Fantasy ohne viel Phantasie

von Christine Schweitzer

Zwerge, Elfen, Feen, Trolle, Dryaden, Goblins, Drachen, Werwölfe, Orks und andere nicht-reale Wesen – die meisten der europäischen Sagen- und Mythenwelt entsprungen – bevölkern die Geschichten, die als Fantasy bezeichnet werden, und die in den meisten Buchläden inzwischen einen eigenen Platz getrennt vom Regal für Science Fiction angewiesen bekommen haben. Ihre Leserschaft geht in die Millionen, allein Der Herr der Ringe wurde weltweit von 100-200 Millionen gelesen, Harry Potter von geschätzt 50-60 Millionen.(1) Die Abgrenzung von Fantasy zu Science Fiction ist bei weitem nicht klar.(2) Meine Definition wäre, dass Science Fiction im weitesten Sinne versucht, eine mögliche Zukunft zu skizzieren, während Fantasy diesen Anspruch nicht erhebt. Tendenziell ist sie eher rückwärtsgewandt, da die meisten Romane in Welten angesiedelt sind, die technologisch dem vorindustriellen Zeitalter entsprechen.(3)

Manche KommentatorInnen sehen die Wurzeln der Fantasy tatsächlich auch in den mittelalterlichen (oder sogar antiken) Sagen, in denen ebenfalls reale neben sagenhaften Wesen agieren, während andere die Literaturgattung als eine im 20. Jahrhundert entstandene ansehen. J.R.R. Tolkien, der oftmals als der Begründer der modernen Fantasy gilt – trotz des gleichzeitig schreibenden J.S. Lewis (Narnia) und einiger Autoren des 19. Jahrhunderts (z.B. Lewis Carrolls Alice im Wunderland) – hatte als Professor für englische Sprache seine Inspirationen ja bekanntlich in erster Linie aus der nordischen Legendenwelt (Beowulf etc.) geholt. Viele der modernen Fantasyschreiber sehen sich in seiner Tradition, was sich in mehrfacher Weise ausprägt – die Charakteristik der verschiedenen Sagenfiguren, z.B. Zwergen als wehrhafte Höhlenbewohner, Magie und Zauberei spielen eine wesentliche Rolle, und kaum ein Autor gibt sich mit einem alleinstehenden Buch zufrieden. Und zum vierten – und hier komme ich jetzt zum Thema, das für das Friedensforum interessant ist – die überwiegende Zahl der Erzählungen handelt von Krieg und Gewalt.

Kriegerhelden
Der typische Held (oder die typische Heldin) der Fantasy ist entweder schon ein Krieger (eine Kriegerin) (4), wird zu einem/einer im Laufe der Erzählung (5), oder lernt zumindest, sich mit Waffengewalt seiner/ihrer Haut zu wehren (6). Die dargestellten Konflikte sind gewöhnlich apokalyptischer Natur – es droht zumeist nicht weniger als Genozid, oftmals die Vernichtung der ganzen Welt oder deren Übernahme durch „das Böse“, was immer dies im Einzelfall sein mag, sei es ein böser Magier oder ein böser Gott.(7) Gewalt ist durchgängig nicht nur ein akzeptables, sondern das vorherrschende Mittel der Auseinandersetzung, und viele Fantasyromane handeln fast ausschließlich von Krieg.(8) Das gilt für dieses Genre dominierenden angelsächsischen AutorInnen ebenso wie für die junge Generation (praktisch ausschließlich männlicher) deutscher Autoren (Bernhard Hennen, Christoph Hardebusch, Markus Heitz, Frank Rehfeld usw.). Dabei macht es eigentlich wenig Unterschied, ob Grausamkeit von Krieg deutlich beschrieben wird, wie es manche AutorInnen durchaus tun. Im Gegenteil, da diese Grausamkeit letztlich hingenommen wird, selbst falls die Helden der Geschichte selbst darauf verzichten, entsteht eine pseudo-reale Welt, in der die Gewalt genauso legitimiert ist, als wenn über ihre Auswirkungen eher flüchtig hinweggegangen wird, wie es Tolkien, Lewis und andere Klassiker zu tun pflegten. Bei einigen Autoren kann schlicht auch nur von einer letztlich amoralischen Beziehung zu Gewalt gesprochen werden – Gewalt ist verurteilenswert, wenn sie der eigenen („guten“) Seite angetan wird, und „gut“, wenn man sie den anderen antut. Das herausragende Beispiel für letzteres ist (leider) David Eddings, dessen Elenium / Tamuli-Zyklus ansonsten und trotzdem wegen der Darstellung politischer Intrigen, der Borniertheit einer Ein-Gott-Kirche, während der Leser weiß, dass es tatsächlich über eintausend Götter gibt, und der liebevollen Durchzeichnung der handelnden Personen so lesenswert ist.

Obwohl die Bezeichnung Fantasy doch eigentlich nahelegt, dass dieses Genre ungebunden von den Schranken der Realität alternative Lebensentwürfe und Denkweisen schaffen könnte, ist sie zumindest im Hinblick auf Konflikt und Gewalt sehr konservativ, ja gewaltbejahender als die reale Durchschnittsgesellschaft, aus der ihre AutorInnen kommen. Phantasie beschränkt sich zumeist auf das erwähnte Vorhandensein von nicht-realen Wesen und von Magie. Der einzige „Gegenentwurf“, der sich ziemlich durchgesetzt hat, ist der, dass Frauen eine gleichberechtigte Rolle zugeschrieben wird, wobei diese Gleichberechtigung sich allerdings gewöhnlich ausschließlich darin ausdrückt, dass sie erfolgreiche Kriegerinnen, Königinnen und/oder Magierinnen sind. Andere Tabus werden (im Unterschied zur Science Fiction) kaum gebrochen – sexuelle Beziehungen sind fast durchgängig ausschließlich solche zwischen Mann und Frau (9), herrschaftsfreie Gesellschaftsentwürfe (anstatt Monarchien) sind im Unterschied zur Science Fiction mehr als rar (10) und gewaltfreie Konfliktaustragung im politischen Raum gibt es praktisch nicht.

Erneut gilt hier, was in den Anmerkungen schon mehrfach gesagt wurde: Die Ausnahme bestätigt die Regel, und ein paar solcher Ausnahmen möchte ich zum Schluss dieses Beitrages doch nennen.(11)

Ausnahmen bestätigen die Regel
Söldner beginnt Krieg in Frage zu stellen: Diese Entwicklung ist eines der Merkmale, die die Sonnenwolf-Trilogie der amerikanischen Autorin Barbara Hambly auszeichnet. Sie beginnt ganz herkömmlich mit der Geschichte eines Söldners, der von Frauen einer aufständischen Stadt angeheuert wird, um ihnen das Kämpfen beizubringen, weil sie den Herrscher, einen scheinbar unsterblichen Magier, stürzen wollen. Der Söldner entdeckt, dass er magisch begabt ist und wird im Laufe dieser Erzählung und des zweiten Bandes, in dem er dann zusammen mit seiner Partnerin in ein anderes Reich geht, zum Magier. Im dritten Band, in dem es auch wieder um Krieg geht, wird er von seiner alten Söldnertruppe, die er verlassen hatte, zu Hilfe gerufen. Aber obwohl sie widerwillig mitmachen, stellen beide fest, dass sie die Lust an Krieg verloren haben, seit sie sahen, wie friedliche Menschen leben.

Pazifist als Held: In dem dreibändigen Zyklus Der magische Bund von Stan Nicholls geht es um einen Aufstand gegen ein Unrechtssystem. Einer der Protagonisten, ein Opernsänger, ist Pazifist und weigert sich, eine Waffe in die Hand zu nehmen, unterstützt aber tapfer die Aufständischen. Selbst nach Festnahme, Folter und Verurteilung bleibt er seiner Überzeugung treu. Er wird mit viel Sympathie gezeichnet, aber: Es bleibt letztlich beim individuellen „gesinnungsethischen“ Akt, aktive Gewaltfreiheit als ein Mittel des Aufstandes – was ja durchaus naheliegen würde – kommt nicht vor.

Das „Böse“ wird in Frage gestellt: Auch dies hier ist kein wirkliches Beispiel für Gewaltfreiheit, aber zumindest ein Motiv mit einem gewissen Reiz, da es nahelegt, die üblichen Denkmuster von gut und schlecht, die ansonsten so allgegenwärtig gerade in der Fantasy-Literatur sind, zu durchbrechen. Dieses Motiv findet sich im Unterschied zu den beiden erstgenannten häufiger. Ein Beispiel wäre die Ork-Trilogie von Michael Peinkofer, wo der Protagonist, der (menschliche) Anführer einer kleiner Gruppe von Aufständischen (die zur Abwechslung mal nicht gegen die Apokalypse, sondern nur gegen eine Feld-Wald-und Wiesen-Diktatur kämpfen), in die Hände einer Gruppe von Orks gerät, die sich auf den Weg gemacht haben, eine bösen Magier zu finden, und sich mit ihnen trotz derer eher abstoßenden Gewohnheiten und anfangs ständiger Todesdrohungen anfreundet.

Es bleibt zu wünschen, dass einmal eine Reihe entsteht, die so gut geschrieben ist wie die Geschichten der meisten hier genannten AutorInnen, und in der eine Gruppe von Menschen, Elfen, Orks oder Zwergen – meinetwegen auch mit der Hilfe von Magie, um die Effektivität zu steigern – gewaltfrei gegen einen Gewaltherrscher, einen Möchtegern-Weltbeherrscher oder ein böses Wesen aus der Unterwelt vorgehen.

 

Anmerkungen
1) Quelle: http://www.phantastik-couch.de/das-phaenomen-harry-potter.html.

2) Vielleicht muss man dankbar sein, dass Fantasy von der Literaturwissenschaft als Trivialliteratur angesehen und deshalb nur wenig Beachtung gefunden hat – sonst wären wahrscheinlich weitere Bücherregale mit der Diskussion über die Abgrenzung, die Ursprünge und Quellen und die verschiedenen Motive gefüllt. Siehe die verschiedenen Beiträge in Hans Joachim Alpers et al, Lexikon der Fantasy-Literatur, Erkrath:Fantasy Productions, 2005, und http://www.phantastik-couch.de/fantasy.html.

3) Die Ausnahme bestätigt die Regel. Es gibt durchaus in der Gegenwart angesiedelte Geschichten, z.B. Der Morgen beginnt am Samstag der Brüder Strugatzki, die in einem Institut zur Erforschung des Magischen in der Sowjetunion der 60er Jahre spielt, die Wächter-Romane von Sergej Lukianenko oder der Bannsänger-Zyklus des amerikanischen Autors Alan Dean Foster, in dem ein junger Student aus den USA der 80er Jahre in eine Parallelwelt verschlagen wird, in der alle Tiere Intelligenz besitzen. Allerdings mag es kein Zufall sein, dass die genannten Autoren mit ihren anderen Werken eher der Science Fiction zuzuordnen sind. Eine andere Spielart sind Geschichten, die vom Charakter her der Fantasy angehören, aber in einer fernen Zukunft angelegt sind z.B. Anne McCaffrey mit ihrem 10-bändigen Drachenwelt-Zyklus, in dem drachenreitende Nachkommen einer Raumschiffexpedition von der Erde in einer einer ständisch-mittelalterlichen Welt allmählich frühere Technologie und ihre eigene Vergangenheit entdecken. Sehr ähnlich ist auch C.S.Friedmans Erna-Trilogie.)

4) Beispiele reichen von Robert Ervin Howards Conan (der inzwischen von zahlreichen Autoren weitergeschrieben wird) bis zu Bernhard Hennens Elfen-Romanen oder dem noch unfertigen Askir-Zyklus von Richard Schwartz.

5) Siehe Paolinis Eragon oder Tad Williams Drachenturm-Reihe.

6) Zum Beispiel die Zyklen des Franzosen Pierre Grimbert, die bislang nur teilweise übersetzt wurden, die erwähnte Bannsänger-Serie von A.D. Foster, und natürlich nicht zu vergessen J.K. Rowlings Harry Potter.

7) Eine Vielzahl von – oftmals sehr menschlichen – Göttern ist ein weiteres typisches Merkmal der Fantasyliteratur, aber im Unterschied zu den vorgenannten Merkmalen eines, für das nicht Tolkien verantwortlich zeichnet.

8) Selbstverständlich gibt es auch Romane, die dies nicht tun. Sie können hier nicht alle aufgezählt werden, aber um nur ein paar Beispiele zu nennen: Michael Bulgakows Der Meister und Margarita, Brandon Sandersons Elantris, die Kurzgeschichten von Andrzej Sapkowski über den Magier Geralt (aber nicht die jüngst fertig übersetzte Romanreihe mit dem gleichen Protagonisten), viele der Erzählungen von Marion Bradley Zimmer, Bernhard Hennens wunderbare im Köln-Bonner Raum angesiedelte Geschichte Nebenan und die Kinder- und Jugendromane von Michael Ende.

9) Wiederum gibt es Ausnahmen, z.B. die von deutlicher homoerotischer Spannung geprägte Geschichte Im Kreis des Mael Duin von Helga Glaesener, die ansonsten historische Romane schreibt, Marion Zimmer Bradleys Lythande-Erzählungen (1986), in eingeschränktem Maße die Tawny Man Reihe von Robin Hobb, und der Roman Winterplanet von Ursula K. LeGuin.

10) Bekanntestes Beispiel für eine Ausnahme ist hier erneut Ursula K. LeGuin mit ihrem Roman Planet der Habenichtse, der allerdings vielleicht zusammen mit den anderen beiden Hainish-Romanen eher der Science Fiction zuzuordnen ist.

11) Hier gilt wie für alle oben genannten Beispiele: Dieser Aufsatz ist kein wissenschaftlicher, und ich kann nicht beanspruchen, auch nur die Mehrzahl aller Fantasy-AutorInnen zu kennen. Es mag daher Geschichten geben, die hier genannt werden sollten, die mir nur schlicht nicht bekannt sind.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.