Deutsche Kolonialgeschichte

Gedenken an die Täter, nicht an die Opfer

von Christine Schweitzer

Dass Erinnerung lückenhaft ist, kennt jede/r aus der eigenen Biographie. Dasselbe gilt auch für die kollektive Erinnerung. Viele Menschen wissen wahrscheinlich gar nicht, dass Deutsche im Sklavenhandel aktiv waren und Deutschland einmal Kolonien besaß, denn es musste sie schon nach dem ersten Weltkrieg an Frankreich und Großbritannien abgeben. (1) Es wird staatlicherseits auch wenig getan, dies zu ändern, auch wenn die Kolonialzeit in Schulbüchern Erwähnung findet. Doch zahllose Straßennamen, Denkmäler und Bauten weisen auf Sklavenhalter und Kolonialverwalter hin, ohne sie als solche zu benennen. Wo doch einmal ein Denkmal abgebaut oder eine Straße umbenannt wird, ist es zumeist allein dem Engagement kritischer BürgerInnen zu verdanken.

Vorbereitet wurde die Kolonialzeit - wie die der anderen Kolonialmächte - mit privaten Niederlassungen von Kaufmannshäusern an der afrikanischen Küste. Seit dem 17. Jahrhundert gab es solche Niederlassungen in Übersee. Sie dienten dem Handel mit Rohstoffen – und mit Sklaven. Schon 1683 baute der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm die Festung Groß Friedrichsburg an der Küste des heutigen Ghana, um von dort aus mit Gummi, Gold und Sklaven zu handeln. (2) Bis zu 30.000 Sklaven sollen in weniger als einem halben Jahrhundert von deutschen Kaufleuten verschleppt und verkauft worden sein. (3) Am Sklavenhandel beteiligt waren auch andere Deutsche: So zum Beispiel Heinrich Carl Schimmelmann (1724-1782), ein in Hamburg bekannter Kaufmann, der in zwei damals zu Dänemark gehörenden Vororten Hamburgs (Wandsbek und Ahrensburg) residierte und als der reichste Mann Europas galt. Zuerst durch Getreidelieferungen an den preußischen König während des Siebenjährigen Krieges zu Geld gekommen, machte er sein späteres Vermögen vor allem mit dem berüchtigten Dreieckshandel. Schimmelmann exportierte Kattun, Waffen und Alkohol aus seinen Manufakturen in Ahrensburg und Wandsbek nach Westafrika. Dort erwarb er Sklaven, die in die europäischen Kolonien nach Nordamerika und in die Karibik verfrachtet wurden. Die in der Karibik angebauten Rohstoffe (Schimmelmann besaß auch selbst eigene Plantagen dort) wurden nach Hamburg oder in die dänischen Städte Altona und Flensburg verschifft und dort zu Waren für den Afrika-Export weiterverarbeitet. (4)

Und schon einhundert Jahre vor Schimmelmann kamen portugiesische Kaufleute und Seefahrer nach Hamburg, die dort als sephardische Juden wegen ihrer Religionszugehörigkeit vertrieben worden waren und die ihre Handelsverbindungen und Waren (und Haussklaven) mitbrachten. Sie trugen wesentlich zum Aufschwung der Hansestadt bei – einem Handel, bei dem es um Zucker und Sklaven ging. Mindestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts waren dann auch Hamburger Kaufleute im Sklavenhandel aktiv. (5)

Kolonien und der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts
Die eigentliche Kolonialzeit begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1884 entschied sich der deutsche Kaiser mit seinem Kanzler Bismarck nach anfänglicher Skepsis, die Handelsinteressen der Kaufmannshäuser (6) durch die Einrichtung von staatlichen Kolonien zu schützen, ein Schritt, der in Deutschland nicht unumstritten war. In Westafrika kontrollierte Deutschland die Regionen, die heute Togo, Kamerun und Namibia („Deutsch Südwest in Afrika“) umfassen, in Ostafrika waren es (ganz oder teilweise) das heutige Tansania, Burundi, Ruanda und Mosambik. Mit der Errichtung der Kolonien einher ging die Entsendung von Truppen und die Eroberung des Landesinneren, während die Handelshäuser zuvor zumeist nur an der Küste Niederlassungen besaßen und ihren Handel mit Gütern aus dem Binnenland über afrikanische Zwischenhändler abwickelten. So entsendete das Deutsche Reich 1884 sechs Kriegsschiffe und ca. 1.300 Marinesoldaten nach Westafrika.

Die Eroberung der Länder blieb nicht ohne Widerstand: Zwischen 1891 bis 1908 gab es Aufstände in Deutsch-Ost-Afrika. Bei dem sog. Maji-Maji Aufstand zwischen 1905 und 1908 auf den Baumwollplantagen wurden von deutschen Truppen geschätzt 100.000 bis 200.000 Menschen ermordet. Von 1890 bis 1898 gab es gewaltsam niedergeschlagene Aufstände auch in Kamerun. Als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen ist die Ermordung von mindestens 70.000 Angehörigen des Volkes der Herero und der Nama in Südwestafrika zwischen 1903 und 1908. Die deutschen Truppen von General Lothar von Trotha hatten die Anweisung erhalten, das kleine, 50-80.000 Menschen umfassende Volk der Herero zu vernichten: Nach einer Schlacht 1904 wurden die Überlebenden in die Wüste getrieben, wo sie verhungerten und verdursteten. Viele andere kamen in Konzentrationslagern um. Insgesamt, so schätzte die UNO vor einiger Zeit, überlebten nur 15.000 den Vernichtungsfeldzug der Deutschen. (7)

Außer in Afrika hatte Deutschland auch Kolonien in Neuguinea und Samoa, die wie die Kolonien in Westafrika vor allem dem Handel mit Kaffee, Kakao, Kokosnüssen, Kopra und Palmöl dienten, die nach Europa verschifft und u.a. in sogenannten „Kolonialwarenläden“ – Einzelhandelsgeschäften, die u.a. mit Kaffee, Tee und Zucker handelten – verkauft wurden. (In Südwest- und Ostafrika ging es hingegen eher um die Ansiedlung von Deutschen.) Auch in China war Deutschland präsent -  dort sollte 1898 nach dem Vorbild des britischen Hongkongs die für 99 Jahre gepachtete Kiautschou-Bucht zu einer deutschen "Musterkolonie" ausgebaut werden. (8) 1914 war Deutschland an überseeischem Territorium gemessen die viertgrößte Kolonialmacht nach Großbritannien, Frankreich und Russland.

Gedenkkultur? Fehlanzeige
Die deutsche Kolonialgeschichte ist bis heute weitgehend ausgeblendet. Selbst in Hamburg, der deutschen Stadt, die wahrscheinlich neben Berlin, dem Sitz der politischen Entscheidungsträger, am intensivsten in sie involviert war und von ihr profitiert hat, sind es zumeist private Initiativen (9), die versuchen, Bewusstsein für diese Seite der deutschen Geschichte zu wecken. Instrumente der Aufarbeitung sind vor allem Stadtführungen, Ausstellungen, Publikationen und immer wieder Proteste gegen Denkmäler, die Männer verherrlichen, die ihr Geld mit Sklavenhandel und/oder den Kolonien gemacht haben. Mindestens zwei Denkmäler wurden wegen der Proteste abgebaut, u.a. eine erst 2006 (!) geschaffene Büste des oben erwähnten Sklavenhändlers Schimmelmann. (Dessen Mausoleum im Übrigen in Wandsbek steht und keine Tafel aufweist, wo auf das unheilvolle Wirken des „großen Sohns der Stadt“ eingegangen wird. Ein „Tansania Park“ getauftes ehemaliges Kasernengelände, wo etliche Gedenktafeln, Reliefs und Statuen hingeschafft wurden oder bereits seit der Nazizeit die Kaserne „zierten“, ist der Öffentlichkeit wegen der BürgerInnenbedenken bislang nicht zugänglich gemacht worden. Man arbeite noch an einem Konzept, heißt es in der Behörde.

Erst auf Drängen dieser Initiativen hin hat auch die Stadt angefangen, sich damit zu befassen. So wurde 2014 die „Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe / Hamburg und die frühe Kolonialisierung“ an der Uni Hamburg geschaffen. Sie soll eine „Aufarbeitung des Kolonialismus in Hamburg und damit einen neuen Start der postkolonialen Erinnerungskultur ...  beginnen“. (10)

Auf Bundesebene hat in den letzten Jahren der Versuch von Angehörigen des Volks der Herero und Nama aus Namibia Schlagzeilen gemacht, von Deutschland eine Entschädigung für den Völkermord einzuklagen. Sie verklagten 2017 Deutschland erneut vor einem Gericht in den USA; der Prozess läuft noch. (Frühere Klagen dieser Art waren abgewiesen worden.) Und Namibia kündigte an, eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu prüfen und 30 Milliarden USD Schadenersatz zu fordern. Schon zuvor versuchten Hereros und Nama – nur mit begrenztem Erfolg – Schädel getöteter Volksangehöriger von deutschen Museen zurück zu bekommen. 2011 wurden ganze zwanzig Schädel und konservierte Köpfe, die in der Berliner Charité aufbewahrt worden waren, an eine Delegation überreicht. 3.000 weitere Schädel lagern dort weiterhin. (11) Anderes Raubgut aus der Kolonialzeit, das z.B. in den verschiedenen Völkerkundemuseen zu besichtigen ist, wurde bislang nicht zurückgegeben.

Das Wort Völkermord wird von deutschen PolitikerInnen erst seit wenigen Jahren in den Mund genommen; einen Bundestagsbeschluss dazu gibt es aber nicht (anders als zum türkischen Völkermord an den Armeniern) und eine offizielle Entschuldigung (12) steht weiterhin aus, von Entschädigungszahlungen ganz zu schweigen. Offizielle Begründung: Man leiste ja Entwicklungshilfe an Namibia. (13)

Anmerkungen
1 In der Weimarer Republik und unter den Nazis wurde zwar mit neuen Kolonien geliebäugelt und 1934 sogar ein Kolonialpolitisches Amt eingerichtet, es kam aber zu keinen neuen Besiedlungen.
2 http://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/deutsche_kolo...
3 http://www.planet-wissen.de/geschichte/menschenrechte/sklaverei/pwiewiss...
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Carl_von_Schimmelmann
5 Heiko Möhle: Die Sklavenhändler. Hamburgs Weg nach Übersee. In: Heiko Möhle (Hg) (1999): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika - eine Spurensuche, Hamburg: Verlag Libertäre Assoziation
6 Dazu gehörten das Bremer Handelshaus Friedrich M. Vietor Söhne und der Hamburger Handelshäuser Carl Gödelt sowie Franz Wölber & Walter Brohm in Togo und das Hamburger Handelshaus Carl Woermann in Kamerun.
7 http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/deutsche-kolonien-heikles-erbe-...
8 http://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/deutsche_kolo...
9 Viele von ihnen sind zusammengeschlossen im AK Postkolonial, http://www.hamburg-postkolonial.de/willkommen.html
10 https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/globalgeschichte/f...
11 http://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/deutsche-kolonien-vergessene-sch...
12 Eine Entschuldigung jedoch gab es: Nachkommen des Generals von Trotha reisten 2004 und 2007 nach Namibia und entschuldigten sich bei VertreterInnen der Herero für die damaligen Verbrechen https://de.wikipedia.org/wiki/V%F6lkermord_an_den_Herero_und_Nama
13 https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/deutschland-unkenntni...

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.