beachten. In den USA kämpft Präsident Clinton gegen eine Mehrheit im Kongreß, die das Embargo aufheben will. Inoffizi­ell sind die USA schon länger am Schmuggel von Waffen nach Bosnien beteiligt. Die europäischen Regierun­gen und Russland sind hingegen strikt gegen eine Aufhebung des Embargos. Angesichts dieser widersprüchlichen Tendenzen kann vermutet werden, daß das Embargo nie offiziell aufge­hoben wird (wie auch das gegen Kroatien eigentlich ja noch gilt), aber de facto sein Bruch hingenommen und gefördert wird.

- Wie wird sich Serbien (Republik Ju­goslawien) weiter verhalten? Kurz vor den Entwicklungen im Mai waren Gespräche zwischen den USA und Milosevic beinahe zum Abschluß ge­kommen, die eine Anerkennung Bos­niens und Kroatiens durch die Repu­blik Jugoslawien zum Ziel hatten. Es ging nur noch darum, ob als Beloh­nung das Embargo ganz aufgehoben oder nur ausgesetzt werden sollte. Diese Verhandlungen sind zum Stoc­ken gekommen. Es wird viel davon abhängen, ob es gelingt, den Bruch zwischen Belgrad und Pale zu be­wahren. Einerseits wäre eine Locke­rung oder Aufhebung des Embargos gegen Serbien für die serbische Re­gierung ein sehr großer Anreiz, auf der anderen Seite stehen jedoch die zahlenmäßig starken serbischen Na­tionalisten, die eine Niederlage von Karadjic nicht bereit wären hinzu­nehmen. Die Frage ist, ob Milosevic stark genug ist, sich gegen ihren Druck zu behaupten.

- Wird es zu einer massiven Militärin­tervention in Bosnien kommen? Was NATO und UN derzeit betreiben, ist klassische Abschreckungspolitik. In der Vergangenheit war ähnliches in Bosnien schon mehrfach erfolgreich: die bosnischen Serben steckten zu­rück, sobald sie auf entschiedenen Widerstand durch den Westen stießen (z.B. beim Ultimatum um Sarajevo). Aber was wird geschehen, wenn die Abschreckung diesmal versagt, ent­weder weil die serbische Führung an der Entschlossenheit der Alliierten zweifelt oder eine Eskalation bewusst in Kauf nimmt? Dazu schweigen der­zeit alle Verantwortliche, wahr­scheinlich weil sie es selbst nicht wissen.

Mit zweierlei Maß?

Auch in Kroatien ist der Friede noch weit entfernt. Zunächst kündigt Tudj­man an, das Mandat der UNPROFOR in Kroatien nicht zu verlängern. Dann, im letzten Moment, kommt doch noch eine Einigung zustande: Unter dem Namen "UNCRO" dürfen die Blauhelme in stark verringerter Zahl und mit der Hauptaufgabe, die Außengrenzen Kroa­tiens zu bewachen, doch bleiben. Ein von der sog. "Mini-Kontaktgruppe" ausgearbeiteter Friedensplan, der weit­gehende Autonomie für die serbischen Gebiete Kroatiens vorsieht, wird von den Krajina-Serben, die die Unabhän­gigkeit von Kroaten wollen, pauschal abgelehnt und von Zagreb auch nicht gerade begrüßt. Anfang Mai holt sich Kroatien dann in einem militärischen Handstreich Westslawonien zurück und verursachte damit eine neue Flücht­lingswelle von über 15.000 Menschen, diesmal von serbischen ZivilistInnen. Jetzt spricht alles dafür, daß auch die anderen Teile der Krajina noch in die­sem Sommer militärisch zurückerobert werden sollen. Tudjman setzte bereits den 1. Oktober als letztes Datum, eine friedliche Lösung der Krajina-Frage zu erzielen. Diplomatische Interventionen des Westens brachten ihn zwar dazu, vom Säbelrasseln offiziell Abstand zu nehmen. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob Kroatien wirklich mit größeren Sanktio­nen im Falle eines Angriffs rechnen muß. Das offene militärische Bündnis, das Kroatien dieser Tage mit den bosni­schen Regierungstruppen einging und u.a. wohl einen gemeinsamen Gegenan­griff gegen die serbischen Truppen im Raum Bihac zum Zweck hat, ist zumin­dest kommentarlos hingenommen wor­den, obwohl er kaum unter Aussparung der Krajina sich vollziehen könnte.

 

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.