Noch viel Arbeit ist zu tun

Friedensbewegung in der Ukraine und in Russland

von Yurii Sheliazhenko
Schwerpunkt
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Der Frieden wird von den Menschen in der Ukraine und in Russland sehr geschätzt und gelegentlich gepriesen, aber ein konsequenter Pazifismus ist im politischen und gesellschaftlichen Leben fast nicht vorhanden. Nur wenige Enthusiast*innen wagen es, für Gewaltlosigkeit, Antimilitarismus und Antikriegspolitik zu werben. Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung verweigert aus Gewissensgründen den Wehrdienst und vermeidet es, dies öffentlich zu tun. Friedensarbeit und -erziehung entwickeln sich langsam und folgen globalen Trends, meist im Rahmen von internationalen Projekten und ausländischer Hilfe. Jegliche Friedensbewegung wird durch unsere traditionelle Kultur der Gewalt und des Krieges enorm behindert.

Am aktivsten und erfolgreichsten waren die Friedensbewegungen vor dreißig Jahren, in den letzten Jahren des Kalten Krieges und der demokratischen Veränderungen in den postsowjetischen Ländern. Die wichtigsten Errungenschaften dieser Zeit waren die nukleare Abrüstung (einschließlich der Abschaffung der Mittelstrecken-Atomwaffen in Russland und des Verzichts der Ukraine auf ein Atomwaffenarsenal) und die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes für einige religiöse Verweigerer des Militärdienstes aus Gruppen, die zuvor während des kommunistischen Terrors gegen „Sekten" und „Kosmopolitismus" unterdrückt worden waren. Diese Errungenschaften können sowohl auf formelle als auch auf informelle Friedensbewegungen zurückgeführt werden.

Offizielle Friedensbewegungen in Russland und der Ukraine
In der Sowjetunion gab es eine zentral organisierte offizielle Friedensbewegung, ein Propagandainstrument der Kommunistischen Partei, die den Ehrgeiz hatte, die Welt zum Frieden zu führen, aber die sogenannten bürgerlichen Pazifist*innen verurteilte, weil sie sich weigerten, einen Klassenkampf zu führen. Die offizielle Friedensbewegung schuf eine Art primitive Friedenskultur, indem sie weiße Tauben mit Olivenzweigen im Schnabel und Slogans der universellen Freundschaft zwischen den Menschen popularisierte. Sie lehrte jedoch in trügerischer Weise, dass Frieden durch einen gerechten Krieg wie den Großen Vaterländischen Krieg zu erreichen, der Westen ein existenzieller Feind und die Rote Armee unbesiegbar sei. Diese sei, aufgrund der heiligen Pflicht der Bürger*innen, das Vaterland zu verteidigen, und aufgrund der besten Waffen, einschließlich mächtiger Atomwaffen, die jedes Jahr bei den Paraden zum Tag des Sieges in Moskau vorgezeigt werden, die stärkste Kraft auf dem Planeten (selbst nach Gorbatschows Aufruf von 1986, die Atomwaffen abzuschaffen).
Obligatorische Manifestationen von Arbeiter*innen und Student*innen, die dazu aufriefen, den Militarismus im Ausland, nicht aber in der Sowjetunion zu stoppen, machten diese offizielle Friedensbewegung zu einem schlechten Witz von gigantischem Ausmaß, wenn auch einem gut finanzierten. Nach der Auflösung des kommunistischen Imperiums organisierten ihre russischen und ukrainischen Zweige unabhängig voneinander weiterhin lokale symbolische und wohltätige Veranstaltungen nach dem alten Paradigma des gut bewaffneten Friedens und bedienten damit die Ambitionen einiger Teile der politischen Elite, als Friedensstifter dazustehen, ohne sich darum zu bemühen, die militaristische Kultur des Mainstreams in Frage zu stellen. Während des aktuellen Russland-Ukraine-Konflikts, der 2014 begann, waren beide Teile der ehemaligen  sowjetischen Friedensbewegung in Kriegsanstrengungen verwickelt, unterstützten Kämpfer im Donbass und beschönigten die auf Eskalation ausgerichtete  Politik der jeweiligen Regierungen in internationalen Gremien.
Dieser doppelzüngige  Frieden wurde zum gängigen Bestandteil manipulativer Politik, die von führenden nationalen Politiker*innen betrieben wird. Putin spricht vom „russischem Frieden", droht aber damit, dass die Ukraine ruiniert wird, wenn sie von ihm getrennt wird, und baut die sowjetische Kriegsmaschinerie weiter auf. Zelensky versprach den Ukrainer*innen den „Frieden zu unseren Bedingungen" und verfolgte eine militaristische Politik: Nichteinhaltung der Minsker Vereinbarungen, Erhöhung der Militärausgaben und Stärkung der Streitkräfte, Anwerbung von NATO-Unterstützung und militärischer Hilfe, Einführung drakonischer Strafen für Wehrdienstverweigerer und Mobilisierungsverweigerer, Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in den militarisierten „nationalen Widerstand" mit obligatorischer militärischer Ausbildung zusätzlich zur postsowjetischen „militärisch-patriotischen Erziehung", die den Schulkindern sowohl in der Ukraine als auch in Russland immer noch die Mentalität des Kriegers aufzwingt. In den seltenen Fällen, in denen sich die politische Elite gegen die Eskalation des Ukraine-Russland-Konflikts wehrt, verfolgt sie eher Eigeninteressen als den Frieden: So hat das ukrainische Parlament nach dem Zwischenfall in der Straße von Kertsch 2018 den ehemaligen Präsidenten Poroschenko daran gehindert, das landesweite Kriegsrecht zu verhängen und die Präsidentschaftswahlen zu verschieben.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, folgen die Akteur*innen der Zivilgesellschaft der offiziellen Friedensheuchelei oder fördern offen den Militarismus. Einige sowjetische Dissident*innen protestierten gegen die Kriegsmaschinerie, aber ihr Hauptanliegen waren Menschenrechte und nationale Befreiung. Während der Stagnation des kommunistischen Imperiums entstanden informelle Gruppen von Internationalist*innen, Hippies, Anti-Atom-Aktivist*innen und Friedensforscher*innen, darunter die „Gruppe für die Schaffung von Vertrauen zwischen Ost und West" in Moskau und Lwiw (Lemberg). Es gelang ihnen, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie wurden von den Behörden verfolgt, konnten keine organisatorischen Kapazitäten entwickeln und lösten sich bald auf. Heute hat sich die Menschenrechtsbewegung in der Ukraine von der Friedensbewegung abgekoppelt und wurde von der Regierung instrumentalisiert (sowohl die ukrainische als auch die russische Regierung verklagten sich gegenseitig vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil sie die Urteile des Gerichtshofs am meisten verletzten); ich fragte öffentlich nach den Gründen dafür, erhielt aber keine Antwort von den wichtigsten Aktivist*innen vor Ort.

Nach dem Ende des Kalten Krieges
Der sozioökonomische Niedergang nach dem Ende des Kalten Krieges und der reibungslosen Auflösung der Sowjetunion lenkte die Aufmerksamkeit der öffentlichen Intellektuellen von der Frage des Friedens auf Probleme der Nationenbildung und der Reformen der freien Marktwirtschaft. Die Streiks und ethnischen Konflikte jener Zeit schufen jedoch ein Feld für internationale friedensfördernde Programme wie Verhandlungen, Mediation, Dialogförderung, Friedenserziehung und humanitäre Hilfe. Es bildeten sich kleine, unauffällige Gemeinschaften von Friedensarbeiter*innen und –pädagog*innen, von denen einige auch heute noch aktiv sind und neue entstehen (vor allem mit finanzieller Unterstützung der USA und der EU), die trotz extremer Ressourcenknappheit, Gleichgültigkeit der Bevölkerung und Anfeindungen von rechts ihr Bestes geben (in der Ukraine vermeiden Friedensarbeiter*innen vorsichtshalber das Wort "Frieden"). Leider gibt es auch nationalistische Projekte des sozialen Zusammenhalts und offen militante Aktivitäten, die als Friedensarbeit dargestellt werden.
Friedensfördernde Veranstaltungen in der Ukraine und in Russland sind selten. Enthusiast*innen organisieren lokale Feiern zum Internationalen Tag des Friedens, hauptsächlich in Bildungseinrichtungen. In den ersten Jahren des aktuellen Konflikts gab es in beiden Ländern mehrere Antikriegsdemonstrationen; Übergriffe und Repressionen brachten die Stimmen des Friedens zum Schweigen. Die Kirchen beten regelmäßig für den Frieden und leisten den Opfern des Krieges Hilfe, segnen aber auch die Krieger und Waffen. Der ukrainische Zweig der Russisch-Orthodoxen Kirche und prorussische Fernsehsender versuchten, den Dialog zwischen den Menschen zu fördern, die in den von der Regierung und den Separatisten kontrollierten Gebieten der Ukraine leben; diese Versuche wurden als russische Provokation bezeichnet, die Fernsehsender wurden verboten, und die ukrainische Regierung unternahm  große Anstrengungen, um die prorussische Kirche in jeder Gemeinde durch eine patriotische zu ersetzen.

Aktuelle Antikriegsbewegungen
Ableger der Friedensbewegung in beiden Ländern sind in den sozialen Medien zu finden (Antikriegs- und Anti-Wehrpflicht-Gruppen und -Seiten in Facebook usw.), in den Teilnahmelisten globaler Veranstaltungen wie dem Weltsozialforum und der Friedenswelle sowie in den globalen Netzwerken der Zivilgesellschaft wie dem Internationalen Friedensbüro, den Friends Peace Teams und der WILPF. Die "PeaceMap" der Rotarier enthält mehrere "Friedensorganisationen" in Kiew, Moskau und Sankt Petersburg, von denen einige jedoch offen für die NATO werben. Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung, das jährlich über Verletzungen des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Europa (einschließlich der Ukraine und Russlands) berichtet, führt unter den Mitgliedsorganisationen die Ukrainische Pazifistische Bewegung (WRI-Sektion), das Komitee der Soldatenmütter Russlands und die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer in Russland auf. WRI, DFG-VK, Connection e.V., IFOR und Amnesty International protestierten mit internationalen Solidaritätsaktionen in Athen, Berlin, Genf, Kiew und Mainz gegen politische Verfolgung und rechtsextreme Übergriffe auf den Pazifisten Ruslan Kotsaba. (2).
Es liegt in der Tat noch viel Arbeit vor uns, um in der Ukraine und in Russland eine reife, echte Friedenskultur zu entwickeln und eine vollwertige Friedensbewegung zu organisieren.

Anmerkung
1 Die Redaktion möchte darauf hinweisen, dass die Person von Kotsaba nicht unumstritten ist. So entschied der Aachener Friedenspreis 2019 gegen eine Preisverleihung an ihn wegen antisemitischer Äußerungen in einem Video, für die sich Kotsaba später entschuldigt hat. Siehe https://www.dw.com/de/kein-aachener-friedenspreis-f%C3%BCr-ruslan-kotsab...

 

Zwei Mitglieder der Redaktion waren gegen den Abdruck dieses Artikels im Friedensforum. Deshalb weisen wir ausdrücklich noch einmal darauf hin, dass die Inhalte der Artikel im Friedensforum die Meinung der jeweiligen Autor*innen, nicht die der Redaktion des Friedensforums widerspiegeln.

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Yurii Sheliazhenko ist Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, Mitglied des Vorstands des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung und Mitglied des Vorstands von World BEYOND War. Er erwarb den Master of Mediation and Conflict Management (2021) und den Master of Laws (2016) an der KROK-Universität sowie den Bachelor of Mathematics (2004) an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Neben seiner Teilnahme an der Friedensbewegung ist er Journalist, Blogger, Menschenrechtsverteidiger und Rechtswissenschaftler, Autor etlicher akademischer Veröffentlichungen und Dozent für Rechtstheorie und -geschichte.