Volkstrauertag

„Es ist an der Zeit!“ Friedensgruppen gestalten das Volkstrauergedenken

von Robert Hülsbusch
Initiativen
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Volkstrauertag 2021. Überall wird der Opfer der beiden Weltkriege gedacht. An Kriegerdenkmälern. Bruderschaften und Kameradschaften ehemaliger Soldaten ziehen auf. Mit Uniform und Fahnenabordnung. Natürlich auch die Botschaft: Nie wieder Krieg. Die Kommunen sind für die Ausrichtung der Gedenkveranstaltungen per Gesetz verpflichtet. Und sie sind froh, dass die Bruderschaften und ehemaligen Kameraden dies für sie machen. Ein Kranz wird niedergelegt, ein einsamer Trompeter spielt das Lied vom toten Kameraden, möglicherweise hallen Salutschüsse. Und die Nationalhymne – mächtig durch eine Bläsertruppe – schließt das Gedenken ab. Wen wundert es da, dass z.B. in Münster, wo es mittlerweile grüne Bezirksbürgermeister*innen gibt, dieses Ritual von diesen abgesagt wird. In fast allen Orten findet es jedoch weiter so oder so ähnlich statt.

In allen Orten? Nicht in Nottuln. Dort richtet seit einigen Jahren immer mal wieder die Friedensinitiative Nottuln (FI) das Volkstrauergedenken aus. Federführend und dazu die Bevölkerung einladend. Geht´s noch?

Ja, es geht! „Es ist an der Zeit!“ Das Lied von Hannes Wader gab die Überschrift zum diesjährigen Volkstrauertag in Nottuln. In der Begrüßung wurde schon die Ausrichtung des Gedenkens deutlich: „Das Volkstrauertag-Gedenken ist in diesem Jahr ein besonderes. In diesem Jahr steht – so die Bitte des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge - das Gedenken ganz im Zeichen der Erinnerung an den Angriffs- und Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa. Millionen Opfer forderte dieser Krieg. Er begann vor 80 Jahren mit der Besetzung von Jugoslawien und Griechenland sowie dem Überfall auf die Sowjetunion. Den Kampfhandlungen folgte ein hartes Besatzungsregime. Widerstand wurde unterdrückt und mit Vergeltungsmaßnahmen bestraft, die häufig auch Unbeteiligte trafen. Im Zuge des deutschen Vormarsches weitete das NS-Regime die Verfolgung und gezielte Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen aus. Mit der Wende im deutsch-sowjetischen Krieg schlug die grausame Kriegsführung gegen die deutschen Soldaten, aber auch gegen die deutsche Zivilbevölkerung zurück.“ (1)  Passend dazu der Gast, den die FI für die Ansprache eingeladen hatte, Jacek Gursz, Bürgermeister aus der polnischen Partnerstadt Nottulns, aus Chodziez, Polen: „Ein Enkel der polnischen Menschen, die die ersten Opfer des deutschen Angriffskrieges wurde. Wie viele Landsleute von Jacek Gursz im Krieg starben, ist unbekannt. Man schätzt: 6 Millionen polnische Menschen kamen ums Leben, 5,7 Mio. Zivilist*innen, 300.000 Soldaten, mehr als 400.000 polnische Soldaten, darunter etwa 16.000 Offiziere, gerieten in deutsche Gefangenschaft. Fünfeinhalb Jahre deutsche Besatzungsherrschaft folgten, fünfeinhalb Jahre Demütigungen, Gewalt, Terror, Massenerschießungen.“

Der polnische Bürgermeister hielt eine berührende Rede: „Wir verstehen, dass Ihr Euch heute schämt und bedauert, was die Deutschen einst getan haben. Aber alle Gesten der Versöhnung sind in Euch, weil ihr gute Menschen seid. Denn in Euch ist das Gute, das nie zulassen wird, dass das Böse wieder regiert. Ich, der Bürgermeister von Chodzież, reiche Euch die Hände voller Zustimmung, Umarmungen der Freundschaft und sage gleichzeitig auch: Verzeiht mir. Fϋr all die schlimmen Dinge, die die Polen während des Krieges unschuldigen und guten Menschen angetan haben. An euren Vorfahren. Der Krieg entfesselt das Böse auf allen Seiten des Konflikts.“

Krieg ist ein Verbrechen, so der Grundsatz der DFG-VK. Immer und überall. Das obligatorische Kranzniederlegen folgte, noch ein Relikt aus alten Zeiten, ein Zugeständnis der FI an die Vertreter*innen der Gemeinde und an die ehemaligen Soldaten. Doch dann wurde der Bogen zu heutigen Kriegen gespannt: Auch der Afghanistankrieg war ein Verbrechen. Und mit Hannes Wader hallte dann der Schwur der Friedensbewegung über den Kirchplatz:  „Für den Frieden zu kämpfen und wachsam zu sein, fällt die Menschheit noch einmal auf Lügen herein. Dann kann es geschehen, dass bald niemand mehr lebt, Niemand, der die Milliarden von Toten begräbt. Doch längst finden sich mehr und mehr Menschen bereit, diesen Krieg zu verhindern, es ist an der Zeit.“ Es ist an der Zeit, die Kriege zu beenden. Es ist an der Zeit, die Rüstungsproduktion und den Waffenexport zu beenden. Es ist an der Zeit, Sicherheit neu zu denken! (2) Das sind die Botschaften dieses Volkstrauertages in Nottuln. In den vergangenen Jahren konnte die FI schon dreimal das Volkstrauergedenken gestalten – mit ähnlichen Botschaften.

2011 lud die FI als Gastredner Ludwig Baumann ein, Deserteur im Zweiten Weltkrieg und mittlerweile verstorben. Baumann erzählte von seinem Schicksal: „Ich wollte einfach leben und nicht morden.“ Gebannt hörten alle zu – auch die angetretene Kameradschaft Ehemaliger Soldaten. Ausführlich ging Baumann auf die neue Inschrift in der Kapelle ein, initiiert und realisiert durch die FI „Wir gedenken aller, die durch ihr Nein zum Krieg gelitten haben und leiden.“ Und er forderte die Soldat*innen der Welt auf, auch heute zu desertieren. 

2014 verzichtete die FI beim Volkstrauertag-Gedenken auf eine Ansprache und ließ das örtliche Theater „Das Törchen“ das Stück „Picknick im Felde“ aufführen, eine Anti-Kriegs-Parabel von Fernando Arrabel, der mit schwarzem Humor den Irrwitz des Krieges mit dem Geist kleinbürgerlicher Konventionen und Wertvorstellungen konfrontiert. (3) Keine leichte Kost für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das Gedenken endete mit Borcherts Antikriegs-Vermächtnis: „Sag Nein!“

Auch ein Jahr später – 2015 – stand Borchert wieder Pate beim Volkstrauertag in Nottuln. Statt einer Ansprache spielte das Theater „Das Törchen“ aus dem Anti-Kriegsdrama „Draußen vor der Tür“ den Dialog zwischen dem traumatisierten Kriegsheimkehrer Beckmann und seinem ehemaligen Oberst. Eine bewegende Szene, von der Bernhard Meyer-Marwitz in seinem biographischen Nachwort zum Gesamtwerk Borchert schreibt: Diese Szene „ist mehr als eine literarische Angelegenheit, in ihr verdichten sich die Stimmen von Millionen, von Toten und Lebenden, von vorgestern, gestern, heute und morgen, zur Anklage und Mahnung. Das Leid dieser Millionen wird zum Schrei. Das ist Borcherts Stück: Schrei!“ (4) Nie wieder Krieg!

Vor Jahren wäre die Gestaltung der Gedenkfeier am Volkstrauertag so und durch die Friedensinitiative undenkbar gewesen. Undenkbar für die, die bis dahin diese Feier ausrichteten. Undenkbar aber auch für uns Friedensbewegte. Die Zeiten haben sich geändert. Nicht ohne das Engagement der FI. Wie und was die FI dazu getan hat, das ist eine andere Geschichte, die erzählt werden will.

Eine ausführliche Dokumentation des Volkstrauer-Gedenkens 2021 in Nottuln steht auf der Seite der FI www.fi-nottuln.de

Anmerkungen
1 https://gedenkportal.volksbund.de/gedenktage/volkstrauertag-2021
2 www.sicherheitneudenken
3 https://rowohlt-theaterverlag.de/tvalias/stueck/72849
4 Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk, Hamburg 1979, S. 340

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Robert Hülsbusch, Friedensinitiative Nottuln.