Tschetschenien

„Freiwillige Knechtschaft“?

von Barbara Gladysch

„Lebt das tschetschenische Volk unter der ‚freiwilligen Knechtschaft’ ihres Oberhauptes Ramzan Kadyrow?“. Diese Frage oder ähnliche Fragen  werden mir immer wieder gestellt. Man bittet mich um meine Einschätzung, Beobachtung, um meine Meinung. Hier ist meine „persönliche Stellungnahme“ dazu:

Alles, was das Oberhaupt (früher: Präsident) des tschetschenischen Volkes, Ramzan Kadyrow, tut – oder nicht tut –, „dient nur dem Wohl des Volkes“. Daran glauben die allermeisten Untertanen und sind deshalb bereit, alle Macht dem Herrscher anzuvertrauen: ihrem „Vater des Volkes“,  der stark ist, der imponiert und den Anschein erweckt, er würde das Wohlergehen des Volkes persönlich garantieren.

Um die alleinige Herrschaft zu erhalten, muss sich Kadyrow mit Gewalt gegen aufmüpfige Widersacher durchsetzen, die ihm im Weg sind und seinen politischen Vorstellungen widersprechen und/oder ihnen zuwiderhandeln.

Wie weit diese „Machtausübung“  geht (Morde, Verschwindenlassen von Kritikern, Bestrafen, Erpressen), entscheidet Ramzan Kadyrow allein. Seine loyalen „Kadyrowzis“ führen aus, was er anordnet.

Ich teile die Tschetschenen grob auf in drei Gruppen:

Zur Gruppe 1 gehören die Tschetschenen, die sich wenig oder gar nicht um die gewaltsamen Methoden und brutalen Bestrafungsaktionen ihres Herrschers kümmern; sie erfahren nichts oder wenig darüber, interessieren sich nicht viel für „Politik“ (wie sie sagen), und wenn sie etwas wissen, dann tun sie so, als wüssten sie nichts. Diese erste Gruppe ist m. E. die größte; die Menschen freuen sich an den Fortschritten, an den Wohltaten, sind dafür dankbar - aber huldigen nicht. Sie machen es sich bequem, gucken weg und schweigen. Sie verhalten sich loyal.

Zur Gruppe 2 zähle ich die Tschetschenen, die genau das Gegenteil tun, nämlich laut und vernehmlich die unrechtsmäßigen Gewalttaten ihres „Herrn“ unterstützen oder sie zumindest als legitim betrachten.  

Die Claqueure, vor allem junge Männer, mischen sich in das neue tschetschenische Leben munter ein, brausen schnell und laut hupend im Mercedes mit schwarzen Autoscheiben durch die Straßen von Grosny und besprühen mit Farbpistolen Frauen und Mädchen, die keine Kopftücher tragen. Sie achten auf „Sitte und Ordnung“ und erfreuen damit ihr Oberhaupt. Diese Claqueure sind mehr als zufrieden: es ist ihre Zeit, ihre Stadt, ihr Leben, ihr Vorbild: Ramzan.

Die dritte Gruppe gibt es in der Öffentlichkeit nicht: die Menschen, die zu dieser Gruppe gehörten bzw. gehören, sind verschwunden, ermordet, ins Ausland geflohen … oder müssen sich im Verborgenen aufhalten.

Offiziell könnten heute dazu noch die Mitarbeiter von Memorial und Mitglieder anderer Menschenrechtsgruppen in Tschetschenien gehören. Es sind Tschetschenen, die nach der Wahrheit fragen, sie suchen und öffentlich machen.

Es gibt diese Menschen noch! Auch noch im eigenen Land. Weder „freiwillig“ noch „unfreiwillig“ würden sie sich der Knechtschaft beugen. Sie sind mutig – so lange, bis ihnen selbst der Atem ausgeht, weil die Luft um sie herum immer dünner wird.

Ich darf diesen Freunden nicht mehr begegnen; der FSB ( Geheimdienst) verbietet mir diese Treffen. Täte ich es trotzdem, würde ich sofort ausgewiesen, dürfte nicht mehr einreisen …, und meine Freunde um mich herum brächte ich in große Gefahr.

Also: sprechen wir am besten nur von zwei Gruppen. Über sie lässt es sich gut regieren: die „Diktatur zum Wohle des Volkes“ – mit uneingeschränkter Machtfülle ausstaffiert.

Die Macht braucht Bewunderung
Der Herrscher ist populär, er setzt sich „ins rechte Bild“, er betreibt Propaganda für sich: Dem Volk werden Beweise seiner Stärke, seiner Popularität, seiner Volksnähe und Machtfülle in imposanter Weise (z.B. durch tägliche Fernsehauftritte) vorgeführt. Untergebene werden gelobt oder auch getadelt, er streichelt Kinderköpfe, verschenkt Geld an eine arme Witwe, stellt einer kinderreichen Familie eine Wohnung zur Verfügung etc.

So werden täglich seine Autorität, seine Glaubwürdigkeit und seine Beliebtheit dem Volk nahe gebracht. Die Menschen nehmen Anteil an Kadyrows Handlungen und fühlen sich informiert. Das schafft Vertrauen – sowohl  bei den Loyalen, erst recht bei den Claqueuren. Schweigen und Beifall bedeuten Zustimmung. Dies ist Garant für die „Ruhe“ im Land. „Ruhe“ ist die erste Bürgerpflicht. Wer die Ruhe stört, wer ein „Störenfried“ ist, wird bestraft. Wie – das wissen alle!

Russland: Politik der „Tschetschensierung“
Ramzan - wie auch sein Vater Achmed Kadyrow - sind bzw. waren Tschetschenen, und nur „einer aus dem Volk“ kann die Tschetschenen regieren. Kein Russe kann das, darf das. Das wusste Putin. Klug und vorausschauend erfand er 2002 das „Programm der Tschetschnisierung“, das zur Befriedung im Land führte.

Putin mischt sich nicht in die „Regierungsgeschäfte“ des tschetschenischen Oberhauptes ein. Auch Medwedew tut es nicht. Warum nicht? Es gäbe Gründe genug zur Einmischung, z.B. die russische Verfassung, die auch für die Teilrepublik Tschetschenien gilt.

Aber Kadyrow einfach gewähren zu lassen, ihn an der „langen Leine“ zu führen, ihm das Gefühl der absoluten Macht in seinem Land zu geben – das ist List und Klugheit zugleich.

Kadyrow weiß, was tschetschenisch ist, wie echte Tschetschenen zu leben haben, was eine wahre tschetschenische Kultur ausmacht. Eng miteinander verbunden sind islamische Religion, waynachische Gebräuche, tschetschenische Sitten und natürlich - die Autorität der Männer.

Mit dieser „Gemengelage“ stimmt die russische Verfassung nicht immer überein.

Aber das stört niemanden in Grosny – verständlicherweise auch nicht in Moskau.

Ramzan kann tun und lassen, was er will, solange die russische Regierung schweigt. Sie schweigt, weil es einen besseren Statthalter für die Russen in Tschetschenien nicht geben kann. Die Abhängigkeit zahlt sich aus: Milliarden von Rubeln aus Moskau fließen seit Jahren nach Grosny. Wer ist hier Herr und wer der Knecht? In wessen Knechtschaft haben sich Putin und Medwedew, in wessen Knechtschaft hat sich Kadyrow begeben? Wer ist von wem abhängig?

Auf großen Plakatwänden, an Fassaden von riesigen Gebäuden in Grosny schaut Ramzan – mit seinem Vater Ahmed oder Putin oder Medwedew - auf sein Volk herab: „Schaut her, was wir für Euch Gutes getan haben und noch tun werden!“ ist die Botschaft. Der Frieden heißt jetzt „Putin“: Straßennamen werden einfach ausgetauscht, aus der „Straße des Friedens („mir“) wird  „prospekt Putina“. Die Symbolik ist Programm.

Trotzdem: es fehlt etwas Wichtiges in dieser Stadt
Die Vergangenheit ist aus dem Land, aus der Stadt vertrieben worden. Sie hat nirgendwo einen Platz zum Erinnern. Die Gegenwart ist zu mächtig, als dass sie zuließe, einen Blick zurück zu werfen. Sich erinnern ist nicht produktiv; fragen, nachdenken, trauern, all das beeinträchtigt das Wohlbefinden. Erinnerungen stören die Gegenwart. Wahrheiten werden weggesperrt, werden als Lügen bezeichnet oder sind einfach „verloren gegangen“.

Unter den Fundamenten der neuen Stadt Grosny ruht das Verschweigen.

Die Wahrheit von gestern ist die Lüge von heute. Die Wahrheit stört,  sowohl den Herrscher, als auch das Volk. Interessiert sich heute überhaupt jemand für die Wahrheit? Wer hat wann, warum, wofür, in welchem Namen KRIEG gegen wen zu welchem Zweck mit welchem Ziel geführt? 

Auf Wahrhaftigkeit ist die Regentschaft des Oberhauptes der Tschetschenen nicht aufgebaut. Die Wahrheit braucht man nicht zum Leben, aber Wohnung, Essen, Kleidung,  funktionierende Schulen und Krankenhäuser, Parkanlagen und den Fußballplatz … und eine teure Fußballmannschaft „Terek“. Auch in der Universität darf nicht die Wahrheit gesagt werden; um das zu verhindern, sitzen FSB-Spitzel in der hinteren Reihe, wenn ich Studenten in deutscher Sprache unterrichte.

Die Tschetschenen werden leugnen, dass sie  „abhängig“ sind, dass sie in ihrem  eigenen Land „unfrei“ sind, dass sie von Ramzan Kadyrow „in Knechtschaft genommen“ werden. Der Tschetschene wird stolz sagen, dass er nur seinem Vater, seiner Familie, seiner Verwandtschaft, seinem taip (Clan) gegenüber gehorsam ist, sich an diese uralten Regeln hält und nur dort in seiner Sippe Rechenschaft ablegen muss; das sind die einzigen Autoritäten, die er anerkennt. Erfahrung im Umgang mit einem „tschetschenischen Präsidenten“ hatten die Tschetschenen noch nie. Ramzan und sein Vater Ahmed Kadyrow sind/ waren bisher die ersten „Politiker“ von Russlands „Gnaden“, die Oberhaupt des tschetschenischen Volkes sind.

„Wir sind freie Menschen, leben jetzt endlich in Frieden und sind nicht Knechte! Wir sind nur Allah und unseren Vätern Gehorsam schuldig, sonst niemandem“, sagen die Tschetschenen. „Natürlich ist Ramzan das politische Oberhaupt unseres Volkes … er muss regieren, Politik machen für unser ganzes Land – und das macht er gut! Er hat unser Vertrauen. Uns geht es endlich wieder gut nach zwei Kriegen. Wir Tschetschenen brauchen einen starken Mann: Er ist Vorbild für uns, vor allem für unsere Jugend. Er ist ein aufrechter Tschetschene, ein gottgefälliger Mann. Und Gott möge ihm beistehen sein ganzes Leben lang!“

Freiwillige Knechtschaft leben
Die „unfreiwillige“ Knechtschaft kennen die alten tschetschenischen Männer und Frauen noch gut. Immer wieder wurde das kleine Volk der Tschetschenen unterdrückt, besiegt, deportiert. Auch in Zeiten der Verbannung haben sie nichts von ihrem Stolz und Freiheitsdrang eingebüßt: sie blieben immer ihre eigenen Herren und ließen sich nicht knechten.

So erzählten es mir die Tschetschenen, früher.

Auch die russische Literatur berichtet darüber.

Im Kriegsjahr1996 war ich das erste Mal in Grosny, danach noch 23 Mal. Ich habe viel, sehr viel erfahren, gehört, gesehen von dem Land, seinen Bewohnern, der Tradition, Kultur, Religion; ich habe mit den Tschetschenen Angst und Hoffnung geteilt … im ersten Krieg, in der Zwischenkriegszeit, im zweiten Krieg … und die Jahre danach – bis heute: 2011. Das waren gefährliche, aufregende, traurige …  und auch wunderbare gemeinsame Zeiten!

Heute brauche ich den Tschetschenen keine Ermutigung, Aufmunterung, Solidarität und Unterstützung mehr geben; meine Verbundenheit zu ihnen löst sich langsam auf. Ich mache mich überflüssig – und das ist gut so. Nicht gut ist, dass das gegenseitige „Vertrautsein“ abhanden kommt. Wir sind uns in den letzten Jahren immer fremder geworden, haben langsam Abstand voneinander genommen.

Dafür interessiert sich der Geheimdienst für mich! Eine neue, unliebsame Erfahrung und Begegnung! Ich beunruhige mein Umfeld. Ich will niemanden in Gefahr bringen und nicht zum „Knecht“ werden!

So werde ich mich in diesem Jahr von den kleinen und großen Menschen in Tschetschenien verabschieden –

mit Zweifeln und Sorgen im Kopf … und Traurigkeit im Herzen.

Ich wünsche diesem mir lieb und vertraut gewordenen Volk so viel Gutes!

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Schwerpunkt
Barbara Gladysch, Jahrgang 1940, Begründerin 1981 von „Mütter für den Frieden“, „Kinder von Tschernobyl“ e.V. 1991, früher Projekte in Belarus, Bosnien und Kosovo; jetzt nur noch in Tschetschenien: „Kleiner Stern“; in Deutschland: Beratung und Unterstützung von Flüchtlingen, die von Abschiebung bedroht sind; „save me“-Kampagne in Düsseldorf; pensionierte Sonderschullehrerin, Großmutter von zwei wunderbaren Enkelkindern.