Ziviler Ungehorsam

Eine Gewissensentscheidung mit der Macht der Vielen

von Renate Wanie
Hintergrund
Hintergrund

Weltweit sind Widerstandsbewegungen von Mohandas K. Gandhis und Martin Luther Kings Philosophie und Praxis der Gewaltfreiheit geprägt. Gerade auch in den 2000er Jahren erhielten Massenproteste in Form von gewaltlosen Besetzungen öffentlicher Plätze wie 2011 auf dem Tahir-Platz in Kairo oder seit 2018 auf dem Gelände eines Kohletagebaus im Hambacher Forst große Medienaufmerksamkeit. Die Konzepte der Gewaltfreien Aktion und des Zivilen Ungehorsams wurden stetig weiter entwickelt, beein¬flusst durch vielfältige soziale Bewegungen und die Friedens- und Konfliktforschung. Als einflussreichste Vordenker*innen mit Einfluss im deutschsprachigen Raum können u.a. Mahatma Gandhi, Gene Sharp, Theodor Ebert, Hildegard Goss-Mayr und Gernot Jochheim angesehen werden. Als einer der Begründer des Zivilen Ungehorsams gilt Henry Thoreau (1849). Ziviler Ungehorsam als Motor für Veränderung? Was ist unter der Aktionsform Ziviler Ungehorsam zu verstehen? Was ist sein Ziel, welche Beispiele gibt es, wie ist er historisch und aktuell einzuordnen?

Wichtige Schlüsselaktionen des Zivilen Ungehorsams (ZU), die schlaglichtartig ein Problem deutlich machten oder zur Abschaffung des kritisierten Unrechts beigetragen haben,waren 1930 Gandhis Salzmarsch in Indien, 1955 der von M.L. King initiierte Busboykott von Montgomery und hierzulande 1983 die Aktionen und Blockaden der Anti-AKW- sowie der Friedensbewegung gegen die Atomraketenstationierung. Große Öffentlichkeit erreichten im Jahr 2007 die Massenproteste in Heiligendamm gegen die undemokratische und intransparente Politik des Weltwirtschaftsgipfels der G8-Staaten. Zu nennen sind ebenfalls die Sitzblockaden (2018) gegen die völkerrechtswidrigen und gezielten, weltweiten Drohneneinsätze, die von der Relaisstation der US-Air Base Ramstein ausgehen. Aktuell knüpft die junge Bewegung „Extinction Rebellion“ (XR) an solche Aktionsformen an, z.B. 2019 mit Blockaden im Bündnis „Sand im Getriebe“ während der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt oder als eine*r der Akteur*innen von „Ende Gelände!“ im Braunkohletagebau Hambacher Forst.

Gesellschaftsspezifische Wirksamkeit
Bei Aktionen des ZU ist stets die jeweilige historische und gesellschaftliche Situation eines Landes zu berücksichtigen. Denn die Wirksamkeit von Aktionen ist sehr vom gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umfeld abhängig. Das zeigen zwei Beispiele aus dem Jahr 2011, wie die mutige Aktion saudischer Frauen gegen das Autofahrverbot in einem repressiven und patriarchal geprägten System oder die spektakulären Internet-Aktionen des chinesischen Künstlers Ai Weiwei gegen die Korruption und Machtwillkür der chinesischen Regierung, auf die eine Gefängnisstrafe folgte. Große Medienaufmerksamkeit erlangte auch die gewaltlose Besetzung zentraler öffentlicher Plätze, wie auf dem Tahir Platz 2011. Die gut organisierten Aktionen haben zum Sturz des Diktators Mubarak geführt. Ziele solcher Aktionen sind häufig die Einführung von Demokratie und die Verbesserung sozialer Lebensbedingungen. Doch das braucht Zeit, besonders in Gesellschaften, in denen das Militär und autoritäres Denken das öffentliche Leben dominieren. (1) Ein aktuelles Beispiel ist der anhaltende Widerstand von breiten Kreisen in der Bevölkerung in Belarus wegen des Verdachts der Wahlfälschung und gegen die autoritäre und gewaltvolle Regierung von Lukaschenko.

Eine Annäherung an den Zivilen Ungehorsam
Der Begriff Ziviler Ungehorsam erfuhr in den letzten Jahren eine Renaissance wie auch Veränderung in der Aktionspraxis. Seit der Planung von Blockadeaktionen in Heiligendamm gegen den Weltwirtschaftsgipfel 2007 haben einige Gruppen aus den sozialen Bewegungen die Anwendung des Begriffs ZU auf einen pragmatischen Ansatz reduziert. Um möglicherweise größere Bündnisse für begrenzte Aktionen in strategisch-taktischer Vorgehensweise zu erreichen, wurde Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses abgelehnt und das Konzept des ZU zur reinen Aktionsform. Aber ZU ist mehr, er ist Teil einer gesellschaftsverändernden Strategie.

Ziviler Ungehorsam ist eine Strategie gewaltfreier Aktion, eine Form politisch motivierter Aktion ohne den Einsatz von Gewaltmitteln. Die Methoden der gewaltfreien Aktion sind vielfältig. verbreitetsten sind Demonstrationen. Doch sie „führen nicht unmittelbar soziale Veränderungen herbei, zeigen aber den politischen Gegnern häufig ihren Verlust an Massenlegitimation und motivieren sie zu Reaktionen – sei es des Entgegenkommens oder der Unterdrückung.“ (2) Die Gewaltfreie Aktion ist mit ihren vielfältigen Aktionsformen eine kämpferische Methode, gesellschaftliche Konflikte auszutragen und aktiv in eine politische Auseinandersetzung einzugreifen und Zugang zu Entscheidungsprozessen zu erzwingen. Dabei entsprechen die Mittel dem Ziel, es wird bewusst auf verletzende oder tötende Gewalt gegen den politischen Gegner verzichtet. Neben dem ablehnenden beinhalten gewaltfreie Aktionen immer auch ein konstruktives Element, einen Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. Ziel ist nicht, den Gegner zu besiegen oder zu vernichten, sondern auf die Veränderung des gegnerischen Willens hinzuarbeiten, auch mit Druck und GegenMacht. Mit der Gewaltfreien Aktion erweitern wir unsere politischen Handlungsräume.
Hierbei spielen Aktionen Zivilen Ungehorsams eine bedeutende Rolle, wie Gernot Jochheim schreibt: „Unter ‚Zivilem Ungehorsam‘ werden Aktionen verstanden, bei denen die Akteure bestehende Gesetze und Anordnungen, die Unrechtsverhältnisse und Bedrohungen aufrechterhalten oder begünstigen, offen missachten.“ (3) Zu den Merkmalen des ZU zählt Jochheim: Die Handlung ist illegal und wohlüberlegt. Den Begriff kennzeichnet ebenso die „Begrenzte Regelverletzung“; sie bedeutet, die Handlungen bei der Missachtung gesetzlicher Reglungen oder Verordnungen sind zeitlich und räumlich eingeschränkt. Die Entscheidung, ein solches Risiko einzugehen, muss jede*r für sich selbst treffen. Die Berechtigung zum Zivilen Ungehorsam beruht auf eigenem Urteil bzw. einer Gewissensentscheidung, was meist als individuelles Gewissen und die erst daraus resultierende moralische Verpflichtung gilt.

„Das individuelle Gewissen erfordert aber zunächst nichts!“, so der Einwand der  Philosophin Hannah Arendt. „Denn allein das Gewissen ist unpolitisch“. (4) Doch auch die Verweigerung aus Gewissensgründen könne politische Bedeutung erlangen, wenn mehrere „Menschen in ihrem Gewissen übereinstimmen und sich (...) entschließen, an die Öffentlichkeit zu gehen.“ Erst mit den Stimmen von Vielen in einem kollektiven öffentlichen Forum entstehe die „Macht einer Meinung“, der ZU werde politisch überzeugend.

Ein wesentliches Merkmal der Aktion bleibt: ZU ist ein öffentlicher Akt. Dazu gehören in der Regel eine öffentliche Ankündigung der Aktion sowie strafrechtliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Doch darüber gehen die Meinungen auseinander wie auch bei der Frage, ob bei der vorsätzlichen  Verletzung einzelner Rechtsnormen (z.B. Straßenblockade), der Ungehorsam auch gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen (Verfassung) gemeint ist. Oder ob z.B. aus anarchistischer Perspektive mit der Aktion auch der Verfassungsstaat grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Ziel ist, die jeweilige Regierung zu der Revision des Unrechts oder der Abschaffung zu bewegen. Gesetzlich geregelt waren auch all die historisch bekannten ungerechten und unmenschlichen Gesellschaftsverhältnisse wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im deutschen Faschismus, Unterdrückung der Arbeiter*innen. Gesetze zum Nutzen und zur Bewahrung der Vorrechte von nur wenigen Menschen. Welche gesellschaftliche Ordnung legal ist, ändert sich im Laufe der Geschichte. Für ZU eine Chance, Einfluss darauf zu nehmen.

Eskalationsstufe „Ziviler Ungehorsam“
Der Friedensforscher Theodor Ebert hat in einem 3-stufigen Eskalationsschema ein gewaltfreies Gesamtkonzept dargestellt. Je nach Analyse der politischen Situation können die Akteur*innen auf jeder Stufe verschiedenartige Formen sozialen Drucks einsetzen, die in unterschiedlicher Weise gesellschaftliche Wirkung zeigen und schließlich mit konstruktiven Ideen und Projekten zur Veränderung beitragen. Neben dem Protest (z.B. Demonstrationen), der legalen Nichtzusammenarbeit (z.B. Boykott) stehen die dramatisierenden Aktionen Zivilen Ungehorsams (z.B. die Blockade) auf der dritten Eskalationsstufe und greifen direkt in das bestehende soziale System, in die Funktionen gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse ein. Anordnungen oder Gesetze des dominierenden Systems werden missachtet (z.B. mit dem Eindringen in den Atomwaffenstützpunkt in Büchel/Eifel). Es gibt viele Möglichkeiten, die Probleme zu dramatisieren und dem politischen Gegner die Legitimation zu entziehen und zur Abschaffung oder Revision des Unrechts (Atomwaffenlagerung mit dem Ziel des Einsatzes) zu bewegen. Mit dem ZU werden gesellschaftliche Konflikte zum öffentlichen Thema und ins Bewusstsein von Politik und Bevölkerung gerückt und bearbeitbar gemacht. Politisches Handeln wird möglich, Gegenöffentlichkeit hergestellt. In allen Phasen des Konfliktes bleibt die Bereitschaft zu Dialog und Verhandlungen bestehen.

Ziviler Ungehorsam – jung und radikal
Mit radikalen Forderungen und dem Ziel, die Klimakatastrophe abzuwenden und das Massensterben zu stoppen, hat sich eine neue soziale Bewegung der jungen Generation in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht: „Ende Gelände!“, JunepA, Extinction Rebellion (XR) und Fridays for Future (FFF). XR und FFF sind international und dezentral organisiert, überparteilich, unabhängig, und sie sind einfallsreich, mutig und praktizieren öffentlich sichtbar und gewaltfrei Zivilen Ungehorsam mit spektakulären Aktionen, strafrechtliche Risiken in Kauf nehmend: z.B. mit dem Blockieren von Brücken und Hafeneinfahrten oder wochenlangen Schulstreiks, sie verbringen eine Nacht auf einem Bagger oder verfärben Flüsse und Brunnen. „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ (Molière) – ein zutreffendes Motto der Bewegung.

Anmerkungen
1 Wanie, Renate (2012): Workshop „Gewaltfreie Aktion - ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zu Grundlagen und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten.“ In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (HG), Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antworten findet Europa? Wien, S. 46
2 Ebert, Theodor (2011): Lexikalisches Stichwort „Gewaltfreie Aktion“. In: Laubenthal/Steinweg: Gewaltfreie Aktion. Erfahrungen und Analyse. Brandes & Apsel, S. 162
3 Jochheim, Gernot (1984): Gewaltfreie Aktion, Idee und Methoden, Vorbilder und Wirkungen. Rasch und Röhrig, S. 195
4 Arendt, Hannah (1970): Ziviler Ungehorsam. In: Hannah Arendt. Zur Zeit. Politische Essays. Rotbuch Verlag, 1986, S. 126

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