Buchbesprechung

Gewaltfreiheit im Alltag

von Christine Schweitzer

Der australische Autor Brian Martin, Verfasser zahlreicher Bücher über Gewaltfreiheit, Soziale Verteidigung und Demokratie von unten, hat ein neues Buch herausgegeben: „Nonviolence Unbound“, hier nicht ganz zutreffend übersetzt als „Gewaltfreiheit im Alltag“. Martin wendet in diesem Buch Erfahrungen, die mit gewaltfreier Aktion in den 'üblichen Feldern' gemacht wurden, auf andere Bereiche an, die man auf den ersten Blick nicht oder nur begrenzt mit gewaltfreier Aktion in Verbindung bringen würde: An den Beispielen verbaler Streits, der Verteidigung gegen üble Nachrede und den politischen Auseinandersetzungen um Euthanasie und um eine Gruppe in Australien, die Impfungen ablehnt, zeigt er, wie gewaltfreie Aktion Anregungen für neue Handlungsoptionen geben kann.

„Das Studium gewaltfreier Aktion ist vernachlässigt worden. Geschichtsbücher und Medienberichte sind voll von Aufmerksamkeit für konventionelle Politik, insbesondere PolitikerInnen und Wahlen, und von Gewalt, so wie Kriege und Terrorismus. Im Vergleich dazu ist gewaltfreie Aktion unsichtbar und wird zudem oft missverstanden. Das heißt, dass es noch enorm viel über gewaltfreie Aktion zu lernen gibt.“ (S. 348, Übersetzung CS) So endet Martin sein Buch, das zunächst ganz herkömmlich beginnt: die ersten einhundert Seiten widmet er einer Darstellung von gewaltfreier Aktion und der Frage, welche Kriterien der Effektivität von gewaltfreier Aktion es gibt. Dabei konzentriert er sich in erster Linie auf die Studien, die über gewaltfreie Aufstände (Sturz von diktatorischen Regimen) geschrieben wurden, ohne aber Bewegungen mit anderen Anliegen (Friedensbewegung z.B.) auszuschließen. Aus ihnen destilliert er sieben Merkmale oder Aspekte gewaltfreier Aktion, die potenziell für andere Bereiche von Relevanz sein können (s. S. 102): Gewaltfreie Aktion ist nicht standardisiert (weder Routine noch durch Regelungen autorisiert), sie richtet nur begrenzten Schaden an (d.h. verletzt den Gegner nicht physisch), sie ermöglicht die Teilnahme vieler Menschen, die Teilnahme an ihnen ist freiwillig, die Aktionen scheinen den meisten BeobachterInnen fair zu sein, die angestrebten Ziele werden in den Methoden vorweggenommen, und AktivistInnen entwickeln bestimmte Fähigkeiten bei der Vorbereitung und Durchführung von Aktionen.

In den folgenden vier Kapiteln beschäftigt sich Brian Martin dann mit vier unterschiedlichen Feldern: einem Streit im persönlichen Umfeld, einem Fall von übler Nachrede am Beispiel einer Frau, deren Exfreund ein Foto von ihr mit Namen und dem Wort „Hure“ im Internet veröffentlichte, der Diskussion in Australien um Beihilfe zur Selbsttötung bei unheilbaren Krankheiten und um eine Gruppe in Australien, die Impfungen ablehnt und die von einer anderen Gruppe von BürgerInnen auf das Heftigste angegriffen und verfolgt wurde. Dabei beginnt er stets mit einer Beschreibung des Problems, das er durch Beispiele, oftmals solche aus seiner eigenen Erfahrung, sehr anschaulich macht, und diskutiert dann das Verhalten der beschriebenen Individuen oder Gruppen. Dabei stellt er in jedem Fall die Frage, welche alternative Handlungsoptionen zur Verfügung standen oder stehen, und welche Lehren aus dem Feld der gewaltfreien Aktion (den genannten sieben übertragbaren Aspekten) hilfreich sein können oder es auch schon waren. Dabei geht es ihm nicht darum, die eine richtige Lösung für die verschiedenen Probleme aufzuzeigen. Vielmehr interessiert ihn das Handeln an sich, die zusätzlichen Optionen, die bei der Anwendung der Erfahrung von gewaltfreier Aktion entstehen – z.B. das Organisieren von Solidarität im Falle von Diffamierung (Merkmal der 'Teilnahme') oder die Beschränkung von Schaden durch die Suche von Betroffenen und Ärzten nach Möglichkeiten der Selbsttötung bei unheilbaren Krankheiten, die nicht zur möglichen Traumatisierung Unbeteiligter (LokführerInnen z.B.) führen.

Das Buch ist u.a. auch deshalb interessant, weil es eine Reihe von Literatur anführt, die wohl wenigen an Gewaltfreiheit interessierten Menschen bekannt sein dürfte, da sie außerhalb des üblichen Kanons der Literatur über gewaltfreie Aktion steht. So erwähnt er z.B. im Kapitel über Verbalattacken die 'gewaltfreie Kommunikation' von Marshall Rosenberg nur am Rande und warnt davor, sie aufgrund des Adjektivs „gewaltfrei“ für relevanter als andere Ansätze der Kommunikation zu halten. Stattdessen stellt er u.a. zwei Bücher über 'verbale Selbstverteidigung' vor.

Martin zeigt einmal wieder seine Fähigkeit, auch komplexe Zusammenhänge einfach zu beschreiben und die Leserin bei seinen Argumentationen mitzunehmen. Es wäre zu wünschen, dass sich ein Verlag in Deutschland der Übersetzung des Buches annehmen würde.

 

Martin, Brian (2015) Nonviolence Unbound. Sparsnäs:Schweden, ISBN978-91-88061-03-4, 354 S., 31,68 €. Das Buch ist als PDF frei im Internet verfügbar, wie auch die meisten anderen Werke des Autors: http://www.bmartin.cc/pubs/15nvu/15nvu-print.pdf

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Hintergrund
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.