Die Nazidiktatur als Thema

„Ferien vom Krieg“

von Helga Dieter

Im Rahmen der Aktion „Ferien vom Krieg“ wurden seit 2002 jährlich etwa 200 junge Menschen aus Israel und Palästina (Westbank) nach Deutschland eingeladen, da es für sie zu Hause unmöglich ist, sich zu treffen, denn sie dürfen das Gebiet der anderen Seite nicht betreten.

Wir verstehen das Konzept der „Ferien vom Krieg“ als Beispiel dafür, dass es auf beiden verfeindeten Seiten junge Menschen gibt, die der Kriegspropaganda oder Friedensrhetorik der Herrschenden nicht mehr trauen und deshalb die „Anderen“ unter gleichberechtigten Bedingungen kennen lernen wollen. Wir schaffen einen angenehmen Rahmen für die intensiven Dialogprozesse. Verschiedene Versuche, auch soziale Probleme in Deutschland zu thematisieren, sind fehlgeschlagen. Die Kriegserfahrungen sind so unmittelbar und die Gelegenheit, dem „Feind“ in Augenhöhe zu begegnen, ist so einmalig, dass es für die meisten TeilnehmerInnen unerheblich ist, wo die Zusammenkünfte stattfinden.

Allerdings äußerten einige Teilnehmerinnen aus Israel anfänglich Skepsis: „Ich hatte mir geschworen, nie einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen, und nun bin ich ausgerechnet hier, um meine Nachbarn treffen zu können. Ich weiß noch gar nicht, welche dieser Erfahrungen wichtiger für mich ist.“

Viele junge Menschen aus Israel sind kriegsmüde und gehen ins Ausland. In Berlin gibt es bereits eine kleine Gruppe ehemaliger TeilnehmerInnen unserer Seminare. „Meine Familie ist entsetzt, nicht nur weil ich nicht mehr in Israel leben will, sondern weil ich ausgerechnet nach Berlin gegangen bin“, meinte eine Teilnehmerin.

Unsere Partnerorganisationen aus Israel haben das Thema Holocaust nie ausdrücklich in das Seminarprogramm aufgenommen, doch wenn die PalästinenserInnen über das Leiden ihres Volkes sprechen, erinnern die israelischen TeilnehmerInnen meist an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bei der Diskussion um die nationale Identität ist der Stolz der Einen ihr unabhängiger Staat, für die Anderen bedeutet dies die Katastrophe der Vertreibung bzw. Flucht („Nakba“). Die Israelis sind fassungslos, wenn die palästinensischen TeilnehmerInnen den Holocaust relativieren oder ihre Situation unter der Besatzung mit der Judenverfolgung vergleichen. Manchmal fragen die palästinensischen Jugendlichen beim deutschen Team nach, ob die israelische Propaganda die Opferzahlen nicht übertreibe?

Im Sommer 2009 hat Elai Rettig, ein junger Mann aus Israel, seine ambivalenten Gefühle in dem Seminar in Deutschland aufgeschrieben:

Meine Gefühle in Deutschland
Hallo, ich heiße Elai, und Eure Leute haben den größten Teil meiner Familie in Polen umgebracht, ich werde mich also mit meinen Fragen so zivilisiert verhalten, wie es mir möglich ist.

Ich habe mich auf dieses Abenteuer in Deutschland eingelassen, weil ich endlich einmal Palästinenser kennen lernen und mit ihnen reden wollte. Ich wollte ihre Geschichten hören und ihnen meine erzählen. Und ich wollte, dass sie Israelis begegnen, die keine Uniform tragen, und dass sie eine ehrliche Meinung darüber hören, warum Israel den Zaun gebaut hat. Sie sollten begreifen, dass Israel Terroristen und Raketen satt und alles getan hatte, was in seiner Macht stand, bis ihm nichts Anderes übrig blieb als Zäune und Grenzkontrollpunkte zu bauen.

Darüber hinaus wollte ich Leute von der anderen Seite kennen lernen und hören, welche Folgen unser Vorgehen für sie hat und so einen Eindruck von ihrer Realität erhalten. Ich kann ehrlich sagen, dass ich das alles bekommen habe.

Ich fand es nicht schwer, mit den Palästinensern zu reden, ihnen zuzuhören, mit ihnen Freundschaft zu schließen und zu realisieren, dass wir mit unseren Aktionen vielleicht mehr Schaden anrichten als zu einer Lösung beitragen.

Aber die Tatsache, dass sich das alles ausgerechnet in Deutschland abspielte, machte mir mehr zu schaffen, als ich dachte. Meine Großeltern sind alle aus Polen, und wie viele polnische Juden kamen sie nach Israel, nachdem sie den Holocaust irgendwie überlebt hatten. Die meisten ihrer Familienangehörigen hatten nicht so ein Glück, sie wurden von den Nazis umgebracht. Deshalb habe ich – wie die meisten Juden aus Europa – nur eine kleine Familie.

Der Holocaust hat immer noch einen großen Stellenwert in der israelischen Kultur und in meinem Leben. Wir sind alle mit den schrecklichen Geschichten über die Untaten der Nazis aufgewachsen, bis wir sie nicht mehr hören konnten. Junge Israelis gebrauchen heute das Wort „Holocaust” in einem sarkastischen Ton. Sie sagen zum Beispiel: „Mensch, was war diese Prüfung für ein Holocaust” oder „Es ist so heiß draußen, was für ein Holocaust.“ Sie machen böse Witze über den Holocaust und nehmen den jährlichen Holocaustgedenktag immer weniger ernst. Ich muss zugeben, dass ich auch so war.

Das änderte sich alles, als ich zum ersten Mal deutschen Boden betrat. … Plötzlich ging mir alles „Deutsche“ auf die Nerven, die Läden, die Leute und vor allem die Sprache. ... Mir wurde plötzlich klar, dass ich mich hier zwischen Menschen bewegte, die meine Familie umbringen wollten, bloß weil sie Juden waren. Ich wusste, dass die Leute um mich herum mit dem Holocaust nichts zu tun haben und damals vielleicht noch nicht einmal geboren waren, aber für mich hatten sie in diesem Augenblick alle etwas damit zu tun, sie waren alle verantwortlich. Es ärgerte mich, dass ein Land, das so viel Tod und Elend über die Welt gebracht hat, noch existiert und leben und prosperieren darf. Mir kam das wie ein grausamer Witz vor, es war so ungerecht.

… Ich begann, über den Holocaust in der Weise nachzudenken, dass ich mich fragte, warum ich nach Deutschland fliegen musste, um mit palästinensischen Studenten über das Leiden zu reden, das ihnen von meinem Land zugefügt wird. Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet wir über Menschenrechte belehrt werden müssen?

Als Kind lernte ich, dass wir uns zur Zeit der Gründung des Staates Israel schworen: „Nie wieder!“ Nie wieder soll das jüdische Volk wie Lämmer zur Schlachtbank geführt werden, nie wieder werden wir unsere Köpfe senken, während wir in ganz Europa verfolgt und ermordet werden und hoffen, dass es von selbst vorbeigehen wird. Nie wieder werden wir schwach und zerbrechlich sein wie unsere Vorfahren!

Wir wurden zu starken und stolzen Israelis erzogen, die über noch so viele einfallende Armeen triumphieren, die unmögliche Schlachten gewinnen, die nie kapitulieren und mit denen man sich nicht anlegen sollte, oder es würde einem Leid tun.

… Wir sind ein sehr kämpferischer Staat, weil wir dazu gezwungen sind, weil wir nie wieder eine unterdrückte Minderheit sein wollen. Es sieht aber so aus, dass wir Opfer unseres Bemühens wurden, nie wieder Opfer zu werden, und dass wir dabei Andere zu Opfern gemacht haben. In Deutschland war ich sowohl mit dem Volk, das uns zu Opfern gemacht hat, konfrontiert als auch mit denjenigen, die wir eben deswegen zu Opfern gemacht haben.

Natürlich muss ganz klar sein, dass ich den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht mit dem vergleichen will, was die Deutschen uns antaten. Wer hier Ähnlichkeiten zu sehen meint, der weiß entweder nicht, was in den besetzten Gebieten vor sich geht, oder er weiß nicht, was die Nazis taten. Wir verdienen keinen Preis dafür, dass wir nicht sind wie die Nazis. … Der Holocaust wird immer Teil unseres täglichen Lebens in Israel bleiben, aber er sollte als Symbol unseres Durchhaltevermögens und unseres unbeugsamen Willens, jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen, betrachtet werden und nicht als Vorwand für die Verletzung der Werte des Lebens und der Menschenrechte.

Ich habe viel gelernt in diesen beiden Wochen über die Notwendigkeit, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu konfrontieren um einer besseren Zukunft willen.

Kürzung des Artikels aus der Broschüre „Ferien vom Krieg im Sommer 2009“. „Ferien vom Krieg“ hat den Julius-Rumpf-Preis 2010 der Martin-Niemöller-Stiftung in Höhe von10.000 Euro in einer Feierstunde in der Katharinenkirche in Frankfurt/Main verliehen bekommen.

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Friedensbewegung international