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Der Nord-Kaukasus
Fast schon ein Bürgerkrieg
vonFünf Jahre lang hatte der nordkaukasische Terror die Menschen in Russlands Metropolen in Ruhe gelassen, bevor er sie wieder 2009, 2010 und 2011 heimsuchte. Die blutige Spur des heimtückischen Anschlages auf den Moskauer Flughafen Domodedowo, bei dem am 24. Januar 2011 35 Menschen ermordet wurden, führt direkt zu Magomed Jewlojew in das kleine nordkaukasische Inguschetien. Im Juli 2007 war Magomed Jewlojew, der an dem Terroranschlag von Domodedowo beteiligt war, bei einer sog. „Säuberungsaktion“ in Inguschetien von staatlichen Sicherheitskräften misshandelt worden.
Die Dorfbewohner hatten die Verantwortlichen der „Säuberungsaktion“ vor einem Gericht angezeigt, doch ergebnislos. Derzeit wird ihre Klage vom Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg behandelt. Nach Ansicht des Menschenrechtler Timur Akiew von „Memorial“ könnte die „Säuberungsaktion“ von Ali-Jurt Jewlojew bewogen haben, sich den Aufständischen anzuschließen.
Die Gewalt in den nordkaukasischen Teilrepubliken Russlands hat 2010 einen neuen Höhepunkt erreicht. Einen traurigen Rekord erlebten hierbei die Nordkaukasusrepubliken Kabardino-Balkarien und Dagestan, wo die Gewalt um 350% bzw. 168% zugenommen hatte, während sie gleichzeitig in Tschetschenien und Inguschetien um 61 bzw. 47% Prozent abgenommen hatte.
Eine Statistik des Informationsservers der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, „Kavkaskij Usel“ vom 25.2.2011 zeigt, wie sehr der Terror im Alltag im Nordkaukasus gegenwärtig ist. Nicht enthalten sind die vielen weiteren Opfer der kriegerischen Gewalt.
Gemeinsam ist allen Republiken, dass der Islamismus in jeder Region eine Rolle spielt. Immer wieder kommen islamistische Kommandos aus den Bergen, um ihre Form einer islamischen Lebensweise herbeizubomben: in Inguschetien wurden Besitzer von Geschäften und Cafés ermordet, die Alkohol verkauften, in Dagestan wurde auf mehrere Frauen in einer Sauna das Feuer eröffnet, hatte man diese doch verdächtigt, dort als Prostituierte zu arbeiten. Im Februar 2011 ermordeten dagestanische Islamisten zwei Frauen, die Menschen aus der Hand ihr Schicksal lasen – dieser Mord ist eine moderne Form der Hexenjagd.
Doch es wäre zu kurz gegriffen, wollte man alle Konflikte im Nordkaukasus auf den Islamismus reduzieren. Jeder Konflikt hat eine Vorgeschichte, und jede Vorgeschichte hat eine weitere Vorgeschichte. Die staatlichen Sicherheitsorgane, die teilweise nicht einmal von den Machthabern der jeweiligen Republik kontrolliert werden, versetzen durch Folter und außergerichtliche Hinrichtungen die Menschen in Schrecken, bereiten mit ihrem Terror dem nichtstaatlichen Terror einen guten Nährboden.
Tschetschenien
Häufig kommt es vor, dass ein Tschetschene, wenn er an einer Frau Gefallen findet, diese entführt und zu einer Ehe zwingt. Diese „Ehen“ sind oftmals von sehr kurzer Dauer, werden sehr schnell geschieden.
Frauen, die sich „nicht den Traditionen entsprechend kleiden“, Miniröcke oder westliche Kleidung tragen, sahen sich wiederholt Angriffen mit Paintball-Waffen ausgesetzt, am helllichten Tag, mitten in Tschetscheniens Hauptstadt Grosnij und mit eindeutiger Billigung von Tschetscheniens Führung. „Wenn ich sie finde (gemeint sind die Täter, bc), werde ich ihnen meine Dankbarkeit aussprechen“ hatte Kadyrow laut „kasparov.ru“ am 13.9.2010 die Paintball-Überfälle auf tschetschenische Frauen kommentiert.
Wer lange im Ausland war, ist ebenfalls besonders gefährdet, verschleppt zu werden.
Tamara Magmadowa war wegen des Tschetschenienkrieges nach Südamerika geflohen. Nachdem Präsident Kadyrow wiederholt versichert hatte, Rückkehrer hätten nichts zu befürchten, ist sie mit ihrer Familie 2009 zurückgekehrt. Doch im Januar 2010 wurden ihr Sohn und ihre Tochter verhaftet. Sie sollen, so der Vorwurf, im Ausland Terroristen angeworben haben. Der Sohn war bei der Verhaftung schwer gefoltert worden. Die Mutter verzeiht sich bis heute nicht ihre Entscheidung, nach Tschetschenien zurückgekehrt zu sein.
Doch es gibt auch einen Lichtblick:
Lipchan Basajewa, Selita Gagajewa und andere Frauen haben die Nichtregierungsorganisation „Frauenwürde“ gegründet. Sie helfen den traumatisierten Frauen medizinisch, psychologisch, klären sie über die russischen Gesetze, die ja jegliche Form der Diskriminierung, Entwürdigung und Entführungen verbieten, auf, vermitteln ihnen Selbstbewusstsein.
Dagestan
Nirgends im Nordkaukasus ist die Presse so frei wie in Dagestan. Der dagestanische Präsident Magomedsalam Magomedow sucht den Dialog, auch mit gemäßigten Vertretern der salafistischen Gemeinschaft.
Am 7. April 2011 traf er sich mit Oleg Orlov sowie Ekaterina Sokirjanskaja und Svetlana Gannushkina von der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Dabei vereinbarte man für Mitte Mai einen Runden Tisch, der sich mit der Zivilgesellschaft und einem Ausweg aus der jetzigen Krise befassen soll.
Das Treffen zeigt: die oberste Führung des Landes bemüht sich tatsächlich, im Dialog einen Ausweg aus der Krise zu finden. Doch der Präsident kontrolliert sein eigenes Innenministerium nicht. Die dem Innenministerium unterstellte Polizei ist berüchtigt für ihre Folter und außergerichtlichen Erschießungen.
Inguschetien
2009 wurden in der kleinen Teilrepublik, die gerade einmal eine halbe Million Einwohner zählt und als Russlands Armenhaus gilt, 304 Menschen getötet. 2010 waren es „nur“ 148. Allein im Februar 2011 sind nach Angaben des „Kavkaskij Usel“ vom 15. März 2011 59 Menschen getötet und weitere 66 verletzt worden.
Nordossetien
Als einzige nordkaukasische Teilrepublik ist Nordossetien mehrheitlich christlich. Seit den 90er Jahren schwelt ein Konflikt mit der Nachbarrepublik Inguschetien. Stein des Anstoßes ist ein Gebiet in Nordossetien, das früher zur inguschisch-tschetschenischen autonomen Republik gehört hatte, von Stalin aber Nordossetien zugeschlagen worden war. In diesem Gebiet leben mehrheitlich Inguscheten.
Am 9. September 2010 sprengte sich ein Selbstmordattentäter am Markt der Hauptstadt Wladikawkaz in einem Bus in die Luft und nahm 19 Menschen mit sich in den Tod.
Nachdem inguschetische Islamisten die Verantwortung für den Anschlag übernommen hatten, zogen 300 ossetische Jugendliche mit Sprechchören wie „Ossetien vorwärts!“ zu der mehrheitlich von Inguscheten bewohnten Ortschaft Karza. Glücklicherweise stellte sich die Miliz den aufgebrachten Jugendlichen, die in Pogromstimmung waren, in den Weg.
Bereits 2002 sollen die Drahtzieher eines Terroranschlages, bei dem 10 Menschen in Nordossetien ihr Leben verloren hatten, aus dem Dorf Karza gekommen sein.
Und nachdem am 1. September 2004 Terroristen die Schule des nordossetischen Beslan überfallen hatten, hatten sich aufgebrachte Menschen in Richtung Karza auf den Weg gemacht. Glücklicherweise konnte auch damals durch die Miliz ein Pogrom verhindert werden.
Die Pogromstimmung in Nordossetien hat eine Vorgeschichte. Bei Pogromen 1992 gegen die inguschische Minderheit wurden Dutzende ermordet, um ein Haar wäre ein Krieg zwischen Nordossetien und Inguschetien ausgebrochen.
Als am 1. September 2004 in dem nordossetischen Städtchen Beslan in der Schule zum ersten Mal nach den Sommerferien die Glocke läutete, drang eine vor allem aus Tschetschenen und Inguscheten bestehende Terrorgruppe von mindestens 33 Personen in die Schule ein, nahm über 1200 Kinder und Erwachsene in Geiselhaft. Die Geiselnehmer gingen mit einer ungeheuren Brutalität vor, töteten mehrere Eltern vor den Augen ihrer Kinder. Nicht weniger erbarmungslos war die Reaktion der russischen Regierung. Nachdem diese sich von Anfang an geweigert hatte, mit den Geiselnehmern zu sprechen, griffen Sicherheitskräfte am 3. September mit Panzern und Granatwerfern, so die nordossetische Nichtregierungsorganisation „Die Stimme Beslans“, die Schule an. Waren während der ersten drei Tage der Geiselnahme durch die Terroristen 17 Menschen getötet worden, starben beim Sturm der Schule 314 Menschen. 700 weitere wurden dabei verletzt. Viele Kinder, so die Sprecherin der „Stimme Beslans“, Ella Kesajewa, seien durch die Panzergeschosse verbrannt. Durch ihre Weigerung, mit den Terroristen zu sprechen, so Ella Kesajewa, habe die russische Regierung eine Mitverantwortung an dem tragischen Ausgang der Geiselnahme.
Enttäuscht über die Untätigkeit der Regierung haben sich die Frauen und Männer der „Stimme Beslans“ um Ella Kesajewa entschlossen, ihr Schicksal und das Schicksal ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen.
„Die Stimme Beslans“ fordert eine neue Untersuchung der Ereignisse, Hilfsprogramme für die Opfer, einen rechtlich einklagbaren Status von Opfern von Terroranschlägen. Ihr Hauptvorwurf an die Regierung: diese habe sich durch ihre Weigerung, mit den Terroristen zu verhandeln, an dem Blutbad mitschuldig gemacht.
Was tun?
Der Nordkaukasus ist weit, die Konflikte sind undurchschaubar, einfache Erklärungsmuster führen nicht weiter.
Bereits Anfang Januar 2010 hatte der dagestanische Menschenrechtler Zaur Gasiew von Memorial im Radiosender „Echo Moskau“ vor der falschen Politik des Kreml gegen den Terror gewarnt. Diese Politik, so Gasiew, treibe viele Menschen den Terroristen direkt in die Hände.
Mit Denkverboten, Kriminalisierung, Verhaftungen, Erschießungen, wie dies von den Sicherheitskräften im Nordkaukasus praktiziert wird, erreicht man das Gegenteil, treibt viele Verzweifelte in die Hände der radikalen Islamisten.
Mit Rechtsstaat hat das nicht mehr viel zu tun, wenn Präsident Medwedew, so das Internet-Portal grani.ru vom 8.1.2009, sagt, Terroristen müsse man einfach vernichten, „brutal und systematisch“.
Auch von Deutschland aus können wir den Menschen im Nordkaukasus helfen. Immer wieder sollten wir gegenüber den russischen Behörden Rechtsstaatlichkeit einklagen, die Rechte von Frauen thematisieren.
Von unseren Politikern und Ausländerämtern sollten wir fordern, keine Abschiebungen von russischen Staatsbürgern, die aus dem Nordkaukasus stammen, zuzulassen.
Viele Nichtregierungsorganisationen im Nordkaukasus scheinen dem Druck, den die staatlichen Sicherheitskräfte auf der einen Seite und die Islamisten auf der anderen Seite auf sie ausüben, nur noch schwer standzuhalten. Diese Gruppen, wie „Memorial“, die „Mütter Dagestans“, die „Stimme Beslans“, die „Frauenwürde“, die „Soldatenmütter“, gilt es durch Partnerschaften und Einladungen zu Konferenzen zu unterstützen.