Gewaltfreier Kampf und Soziale Verteidigung

von Christine Schweitzer

Die Erfahrungen sozialer Bewegungen mit gewaltfreien Kämpfen aus allen Kontinenten mit TheoretikerInnen der Sozialen Verteidigung zusammenzubringen war das Ziel der von den War Resisters International und dem Internationalen Versöhnungsbund Anfang April organisierten Studienkonferenz "Social Struggle and Social Defence" in Bradford/England. Über einhundert TeilnehmerInnen aus der Tschechoslowakei, Polen, DDR, China, Hongkong, Fiji, Südafrika, Indien, den Philippinen, Australien, den USA, Lateinamerika und Westeuropa verbrachten eine für alle höchst anregende Woche miteinander, die in erster Linie im Zeichen des Austausches zwischen"Nord" und "Süd" stand.
Wohl noch nie hat es so viele soziale Bewegungen und Revolutionen gegeben, in denen Gewalt eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielte, wie in diesem Jahrhundert. Viele ReferentInnen sprachen daher auch davon, daß "die Zeit der Gewaltfreiheit gekommen sei", ungeachtet der Tatsache, daß kaum einer der vorgestellten Konflikte (bislang) zu einem wirklich erfolgreich zu nennenden Abschluß gekommen ist.

So unterschiedlich die einzelnen vorgestellten Beispiele waren (Intifada, Revolutionen in Osteuropa, Staatsstreich in Fiji, Studentenbewegung in China, Sturz von Marcos auf den Philippinen, Südafrika, "Schweiz ohne Armee" usw.), blieb der Eindruck, daß sich einige Lehren aus ihnen ziehen lassen:
Viele der Bewegungen, besonders in der "Dritten Welt", verbinden themenzentriertes Arbeiten (z.B. für Menschenrechte, Ökologie, etc.) mit einem hohen Maß an Bewußtsein darüber, daß alle Probleme miteinander verknüpft sind. (Eine Erkenntnis, die sich bei uns ja erst allmählich durchsetzt.) Aus dieser Kombination schöpfen sie viel von ihrer Kraft. Doch - und dies gilt auch für Osteuropa - versäumten sie oft, ausreichende Konzepte für die Zeit nach dem Zeitpunkt "X" - z.B. den Sturz des gehaßten Diktators - zu entwickeln oder sich darüber zu einigen. In manchen Fällen wurden sie darüber hinaus von plötzlich einsetzender Revolutionsdynamik nach jahrelangem scheinbaren Stillstand überrascht. Die Folge war, daß nur Teilziele verwirklicht wurden, hinterher sich aber nicht die Bewegungen an der Macht befanden, sondern andere Kräfte, die dafür sorgten, daß sich die Reformen in Grenzen  hielten oder in die falsche Richtung gelenkt wurden.

Kein gewaltfreies Mittel gegen Genozid (?)
Viele der TeilnehmerInnen kamen aus Organisationen, die sich explizit der Gewaltfreiheit verschrieben haben. Und trotzdem wurde Gewaltfreiheit in Bradford nicht zur Glaubensfragge gemacht. Zumindest der Großteil der AktivistInnen auf der Tagung waren einer Meinung darüber, daß die Anliegen, nicht die Methoden im Zentrum des Vorgehens stehen dürfen. Gewaltfreiheit oder Soziale Verteidigung ist eine Methode, sie kann auch für falsche Anliegen gebraucht werden, und sie hat ihre Grenzen. Die von Julio Quan, Direktor der Friedensuniversität in Costa Rica, vorgetragene These "Es gibt kein gewaltfreies Mittel gegen Genozid" fand größtenteils (betroffene) Zustimmung.
Welche Anliegen dies sind, differiert natürlich. Doch wurde für die europäischen TeilnehmerInnen wohl klar, daß der Begriff Gerechtigkeit als komplementär zu Frieden nicht nur eine schönklingende Worthülse ist, sondern es den einen ohne das andere nicht geben kann.

Soziale Verteidigung - ein westliches, kapitalistisches Konzept?
Verwirrung brach regelmäßig herein, wenn in die Diskussionen das Thema der Sozialen Verteidigung eingeführt wurde. Verwirrung zum einen deswegen, weil viele der TagungsbesucherInnen aus Osteuropa und der "Dritten Welt" mit dem Begriff nicht vertraut waren, zum anderen keineswegs Einigkeit darüber bestand, was unter Sozialer Verteidigung zu verstehen ist.

Im wesentlichen werden international die gleichen Fragen diskutiert, die auch bei den VertreterInnen von Sozialer Verteidigung in der BRD kontrovers sind, wobei es einige interessante Varianten gibt:

Sehr vereinfacht dargestellt heißt bei uns die Frage: Ist Soziale Verteidigung ein waffenloser Ersatz für militärische Verteidigung?, wobei diejenigen, die dies bejahen (z.B. Theodor Ebert), eine Einführung von Sozialer Verteidigung von Staatsseite her anstreben. Den sozialen Bewegungen kommt die Aufgabe zu, Überzeugungsarbeit zu leisten und die erforderliche ethische Basis zu schaffen. Die Gegenthese hierzu lautet: Soziale Verteidigung ist nicht (nur) Verteidigung gegen einen militärischen Angriff oder einen Putsch, sondern kann sich auch gegen andere, nichtmilitärische Bedrohungen richten und gegen die eigene Regierung eingesetzt werden. Sie ist verknüpft mit der Ablehnung einer Einführung von Staatsseite her.

Auf der Konferenz trafen neben den genannten Positionen noch mindestens zwei weitere aufeinander: Gene Sharp, im englischsprachigen Raum einer der - wenn nicht der - bekanntesten Theoretiker der Sozialen Verteidigung trug seine These vor, daß zur Übernahme von Sozialer Verteidigung als Verteidigungskonzept weder eine Veränderung der bestehenden Gesellschaft noch eine bestimmte ethisch-moralische Grundeinstellung vorhanden sein muß. (Es ist bekannt, daß Sharp auch der Ansicht ist, daß PazifistInnen sich lieber nicht zu viel mit Sozialer Verteidigung abgeben sollten, um das Konzept nicht bei PolitikerInnen zu diskreditieren.) Brian Martin aus Australien hingegen verbindet ein enges Verständnis von Sozialer Verteidigung als alternatives Verteidigungskonzept mit einer streng graswurzlerischen Vorstellung seiner Durchsetzung. (Ähnliches vertritt auch Jürgen Johansen aus Schweden, siehe hinten in diesem Heft.)

Die VertreterInnen der sog. "Dritten Welt" zeigten durchweg wenig Verständnis für die Idee, militärische durch Soziale Verteidigung zu ersetzen. Sie machten deutlich, daß ihr Problem nicht die Verteidigung der bestehenden Gesellschaft, sondern deren Veränderung ist. (Eine Analyse, bei der ihnen etliche EuropäerInnen auch auf ihre eigene Gesellschaft bezogen zustimmten.) Der bereits zitierte Julio Quan sprach gar von einem "westlichen, kapitalistischen Konzept". Soziale Verteidigung, so wie er sie versteht, definierte er als "Schaffung einer demokratisch gestützten Macht für ökonomische, soziale, politische und ökologische Sicherheit".

Trotz aller Unterschiede - und dies war eine der positivsten Erfahrungen - ging die Tagung in Bradford mit dem Gefühl zu Ende, daß man/frau so viel voneinander gelernt hat, da es schwierig ist, eine Zusammenfassung auch nur annähernd zuversuchen. Wer sich im Nachhinein näher informieren möchte, der/die kann auf ein Buch über die Konferenz zurückgreifen, das im Herbst (zunächst leider nur in englischer Sprache) erscheinen soll. Außerdem wurde verabredet, zu versuchen, eine internationale Vernetzung zum Thema Soziale Verteidigung aufzubauen: In jedem Land wird derzeit ein verantwortlicher Mensch gesucht, der regelmäßig Informationen darüber, was bei ihm an Diskussion und Aktion abläuft, an die Adresse der Zeitung der "Civilian-Based Defense Association" in den USA schickt, die diese dann abdruckt.
Kontakt: WRI, 53 Dawes Street, London SE 17 1EL, Großbritannien.
 

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.