Freiheit ist immer auch die Freiheit des anderen

von Heino Falcke
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1. Die Freiheit, die wir in der Selbstbefreiung des Volkes 89 erfahren haben, ist als aktive politische Beteiligung weiterzuführen und neu zu gewinnen.

1.1 In dein Satz "Wir sind das Volk" sprach sich der Anspruch und die Erfahrung aus: Wir sind das Subjekt des politischen Prozesses. Menschen, die 40  Jahre lang Objekt von Bürokratie, Plan, politischer Unterdrückung und Indoktrination gewesen waren; nahmen die Dinge in die Hand und lernten erstaunlich schnell den freihändigen aufrechten Gang. Dieser Vorgang der Selbstbefreiung von unten ist etwas völlig anderes als die Einführung einer freiheitlichen Ordnung von außen und oben.

Eben diese Verwechslung aber fand statt. Dem oft beschriebenen · und beklagten Angleichungs- und Vereinnahmungsprozeß haben wir selbst Vorschub geleistet, indem wir Angst vor der eigenen Courage bekamen, von den Altlasten des Systems deprimiert wurden, uns aus eigener Kraft den politischen Aufgaben nicht gewachsen fühlten. Per Beitritts- oder Anschlußprozeß im Zeitraffer machte die Subjekte von Politik erneut zu Objekten undurchschaubarer wirtschaftlicher- und politischer Mächte und Entwicklungen. Rückfälle in Nischenmentalität, ein Anspruchsdenken, das alles von "den Politikern", aber nichts von der, eigenen Aktivität verlangt und Ohnmachtsgefühle breiten sich aus. Wir müssen Freiheit als aktive politische Beteiligung neu gewinnen und ausbreiten.

Zwei Hindernisse auf diesem Weg möchte ich benennen:

1.2 Das erste Hindernis liegt in dem Systemdenken;. das sich auf politische Systeme und Systemalternativen fixiert. Kapitalismus gegen Sozialismus, soziale Marktwirtschaft gegen zentralistische Planwirtschaft. Das Scheitern des real existierenden Sozialismus wird als Sieg des westlichen Systems gedeutet. Orientierungslos, wie wir mich dem Scheitern der DDR sind, greifen wir nach Systemen, welche die unübersichtliche Wirklichkeit ordnen und lassen uns - erneut Objekte von Belehrung - in sie einweihen.

Demgegenüber möchte ich. an den Ansatz unserer Ökumenischen Versammlung erinnern. Wir setzten ein mit Zeugnissen der Betroffenheit, also mit konkreter Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wir nahmen uns die Freiheit, selber zu sehen und zu sagen, was ist. Politische Mündigkeit beginnt damit; daß wir eigene Erfahrungen wirklich wahr-nehmen und geltend machen. Habt den Mut, euren Augen und Ohren zu trauen und euch eure Erfahrungen nicht wegsystematisieren zu lassen!

Wir müssen also von konkreter Problemanalyse ausgehen und nach konkreten Lösungen suchen, die. unserer Situation entsprechen. Der Markt darf ebenso wenig als allgemeiner Problemloser fetischisiert werden, wie früher der Plan. Konkret ist zu fragen, wo er das geeignete Instrument ist (z.B. bei Konsumgütern und Dienstleistungen), wo wir unsere unsicheren politischen Instanzen zur Lenkung und Kontrolle ermutigen und wo wir umfassende Planung fördern müssen. Zum Wohnungsproblem z.B. schrieb John Kenneth Galbraith in der ''Zeit“: Im übrigen hat die Privatwirtschaft bisher nirgendwo angemessene und preiswerte Wohnungen für die Bürger mit niedrigem Einkommen geschaffen." (Nr. 44, 26. 10.1990)

Bei dieser konkreten Problemanalyse sollte uns der Problemhorizont und das Problembewußtsein der Ökumenischen Versammlung leiten. Ihre drei vorrangigen Optionen sprengen unsere deutsche Nabelschau und das marktwirtschaftliche System. Keiner von uns hat ein Konzept. Wo·aber kein Konzept ist, müssen wir uns leiten·lassen von·der Sensibilität für die Nöte. Wo die Nöte am größten sind, wo Angst ist, da·geht's lang! Kurt Biedenkopf hat einen Aufsatz über die Politikfähigkeit des konziliaren Prozesses und die Prozeßfähigkeit der Politik geschrieben. Politik müsse prozeßfähig und so zukunftsfähig werden.  Darum brauchen wir auch eine Verfassungsdiskussion, die das Grundgesetz weiterentwickelt. Wir sollten Freiheit weniger in Systemen als in Prozessen der Befreiung denken, die Systeme transformieren.

1.3 Dazu gehört auch, daß wir die Politik nicht der Professionalisierung überlassen.

Natürlich zeigte sich im letzten Jahr ein riesiger Nachholbedarf an politischer Professionalisierung- als aus Gruppen Parteien, aus Gruppensprechern Abgeordnete und Minister wurden und werden mußteen. Aber wir haben auch schon·die neue·Entfremdung zwischen Volk und Volkskammer erlebt und wie die Selbstbefreiung des DDR-Volkes parteipolitisch institutionalisiert wurde.

Die. Verhandlungsgeschwindigkeit des Einigungsprozesses erstickte dessen demokratischen. Anfang in einem erschreckenden Maße. Wir werden auch in Zukunft Basisgruppen und Bürgerbewegungen brauchen. Sie sind ein unerläßlicher Wurzelgrund für basisdemokratische Willensbildung und Partizipation und ein unverzichtbarer Anwalt langfristiger politischer Verantwortung im Kampf kurzfristiger politischer Interessen.

2. In die Freiheitsangebote und Unfreiheiten unserer Gesellschaft haben wir ein kommunikatives Freiheitsverständnis einzubringen.

Viele Angebote von Freiheiten stehen vor uns: der freie Markt, freies Unternehmertum, die demokratischen Freiheiten, Reisefreiheit, neue Konsumfreiheiten. Welches ist die Freiheit, die wir meinen?

Wir kommen her von einem kollektivistischen Freiheitsverständnis. Die Glücks- und Zauberformel des Sozialismus lautete, daß das Wohl der Gesellschaft zugleich das Wohl des einzelnen sei. Wir wissen, daß das fauler und. betrügerischer Zauber war. Jetzt schlägt der Kollektivismus in eine Privatisierung der Freiheit um. Die Postmoderne löst den Sozialismus ab. An die stelle der aufgezwungenen Einheit tritt das Lob radikaler Vielfalt; an die Stelle der Hingabe für die Sache des Sozialismus die Selbstverwirklichung, an die Stelle der Kommandowirtschaft das Lob. des freien Unternehmertums und der Selbstdurchsetzung im Konkurrenzkampf. Dem einen falschen Menschenbild kaum entronnen verfassen wir einem Menschenbild, das von der biblischen Einweisung ins Menschsein ebenso weit entfernt ist.

Das Mißverständnis der Freiheit macht Geschichte und in dieser Geschichte treten Individualität und Sozialität in Konflikt. Im Liberallismus und Sozialismus wurden sie gegensätzliche politische Bewegungen. Nur indem sie sich wechselseitig korrigieren, können wir uns im politischen Raum der wirklichen Freiheit annähern. So wie es ein Grundfehler des Leninismus war, die liberalen Traditionen auszugrenzen statt in sich aufzunehmen, so ist es derselbe Fehler mit umgekehrtem Vorzeichen, wenn man heute die linken sozialistischen Traditionen verleugnet, die doch den freien Markt allererst wenigstens teilweise humanisiert haben. Der Markt steigert die Leistung, aber er ist ein untauglicher Kompaß auf dem Weg zur sozialen Gerechtigkeit und braucht dazu die Korrektur sozialer Politik und sozialer Bewegungen.

In den fünf neuen Bundesländern brechen jetzt die sozialen Schmerzen des Einheitsprozesses auf. Uns fehlt weithin das Abwehrsystem, das die Aggressivität des Marktes sozial domestiziert. In den konkreten Konflikten der gesellschaftlichen Interessengruppen hilft kein allgemeiner Appell zur Mitmenschlichkeit. Die vorrangige Option für die Armen wird hier zum Kriterium und Testfall der Sozialität. Unserer neuen Freiheit ist das „Lernziel Solidarität“ aufgegeben (H. E. Richter). Die Kirche hat da solidarisch präsent zu sein, wo die Befreiung der an den Rand Gedrängten, Benachteiligten und Ausgegrenzten auf dem Spiele steht.

Das Konsequenzen für den Ort der Kirche in unserer Gesellschaft. Diese wird sich offen und flexibel halten müssen für·die akuten Notstände und·Menschengruppen, die auf uns zukommen. Sie wird sich in das Sozialwesen des Staates so weit hineingeben, als es Instrument für ihren Dienst sein kann, sie wird sich aber nicht für dieses Sozialwesen instrumentalisieren lassen dürfen. Wir müssen uns die vorrangige Option für die jeweils Armen, für die im Dunkel, die man (noch) nicht sieht, frei und offen halten müssen.

3. Wer Freiheit will, muß Verantwortung für die Bedingungen der Freiheit übernehmen.

Die drei vorrangigen Optionen der Ökumenischen Versammlung für die Armen, die Gewaltfreiheit und den Schutz und die Förderung des Lebens sind auch als Verantwortung für die Bedingungen der Freiheit auszulegen.

Das Abschreckungssystem wurde im Westen als Bedingung westlicher Freiheit und im Osten als Bedingung sozialistischer Freiheit gerechtfertigt. Die Freiheit in Europa aber wurde gefördert durch die gewaltfreie Perestroika der Sowjetunion, die Entspannungspolitik und das politische Umdenken im Zeichen des Konzeptes der „Gemeinsamen Sicherheit“ und die dadurch allererst ermöglichten gewaltfreien Befreiungsbewegungen in Ost-und Mitteleuropa. Im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel und der technisch hoch komplexen wie hoch sensiblen Industriegesellchaften gehört Gewaltfreiheit zu den Bedingungen der Freiheit, Terrorismus, aber auch der „Atomstaat“ (Robert Jungk) führen zum Überwachungsstaat, der demokratische Freiheiten einengt. Wer eine freiheitliche Gesellschaft will, muß. politische Bedingungen schaffen, die  gewaltfreie Konfliktlösungen ermöglichen und Menschen davor bewahren, zur Gewalt als ihrer letzten·Zuflucht zu greifen.

Die gewaltfreie Revolution des vorigen Herbstes soll nicht als Wunder bestaunt und als Heldentat gefeiert, sie muß analysiert, ausgewertet und für neue Konfliktsituationen fruchtbar gemacht werden.

Der Freiheit in Europa wird nur wirklich gedient, wenn durch einen wirtschaftlichen Ausgleich zwischen West und Ost künftige gewaltträchtige Konflikte verhindert werden.

Das Florieren des freien Marktes im Westen hat zu einer seiner Bedingungen die Ausbeutung der armgemachten Völker. Das Lob des freien Marktes muß sich vor dem Faktum verantworten, daß er Millionen Menschen die Freiheit zu einem menschenwürdigen Leben verweigert und zerstört. Gerechtigkeit als gerechte·Weltwirtschaftsordnung ist beute nicht mehr nur eine Forderung verantwortlicher Freiheit, sondern sie gehört zu den Bedingungen der Freiheit. Das gilt jetzt schon für die Opfer des internationalen Marktes, langfristig gilt es aber auch für die Nutznießer dieses Marktes.

Unsere Freiheiten müssen wir schließlich auch verantworten vor den künftigen Generationen. Die Bedingungen ihrer Freiheit werden durch unseren Umgang mit der Schöpfung vorbestimmt, eingeengt, zerstört· oder offengehalten. Die ökologischen Katastrophen, die wir durch unseren Umgang mit der Erde heraufbeschwören, sind eine Folge unseres Mißverständnisses der Freiheit als Herrschaft und als Ausweitung von Herrschaft, als Wachstum und Fortschritt. Daß wir dem Schutz und der Förderung des Lebens Vorrang vor den wirtschaftlichen Wachstums- und Steigerungsinteressen geben, ist zur Bedingung der Freiheit geworden.

Wozu haben wir uns im Herbst 89 befreit? Die Freiheit liegt nicht in der Option für den Westen. Ob die Option für die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ in die Freiheit führt, wird davon abhängen, ob wir den vorrangigen Optionen der Ökumenischen Versammlung jetzt wirklich folgen.

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Heinz Falcke ist Probst in Erfurt