Ein friedensfähiger Kapitalismus?

von Gregor Witt

Im gemeinsamen Aufruf des Sowjetischen Friedenskomitees und des Koordinierungsausschusses zur Friedenswoche im Mai sollte ursprünglich der Satz stehen: "Entscheidend ist, ob die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme sich gegenseitig als friedens- und entwicklungsfähig anerkennen und lernen zusammenzuarbeiten." Nachdem sich zeigte, daß diese Aussage von Teilen des Koordinierungsausschusses nicht getragen werden kann, wird eine Änderung des Aufrufes angestrebt. Zugleich soll die Kontroverse im "Friedensforum" öffentlich gemacht werden.

In dem kritisierten Satz geht es nicht um die Militärpakte, sondern um die Gesellschaftssysteme. Ich beschränke mich hier auf das Unsere. Trotz unterschiedlicher Positionen über den Charakter der NATO in der Friedensbewegung werden die meisten zustimmen, wenn gesagt wird, daß die heute gültigen Militärkonzepte, -struktur und -bewaffnung der NATO offensiv-aggressive Fähigkeiten verschaffen bzw. verschaffen sollen: AirLand Battle, Follow-on Forces Attack, SDI, atomarer Erstschlag, „modernisierte" neue Atomwaffen für Europa usw. Mit dieser NATO gibt es keinen Frieden! Ob eine "reformierte", d.h. defensiv gerüstete NATO ein erstrebenswertes Ziel der Friedensbewegung sein kann, ist schon eher umstritten. Meiner Meinung nach reicht die Reform nicht aus, sondern die Militärblöcke müssen völlig überwunden und durch ein System kollektiver politischer Friedenssicherung ersetzt werden. Reform wie Überwindung sind nur möglich, wenn der Kapitalismus gezwungen werden kann, ohne die heutige Art von Militärpolitik zu existieren. Ich will dazu einige Thesen aufstellen.

  1. Unter dem Zwang der Verhältnisse und aufgrund gesellschaftlichen Drucks hat sich der Kapitalismus schon mehrfach zu gravierenden Veränderungen gezwungen gesehen. Seine Anpassungsfähigkeit ist nicht grenzenlos, aber wo die Grenzen sind, muß die politische Auseinandersetzung erst noch zeigen. Wer hätte z.B. vor 100 Jahren daran gedacht, daß die aus Konkurrenzgründen miteinander Krieg führenden kapitalistischen Hauptmächte dazu übergehen könnten, ihre Kämpfe nichtmilitärisch auszutragen. Heute haben sie sich sogar zu einem dauerhaften Bündnis zusammengeschlossen, um ihre vereinte Macht gegen den Sozialismus in die Waagschale zu werfen und das kapitalistisch dominierte Weltwirtschaftssystem zu erhalten. Die Bewegungen haben soziale und demokratische Rechte erkämpft, von denen die Menschen in früheren Jahren nicht zu träumen wagten. So gefährdet sie immer wieder sind, zeigen sie doch, daß diesem Gesellschaftssystem beachtliche Flexibilität innewohnt. Warum also sollte es heute theoretisch ausgeschlossen werden, daß der Kapitalismus lernen kann, ohne Militärmacht zu existieren?
  2. Neben den Interessen an Rüstung und Krieg gibt es auch jene an Abrüstung und Frieden. Ein ganz zentrales ist das Interesse an der eigenen, physischen Existenz. Mit einem Mindestmaß an Realismus lassen sich die verheerenden, unterschiedslos alle und alles zerstörenden Konsequenzen eines Krieges nicht verleugnen. Eine nüchterne Kosten-Nutzen-Bilanzierung, zu der die meisten Unternehmer und Politiker durchaus fähig sind, ergibt heute, daß Krieg in Europa wie in anderen Teilen der Welt ein zunehmend untaugliches Mittel der Politik ist.
  3. Zur heutigen Realität gehören auch die internationalen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen, denen sich kein Land entziehen kann, Das gilt auch für die europäischen Militärblöcke. Vereinfacht gesprochen: Um das Umkippen der Ostsee zu verhindern, sind alle Seiten gezwungen, ein Mindestmaß an Kooperation zu entwickeln. Wenn die Beziehungen aber durch das Wettrüsten belastet werden, gehen der Politik die Spielräume zur Lösung der gemeinsamen Probleme verloren. Daran kann niemand interessiert sein.
  4. Allzu oft werden zukunftsgerichtete Entscheidungen nicht getroffen oder zurückgestellt, weil kurzfristige Ziele für wichtiger angesehen werden. Das kennen wir von ökologischen Problemen, wo wegen kurzfristiger Profitinteressen Maßnahmen zum Erhalt der Umwelt und zur Verhinderung von Katastrophen nicht ergriffen werden. Andererseits wächst mit der Sensibilität für ökologisches (Fehl-) Verhalten die Möglichkeit der - Unternehmen, durch ökologisch verträgliche Produkte oder Produktion höhere Gewinne zu machen. Sich umweltbewußt gebende Parteien und Politiker haben schon heute größere Wahlchancen. Wächst demnach das gesellschaftliche Bewußtsein für Friedenspolitik und ihr angemessene Unternehmensstrategien, sind vergleichbare Entwicklungen wie im ökologischen Bereich sehr wahrscheinlich.
  5. Selbst wenn eine Bundesrepublik ohne Armee realisierbar ist, hat das  nicht notwendig ein grundlegend umgestaltetes Gesellschaftssystem zur Folge. Vieles von dem, was im Sinne eines positiven Friedens erreicht werden soll, bleibt noch unerfüllt. Jedoch zeigt die kurze Zeit der Friedensarbeit von 1979 bis heute, daß die Auseinandersetzung um Abrüstung und zumal eine erfolgreiche in anderen Bereichen wichtige Veränderungen bewirken kann. Die öffentliche Aufmerksamkeit wächst, das erhöht den Legitimationszwang für Regierungspolitik, erzwingt zum Teil Änderungen der Politik, erhöht die Erwartungen an gute Beziehungen zu anderen Völkern…
  6. Es wäre Unfug, auf die Einsichtsfähigkeit eines Herrn Reuter von Daimler Benz oder des Herrn Herrhausen von der Deutschen Bank zu vertrauen. Aber aufgrund der existierenden Verhältnisse und Zwänge hat die Friedensbewegung heute große Chancen, die Bundesrepublik ebenso wie andere kapitalistische. Staaten "friedensfähig" zu machen. Ob, wie schnell und in welchem Ausmaß das gelingt, und inwieweit zugleich bisherige Funktionsweisen dieses Systems modifiziert bzw. gegenüber der "3. Welt" außer Kraft gesetzt werden können, ist aber keine Frage vermeintlich systembedingter Zwangsläufigkeiten. Das hängt von der inneren sowie der internationalen Auseinandersetzung ab. Wer sagt, der Kapitalismus sei „friedensunfähig", nimmt das negative Ergebnis geistig vorweg, Der muß sich fragen, ob er den Kampf nicht schon aufgegeben hat.

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