Die juristische Menschenrechtsarbeit gegen die Folgen von 9/11

Gleiches Recht für alle

von Andreas Schüller

Unter Berufung auf die Anschläge vom 11. September 2001 haben viele Länder Maßnahmen und Gesetze verabschiedet, die massiv in fundamentale Grund- und Freiheitsrechte eingreifen. Mit dem Verweis auf den „internationalen Terrorismus“ attackieren Regierungen Einzelpersonen und ganze Gruppen an der Grenze und außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien. Eine führende Rolle haben hierbei die USA eingenommen, aber viele - nicht nur europäische -Länder sowie die UN und EU haben dieselbe Richtung eingeschlagen. Der bloße Verdacht, an terroristischen Planungen oder Aktivitäten beteiligt zu sein, genügt nun, um drakonische Maßnahmen bis hin zur direkten Tötung auszuführen. Und dies ohne ein rechtsstaatliches Verfahren, in dem Beweise offengelegt werden, die nach geregelten Verfahrensmaßstäben von einem unabhängigen Gremium bewertet werden.

Der juristische Einsatz für rechtsstaatliche Prinzipien und die Beachtung menschenrechtlicher Mindeststandards kann dazu beitragen, die schlimmsten Auswüchse einzudämmen; er stößt aber gleichzeitig immer wieder an Grenzen, die von den Regierungen unter Berufung auf den „Kriegs-“ bzw. Ausnahmezustand gezogen und von Gerichten bereitwillig akzeptiert werden.

Nach dem 11. September 2001 riefen die USA den „Krieg“ gegen den Terrorismus aus. Damit machten sie gleichzeitig deutlich, dass manche Rechte keine Anwendung mehr finden sollten. Denn im Krieg (sowie bei Ausrufung eines Ausnahmezustands) können bestimmte Rechte zurücktreten. Dieser Ausnahmezustand dauert nun allerdings schon seit über zehn Jahren an, und ein Ende ist nicht in Sicht. Die USA handelten dabei nicht allein, sondern zahlreiche Verbündete schlossen sich an und akzeptieren diesen Dauerzustand. Doch damit nicht genug. Die US-Regierung unter George W. Bush - aber auch heute noch unter Barack Obama - versuchte, neue Kategorien in das Völkerrecht einzuführen und eine Re-Interpretation rechtlicher Standards durchzusetzen.

Teilerfolge
In dem Bemühen von Menschenrechtsorganisationen, die schlimmsten Auswüchse wieder einzufangen und rückgängig zu machen, gibt es immerhin einige Teilerfolge zu vermelden. Guantánamo-Häftlinge haben einen Anspruch auf eine gerichtliche Überprüfung ihrer Haft zugesprochen bekommen. Die Erlaubnis zur Anwendung der schlimmsten Folter- und Verhörmethoden wurde wieder zurückgenommen. Verantwortliche der CIA für Verschleppungen und Folter werden in Deutschland und Italien per Haftbefehl gesucht, wenn auch nicht die hauptverantwortlichen Hintermänner. Diese sehen aber zunehmend von Reisen ins Ausland ab, wo ihnen eine Strafverfolgung drohen würde. Aber gerade die Berufung auf „Krieg“ und Ausnahmezustand machen die juristische Menschenrechtsarbeit schwierig. Die größte Zahl der Fälle, die in den USA direkt eingereicht wurden, scheiterte bereits vor der allerersten Gerichtsverhandlung, da die Fälle vom Gericht zur Verhandlung des eigentlichen Gegenstandes nicht zugelassen wurden. Die Begründung dafür lautete oft, dass nationale Sicherheitsinteressen ein solches Verfahren nicht zuließen, in dem gegebenenfalls sensible Informationen offengelegt werden müssten. Der „Kriegs-“ und Ausnahmezustand erlaube dies nicht und würde dem Gegner in die Hände spielen. Daran scheiterten etwa die Versuche von Menschenrechtsorganisationen, Opfern der Verschleppungen und Folter durch die CIA oder ehemaligen Guantánamo-Häftlingen ein ordentliches Entschädigungsverfahren zu ermöglichen. Erneut betrifft dies aber nicht nur die USA, sondern zum Beispiel auch den so genannten BND-Untersuchungsausschuss im deutschen Bundestag, dem – wie nachträglich vom Verfassungsgericht bestätigt – in verfassungswidriger Weise Dokumente und Informationen vorenthalten wurden.

Eine gewisse Standfestigkeit ist dem internationalen Recht allerdings auch zu attestieren. Versuche der US-Regierung, die Guantánamo-Insassen als „feindliche Kämpfer“ und damit außerhalb jeglichen Rechts einzustufen, haben sich weder vor den höchsten US-Gerichten, noch international in der Debatte um das Völkerrecht durchgesetzt. Das gleiche gilt für strenge Verhörmethoden wie das simulierte Ertrinken, die angewendet wurden und bis heute von Teilen der ehemaligen Regierung Bush als rechtmäßig verteidigt, international jedoch nach wie vor als Folter angesehen werden.

Grundrechte geopfert
Aber auch zehn Jahre nach dem 11. September 2001 und nach einem Regierungswechsel in den USA geht die Beschneidung fundamentaler Grundrechte weiter. Die Ausweitung des Einsatzes von unbemannten Drohnen im Kampfeinsatz wirft eine Vielzahl von Grundrechten über Bord. Die Zielpersonen werden ohne rechtsstaatliches Verfahren und ohne Offenlegung jeglicher Beweise über ihre Verantwortlichkeit für die (geplante) Begehung von Straftaten hingerichtet. Der Rückgriff auf die Behauptung, aufständische Kämpfer könnten nach geltendem Kriegsrecht legal getötet werden, bestätigt nur allzu deutlich, dass sich die USA auch unter Barack Obama im „Krieg“ gegen den Terror sehen. Das Schlachtfeld ist räumlich unbegrenzt, da Verdächtige nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan und weit entfernt im Jemen und Somalia gezielt durch Raketen von Drohnen getötet werden. Einer Ausweitung des Kriegsschauplatzes in weitere Länder, und damit etwa der gezielten Tötung Terrorismusverdächtiger durch Drohnen oder andere Methoden in europäischen Staaten, ist damit Tür und Tor geöffnet.

Faire Verfahren wurden unter dem Deckmantel der Sicherheit geopfert und einzelne Personengruppen außerhalb des Rechts gestellt. Dabei spielen allerhand Arten von Listen eine besondere Rolle. Neben den Tötungslisten für diejenigen, gegen die Drohnen eingesetzt werden, gibt es Listen über Konteneinfrierungen, Reiseverbote, Flugverbote und eine Vielzahl anderer. Diese Listen werden von den USA, aber genauso auch von den Vereinten Nationen und der Europäischen Union geführt. Aus welchen Gründen eine Person oder Gruppe auf eine Liste gesetzt wurde, erfahren die Betroffenen nicht. Jahrelang konnten diese auch keine Rechtsmittel gegen ihre Aufnahme in eine Liste einlegen oder sich dagegen beschweren. Und dies, obwohl die Listen dramatische Folgen für die einzelnen Betroffenen haben und diese jahrelang andauern. Die Konteneinfrierung betrifft nämlich auch Kleinstbeträge wie eine soziale Grundsicherung und ebenso die Einkünfte von Familienmitgliedern. Eine Erwerbstätigkeit ist ebenso ausgeschlossen. Damit ist es möglich, einzelne Personen durch gezielte Attacken zu töten oder durch Aufnahme in Listen und Beschränkungen des Geschäftsverkehrs jahrelang gesellschaftlich zu isolieren, ohne offenlegen zu müssen, was den einzelnen Personen konkret vorgeworfen wird oder dies gar einer unabhängigen Prüfungsinstanz vorzulegen, vor der sich die Betroffenen auch gegen die Vorwürfe verteidigen könnten. Verfahren gegen eine Aufnahme in eine Liste, die von Menschenrechtsorganisationen sowie Anwältinnen und Anwälten vor europäischen Gerichten angestrengt wurden, haben in den allermeisten Fällen Erfolg gehabt, auch wenn immer nur Einzelfälle entschieden oder verfahrensrechtliche Verbesserungen durch die Gerichte angemahnt wurden. Dies führte zwar zur Einrichtung von Ombudspersonen, die als Beschwerdestelle dienen. Dennoch besteht das grundsätzliche Problem fort, die Gründe einer Aufnahme in eine Liste nicht offenlegen zu müssen, und weiterhin wird eine Verteidigung gegen die Vorwürfe vor einer unabhängigen Stelle nicht ermöglicht. Denn erst wenn diese fundamentalen Grundrechte der Betroffenen wieder gewährleistet sind, kann von einem fairen Prozess gemäß rechtsstaatlicher Standards gesprochen werden.

Rechtsstaatliche Kontrolle ausgehebelt
Nach dem 11. September 2001 wurden Geheimdienste, Militär und weitere Sicherheitsbehörden mit Erlaubnissen ausgestattet, die Maßnahmen mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen aufgrund eines bloßen Verdachts ermöglichen. Die bestehenden rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen wurden ausgehebelt und bis zum heutigen Tage nicht wieder zugelassen. Der Einsatz für Menschenrechte hat dabei zuvorderst damit zu tun, eine solche Kontrolle der Handlungen der Exekutive wieder zu ermöglichen. Eine juristische Steuerung der Exekutive unter Berufung auf menschenrechtliche Grundstandards vor Gerichten kann dazu beitragen, Druck auf den Gesetzgeber auszuüben, manche der Maßnahmen zurückzunehmen oder einer besseren Kontrolle zu unterstellen. Juristische Erfolge müssen aber in der gesamten Menschenrechtsarbeit aufgenommen und auf politischer Ebene verwertet werden, um Änderungen zu erzielen. Die fundamentalen Eingriffe in persönliche Rechte Einzelner konnten bislang jedoch nicht wieder rückgängig gemacht werden und werden im Gegenteil in immer neuen Formen wie den Drohnenangriffen weiterentwickelt. Die Aufweichung rechtsstaatlicher Prinzipien wird auch ein Thema des nächsten Jahrzehnts im juristischen Einsatz für die Menschenrechte bleiben.

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Rechtsanwalt Andreas Schüller ist Programmdirektor beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Das ECCHR setzt sich mit juristischen Mitteln für die Verfolgung und Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen ein (www.ecchr.de).