Die Wehrpflicht ist rechtswidrig - Arbeitsdienste auch!

von Christian Herz

Zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte wurde die Wehrpflicht durch ein Verwaltungsgericht per Beschluss für rechtswidrig erklärt und die Einberufung eines Wehrpflichtigen mittels einer einstweiligen Verfügung aufgehoben. Das Verwaltungsgericht Köln beurteilte kürzlich die Einberufung eines Wehrpflichtigen deshalb als rechtswidrig, weil entgegen der Forderung des Bundesverfassungsgerichtes die Wehrgerechtigkeit nicht erfüllt sei.

Mittlerweile weiß fast jeder, dass die Heranziehung von Wehrpflichtigen mehr mit Wahrscheinlichkeitsrechnung als mit Gerechtigkeit zu tun hat. Dieser Zustand hat sich nochmals durch die neuen Ausnahmen für bestimmte Wehrpflichtige verschärft. Das Kölner Verwaltungsgericht bemängelte deswegen die fehlende Wehrgerechtigkeit. Wenn nämlich per Erlass so umfassende Ausnahmen gewährt werden, dann ist die Wehrpflicht noch weniger "allgemein" als bisher und verstößt damit grundsätzlich gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Diese Begründung ist an sich schon erstaunlich genug. Die eigentliche Sensation besteht aber in der Beurteilung von Erlassregelungen des Bundesverteidigungsministers: Normalerweise beschäftigten sich Verwaltungsgerichte nur mit Gesetzen - Erlasse, die Gesetze beeinflussen, werden üblicherweise nicht berücksichtigt. Das Kölner Verwaltungsgericht wich nun von dieser jahrzehntelangen Praxis ab und schrieb den Wehrpflichtverwaltern eine höchst offizielle Verwarnung ins Stammbuch. Sicherlich wird das Verteidigungsministerium wieder neue Zahlen vorlegen, die Wehrgerechtigkeit suggerieren, oder gegebenenfalls Gesetze schaffen, die den Eindruck hinterlassen könnten, es gehe gerecht zu. Und anschließend wird sich irgendeine höhere Gerichtsinstanz finden, die die Rechtsordnung im Sinne der Wehrpflichtbefürworter wieder herstellt. Dennoch, die jahrzehntelang bestehende juristische Einheitsfront gegen Wehrpflichtgegner ist offensichtlich brüchig geworden.

Sieht man einmal von den juristischen Problemen ab und betrachtet die Wehrpflichtgeschichte insgesamt, lässt sich feststellen, dass es zu keiner Zeit Wehrgerechtigkeit gegeben hat. Vielmehr gehört es gerade zwingend zum Wehrpflichtsystem dazu, dass sich Privilegierte entziehen können. Allerdings war es noch nie so leicht, sich der Wehrpflicht zu entziehen, wie in der Gegenwart. Wer sich wehrt, kann entkommen.

Die Wehrpflicht wird immer weniger als ernsthafte Bedrohung für den Bundesbürger wahrgenommen. Doch Vorsicht! Noch ist sie nicht beseitigt. Und solange sie existiert, ist sie eine akute Gefahr. Auch ist sie nicht nur ein juristisches Problem oder eines der Rechenstrategen, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Sie ist ethisch ebenso wenig vertretbar wie ökonomisch, militärstrategisch oder militärtaktisch. Den Befürwortern der Wehrpflicht ist es momentan in erstaunlicher Weise gelungen, den Eindruck zu vermitteln, die Wehrpflicht sei einerseits wegen der Rekrutierung für den Berufs- und Zeitsoldatenbereich von besonderer Wichtigkeit und andererseits für den Bereich des Zivildienstes unverzichtbar, weil ansonsten, ohne Zivildienstleistende, unser Sozialsystem bedroht sei. Beides ist Unfug. Rekrutieren können die Werber leider auch ohne Wehrpflicht, und das Sozialsystem leidet volkswirtschaftlich mehr unter der Wehrpflicht, als es davon profitiert. Krankenhausdirektoren oder Altersheimbesitzer werden dies aus der Sicht ihrer Haushalte anders beurteilen als Volkswirte, die die gesamten Wehrpflichtkosten für den Staatshaushalt bewerten. Es ist eindeutig, und dies bestätigen heutzutage sogar schon die Ökonomen der Bundeswehr: Die Wehrpflicht ist volkswirtschaftlich unsinnig. Die Mehrheit unserer Politiker beurteilt dies jedoch anders, nämlich allen neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischer Vernunft zum Trotz. Dies kann und soll sich ändern. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass sich die Wehrpflichtgegner nicht vorschnell als Sieger fühlen. Dafür ist es noch viel, viel zu früh.

In diesem Zusammenhang fallen die lauten Rufe nach Arbeits- und Sozialdiensten sowie "freiwilligen" Dienstleistungen unangenehm auf. Die Bundesrepublik hat sich als Konsequenz aus dem Dritten Reich international verpflichtet, keinen Zwangsdienst mehr einzuführen. Es gilt also: Die einzige bislang in Deutschland akzeptierte Ausnahme vom Zwangsdienstverbot ist die Wehrpflicht. Diesen Zwangsdienst gilt es heute abzuschaffen, und zwar ersatzlos. Damit würde die Bundesrepublik auch ihren internationalen Verpflichtungen in Wort und Tat nachkommen.

Für die kritischen Zeitgenossen dieser Republik bedeutet die jetzige Situation, dass sie sich nicht auf Politiker verlassen sollten, die die Abschaffung der Wehrpflicht fordern. Sie sollten sie selbst herbeiführen. Die Gelegenheit ist günstig. Jeder kann die Wehrpflicht bekämpfen, boykottieren oder sabotieren und so zu ihrer endgültigen Beseitigung beitragen.

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Hintergrund
Christian Herz ist Mitarbeiter der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär und Autor des Buches: Kein Frieden mit der Wehrpflicht.