Bausteine für eine Europäische Friedensordnung

Europäische Friedensordnung nach dem Ende der Ära Putin – ein Ausblick

von Andreas Zumach
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Anfang der 1970er Jahre stellte Egon Bahr, Architekt der damaligen Ost- und Entspannungspolitik der westdeutschen Bundesregierung von Kanzler Willy Brandt fest: Eine Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent zwischen Atlantik und Wladiwostok kann es nur mit der Sowjetunion geben, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen sie. Ein halbes Jahrhundert später und über 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und dem nachfolgenden Zerfall der Sowjetunion gilt dieses Axiom unverändert mit Blick auf Russland. Die Geographie lässt sich nun mal nicht ändern.

Doch ist eine Friedensordnung unter Beteiligung Russlands nach dem verheerenden Krieg gegen die Ukraine überhaupt noch vorstellbar? Die meisten westlichen Politiker*innen und Medien beantworteten diese Fragen nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine Ende Februar 2022 zunächst einmal negativ und plädierten für Konfrontation mit Russland auf allen wirtschafts-, informations- und sicherheitspolitischen Ebenen. Die militärische Devise lautete: Massive konventionelle Aufrüstung, Aufstockung der NATO-Truppen an den östlichen Grenzen der Allianz sowie Bekräftigung und Verstärkung der atomaren Abschreckungspolitik.

Eine Umsetzung all der unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges bereits geplanten und darüber hinaus geforderten Maßnahmen zur Konfrontation mit Russland wäre der Weg zurück in die Hochzeiten des Kalten Krieges. Eine solche Politik würden die gefährlichen nationalistischen, großrussischen, antiwestlichen und militaristischen Gefühle und Ambitionen in Russland noch weiter verstärken. Nicht nur bei Putin und anderen Vertreter*innen der Führung des Landes, sondern auch in der russischen Bevölkerung.

All die Plädoyers für eine Konfrontation mit Moskau basieren offensichtlich auf der Annahme, dass Russland und seine Führung unverändert so bleiben, wie sie sich uns in dem Ukraine-Krieg präsentiert haben. Doch diese Annahme ist falsch. Putin hat mit diesem Krieg das Ende seiner Ära eingeläutet. Er wird mit Sicherheit nicht bis 2036 Präsident bleiben, wie er mit der von ihm durchgesetzten Verfassungsänderung geplant hatte. Die negativen Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die Bevölkerung, die vielen tausend russischen Soldat*innen, die auf dem Schlachtfeld in der Ukraine verscharrt wurden oder in Särgen nach Hause kamen, die vielen Propagandalügen Moskaus über diesen Krieg, die inzwischen auch in Russland als solche entlarvt wurden - all das unterminiert Putins Macht und stärkt die Zweifel und die Kräfte des Widerstandes.

Nach dem Ende der Ära Putin
Statt einen Rückschritt in die Politik des Kalten Krieges zu machen, sollten jetzt die Weichen gestellt werden für eine gemeinsame Friedensordnung mit Russland. Auch wenn Putin vielleicht noch einige Jahre Kremlchef bleiben sollte. Vorstellbar ist eine solche Friedensordnung allerdings nur unter vier Voraussetzungen.

Erstens: Der heiße Krieg Russlands gegen die Ukraine ist beendet.

Zweitens: Sämtliche russischen Truppen wurden aus der Ukraine abgezogen.

Drittens: Der Streit zwischen Moskau und Kiew um die Territorien der Krim und der beiden Donbass-Provinzen wurde - im besten Fall durch ein einvernehmliches Verfahren -  beigelegt. Zum Beispiel durch ein von der UNO und/oder der OSZE durchgeführtes Referendum über den künftigen Status dieser Territorien. Oder aber beide Seiten haben sich zumindest darauf geeinigt, diesen Streit für einige Jahre einzufrieren, bis die gesamtpolitischen Rahmenbedingungen für eine Einigung wieder besser geworden sind.

Viertens: Die NATO und die Regierung in Kiew haben das Vorhaben einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Militärallianz endgültig aufgegeben.

Die bereits seit 1997 vollzogene Aufnahme von 14 osteuropäischen Staaten in die NATO hat die von der Allianz selber festgelegte Voraussetzung, dass eine Mitgliedschaft „zu mehr Stabilität auf dem europäischen Kontinent beitragen“ müsse, nicht erfüllt. Diese Osterweiterung unter Missachtung der legitimen Sicherheitsinteressen Russlands betrieben die NATO-Staaten, weil sie sich als die „Sieger“ im Kalten Krieg sahen. Diese Hybris werden die westlichen Staaten ablegen müssen. Denn sonst wird bereits der erste notwendige Schritt zur Errichtung einer gesamteuropäischen Friedensordnung scheitern: weitgehende Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen bei atomaren und bei konventionellen Waffen sowie bei den Truppenstärken. Zu entsprechenden Verhandlungen hatten sich die NATO und die USA in ihren schriftlichen Antworten auf die Forderungen, die Putin im Dezember 2021 vorgelegt hatte, grundsätzlich ja bereit erklärt. Sollten die NATO-Staaten, deren Führungsmacht USA seit Anfang des Jahrtausends fast alle Verträge zur Rüstungskontrolle (Raketenabwehrvertrag ABM, das Mittelstreckenabkommen INF) sowie über vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum (Open Skys) einseitig aufgekündigt hat, bei künftigen Verhandlungen nur auf der Eindämmung militärischer Fähigkeiten auf Seiten Russlands bestehen, die eigenen Kapazitäten sowie bislang geplante Aufrüstungs- und „Modernisierungs"-maßnahmen aber für sakrosankt erklären, dann  wären diese Verhandlungen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dann käme ein unverzichtbarer Pfeiler für eine gesamteuropäische Friedensordnung nicht zustande.

Eine gesamteuropäische Friedensordnung mit Russland erfordert nicht nur sicherheitspolitische Deeskalationsmaßnahmen und militärische Abrüstung.  Ebenso wichtig ist auch eine Kooperation auf wirtschaftlichem Gebiet, zumindest aber die Berücksichtigung der legitimen wirtschaftlichen Interessen aller Beteiligten. Gegen diese Maßgabe hat die EU bei ihren bis Oktober 2013 geführten Verhandlungen mit der Ukraine verstoßen. Den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch stellte die EU vor die Alternative, entweder mit Brüssel eine Zollunion und ein Assoziierungsabkommen zu vereinbaren - als Zwischenschritte auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft - oder aber sich mit Russland, Belarus und Kasachstan in eine zentralasiatische Wirtschaftsgemeinschaft zu begeben. Die Ukraine, die damals über 50 Prozent ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen - Handel, Investitionen, Technologietransfer etc. - mit Russland hatte, vor eine derartige Alternative zu stellen, war ein schwerer Fehler der EU. 2016 schlug der damalige Bundesaußenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor, die Wirtschaftsexpert*innen der EU, Russlands und der Ukraine sollten sich an einen Tisch setzen und die Frage klären, wie die bestehende Zollunion zwischen Russland und der Ukraine mit einer künftigen Zollunion zwischen der EU und der Ukraine kompatibel gemacht werden könnte. Dieser völlig richtige Vorschlag Steinmeiers wurde damals aber leider nicht aufgegriffen. Bei künftigen Verhandlungen über eine Annäherung der EU an die Ukraine müsste dieser Vorschlag auf den Tisch kommen und müssten die legitimen wirtschaftlichen Interessen Russlands berücksichtigt werden.

Klimafreundliche Energiepartnerschaft mit Russland
Unerlässlich für eine dauerhafte Stabilität in Gesamteuropa wäre zudem eine nachhaltige und klimafreundliche Energiepartnerschaft mit Russland -  etwa durch die Produktion von grünem Wasserstoff in Russland (in Windkraftanlagen im windreichen Sibirien und Solarkraftwerke im sonnenreichen Südrussland) und seinen Export durch die bestehenden Pipelines nach Westeuropa. Ob eine derartige Energiepartnerschaft möglichst bald Realität wird, ist keine Frage technischer Machbarkeit, sondern ausschließlich des politischen Willens. Sie wäre dringend notwendig, um die fatale Abhängigkeit der russischen Volkswirtschaft von der Exploration, der Verarbeitung und dem Verkauf von Gas, Öl und Kohle in den nächsten 20 Jahren deutlich zu reduzieren. Ansonsten wird nicht nur Russland, sondern werden wir alle auf unserem gemeinsamen eurasischen Kontinent die Pariser Klimaziele krachend verfehlen. Eine Verringerung der Abhängigkeit der russischen Volkswirtschaft von fossilen Energien hätte zudem auch demokratiepolitische Folgen. Denn die Macht der Putin stützenden Oligarchen beruht ganz wesentlich auf ihrer Kontrolle über den fossilen Energiesektor Russlands.

Heilung für alle schwärenden Wunden  
 Eine gesamteuropäische Friedensordnung, die diesen Namen verdient, wird es aber erst geben, wenn all die schwärenden Wunden, die seit dem Fall der Berliner Mauer durch den Einsatz militärischer Gewaltmittel geschlagen wurden, nachhaltig geheilt und alle Territorialkonflikte durch einvernehmliche Verfahren beigelegt sind. Das gilt nicht nur für die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim und für die Donbass-Provinzen der Ukraine, sondern auch für die abtrünnigen Provinzen Georgiens und Moldawiens. Auch hier werden in einer neuen Friedensordnung keine russischen Truppen mehr stehen können. Und auch für die schwärende Wunde Kosovo/Serbien, die die NATO mit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg von 1999 und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo von Serbien geschlagen hat, muss dann eine heilende Lösung gefunden werden. Und zwar in einem einvernehmlichen Verfahren auch mit der Regierung in Belgrad.

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