Schwerpunkt: 70 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki

Einleitung

von Martin Singe

70 Jahre nach den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und deren verheerenden Folgen hat die Menschheit bis heute nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen und eine Ächtung der Atomwaffen weltweit durchgesetzt. Ich sehe vor mir ein Foto, dass man imaginieren möge (da das FriedensForum kein Geld für dpa-Fotos hat): Erich Kästner spricht 1958 gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr; im Hintergrund ist ein Spruch aus dem Testament Albert Einsteins als Wandbild zu sehen: „Die entfesselte Macht des Atoms hat alles verändert, nur nicht unsere Denkweise. So gehen wir einer Katastrophe ohnegleichen entgegen. Wir brauchen eine wesentlich neue Denkungsart, wenn die Menschheit am Leben bleiben will.“ Kurz und knapp, und leider heute so wahr wie 1958.

Gerade ist – Ende Mai 2015 – die 9. Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag (NPT) kläglich gescheitert. Nicht einmal ein Schlussdokument konnte verabschiedet werden. Die Atomwaffenmächte verweigern selbstherrlich die nach dem Vertrag gebotene Abrüstung. Der dringlich nötigen Konferenz über eine atomwaffenfreie Zone im Nahen/Mittleren Osten wurde vorab ein Scheitern vorausgesagt, so dass nicht einmal der Versuch einer solchen Konferenz gestartet wird. Der Beitrag von Ray Acheson berichtet kompetent und aus eigener Anschauung über die gescheiterte Konferenz. Immerhin hat sich zeitgleich eine NPT-unabhängige neue Initiative gegründet, die sogenannte „Humanitäre Initiative“, die bei der Konferenz über die Folgen von Atomwaffeneinsätzen in Wien 2014 gegründet wurde. Inzwischen haben sich weit über 100 Staaten diesem „Pledge“ angeschlossen. Der neue Anlauf soll dazu dienen, über einen anderen Weg als den NPT eine Ächtung der Atomwaffen über eine weltweite Konvention zu erreichen. Diese Forderung haben AktivistInnen durch eine 65-tägige Dauerblockade des Atomwaffenstandortes Büchel in eine breitere Öffentlichkeit dieser Republik gebracht.

Modernisierungen, technologische Aufrüstungen, Stagnationen bei Verhandlungen
Statt Abrüstung stehen neue Aufrüstungsrunden bevor. Auch wenn insgesamt die Zahl der Atomsprengköpfe, die ohnehin die Erde mehrfach zerstören könnten, nicht steigt, gibt es einen neuen Wettlauf um technologische Verfeinerungen bei der Treffgenauigkeit, der Tarnmöglichkeiten und Sprengkraftmodifikation. All diese Entwicklungen lassen in den Augen der Kriegsstrategen die Einsatz-Hemmschwelle sinken, da zielgenauere und kleinere Atombomben weniger Kollateralschäden verursachen würden. Die Modernisierung der 200 Atombomben in Europa, darunter auch der 20 Bomben in Büchel, fällt in diese Kategorie. Da die USA den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Abwehrraketensystemen einseitig gekündigt hat und verstärkt an einem Raketenabwehrsystem arbeitet, ist ein neuer Versuch der USA, wie in den 1980er Jahren Erstschlagfähigkeit zu erlangen, absehbar. Die USA haben sich nie damit abgefunden, quasi eine gelähmte Atommacht zu sein. Krieg, auch ein Atomkrieg soll gewinnbar sein. Dies wäre erreicht, wenn durch einen Erstschlag so viele Atomwaffen Russlands am Boden zerstört werden könnten, dass die verbleibenden Richtung USA startenden dann durch den Raketenabwehrschirm abgefangen würden. Mit einer solchen Vorstellung glauben die USA, einen Atomkrieg überleben zu können. Auch aus diesen Gründen arbeitet Russland an eigenen Modernisierungsprogrammen. Die Abrüstungsverhandlungen zwischen den großen Atommächten sind von der ABM-Problematik belastet, aber auch von neuen weitergehenden Problemen: Russland sieht sich geostrategisch auch von anderen Atommächten bedroht und klagt zudem über den US-Plan des „Prompt Global Strike“, demnach die USA seit 2001 versuchen, jedes potenzielle Ziel auf der Erde innerhalb von 1-2 Stunden konventionell – u.a. mit Hyperschallwaffen - erreichen und vernichten zu können. Einige unserer Schwerpunkt-Aufsätze gehen auf diese aktuellen, hier nur aufgezählten Probleme konkret ein.

Die Friedensbewegung steht vor neuen Herausforderungen
In den 1960er Jahren standen wir angesichts der Kubakrise (siehe Beitrag von Otmar Steinbicker) ganz nah an der nuklearen Weltkatastrophe. Erneut spitzte sich die Lage zwischen den größten Atommächten in den 1980er Jahren gefährlich zu. Stehen wir heute vor einer neuen Eskalationsrunde? Die nuklearen Waffen – so sehen es etliche Strategen und verschiedene Think-Tanks – erhalten aktuell wieder eine neue Bedeutung. Dachte man nach dem Ende des Kalten Krieges an ein Auslaufen der atomaren Bedrohung, scheint sich diese nun neu zu verschärfen. So spricht z.B. Karl-Heinz Kamp, Direktor an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, von einer „Renaissance nuklearer Abschreckung“, die durch den neu verschärften Konflikt zwischen USA und Russland um die Ukraine noch forciert werde. Umso wichtiger ist die Aufmerksamkeit der Friedensbewegungen weltweit. Hier in der Bundesrepublik müssen wir den Druck auf die Regierung verstärken, als erste Schritte endlich die nukleare Teilhabe in der NATO aufzukündigen und den Abzug der Atombomben aus Büchel zu veranlassen. Denn genau wegen der NATO-Nuklearstrategie tritt die Bundesregierung dem oben zitierten Pledge-Bündnis gegen Atomwaffen nicht bei – denn die NATO behält sich den Ersteinsatz von Atomwaffen vor. Christine Schweitzer hat ausführlich für diesen Schwerpunkt den Kampf der Friedensbewegung gegen die Atomwaffen nachgezeichnet. Hier gilt es, ein neues Kapitel in der Praxis zu schreiben und anzuhängen.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".