Grundrecht auf Versammlungsfreiheit?

von Elke Steven

Zugegeben, eine Reformation des Versammlungsrechts wäre dringend geboten. Allerdings gehen die neuen Ländergesetze in die völlig falsche Richtung, da sie das Recht als Grundrecht abschaffen und dem Staat
alle Kontrollmacht zubilligen. Leider erlaubt schon das Grundgesetz Möglichkeiten der Beschränkung von Versammlungen „unter freiem Himmel" (Art. 8 (2) GG).

Von dieser Kann-Bestimmung ist schnell Gebrauch gemacht worden. Das 1953 erlassene Versammlungsgesetz atmet gänzlich den Geist der staatsautoritären und vordemokratischen Ordnung. Erst die Art der tatsächlichen Wahrnehmung dieses Grundrechts seit den späten 1960er Jahren und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Brokdorf-Beschluss von 1985 haben eine Perspektive für dieses Grundrecht eröffnet. Das Misstrauen offizieller Politik gegen den in Versammlungen steckendem aufrührerischen Geschmack ist jedoch bis heute nicht zu übersehen. Der Obrigkeitsstaat fürchtete Versammlungen als Hort der Unbotmäßigkeit und des Aufruhrs. Die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland fürchtet dies kaum minder.
Die Schneise, die das Bundesverfassungsgericht schlug, wurde in der Praxis schnell wieder verstellt. Die Exekutive erfindet immer neu und listig Möglichkeiten, die grundrechtlichen Maßstäbe zu verdrehen, Berichte über Geschehnisse werden verfälscht, die Gefahren ins Unermessliche überzeichnet, herrschaftlich werden Fakten geschaffen, deren gerichtliche Überprüfung sich im „irgendwann" verliert. Die exekutiven Versuche, die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu umgehen oder nur formal die grundrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, die exekutiven Eingriffe in Versammlungen und deren Gestaltung, die hoheitliche Gewalt, mit der gegen Demonstrierende vorgegangen wurde, rissen nie ab.
In diesem Jahr griffen nun die Länder die Möglichkeiten auf, im Zuge der Föderalismusreform die gesetzliche Legitimation zur Aushebelung des Grundrechts zu schaffen. Während das Grundgesetz nur Einschränkungen für Versammlungen „unter freiem Himmel" vorsieht, sollen nun alle Versammlungen reglementiert und staatlich überwacht werden. Statt einer das Grundrecht absichernden, den Staat aus den bürgerlichen Zusammenschlüssen fernhaltenden Gesetzgebung, entstehen im Zuge der Föderalismusreform Versammlungsgesetze mit unbestimmten Rechts-begriffen, die vor allem der Exekutive alle Eingriffs- und Überwachungsmöglichkeiten nach eigenem Gutdünken sichern sollen. Der „Missbrauch" des Grundrechts soll verhindert, ,,den Behörden" jeder Eingriff erleichtert werden, so berichtet das baden-württembergische Innenministerium. Nationalistische und rassistische Versammlungen von rechtsaußen sind ein gesellschaftliches Problem, mit dem sich die Gesellschaft auseinandersetzen muss. Die neuen Gesetze antworten darauf, indem sie der Polizei jedes Mittel an die Hand geben, den gesellschaftlichen Protest gegen solche Versammlungen strafbar zu machen.
Bayern war Vorreiter und hat seit dem 1. Oktober 2008 ein verfassungswidriges Gesetz. So schätzen zumindest dreizehn Organisationen dieses Landesgesetz ein, die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt haben. Unter den Klägern ist auch der Landesverband der FDP, der allerdings inzwischen an der Regierung beteiligt ist. In der Koalitionsvereinbarung ist nur eine wachsweiche Änderung des Gesetzes vereinbart, nach der nichts grundlegend verändert werden muss. Baden-Württemberg zieht bereits nach und hat ein Gesetz zur Diskussion gestellt, das dem bayerischen weitgehend gleicht. Niedersachsen will im Januar 2009 folgen.
Charakteristisch für diese Ländergesetze ist ein neues „Militanzverbot", mit dem gleichartige Kleidungsstücke verboten werden, die den „Eindruck" der Gewaltbereitschaft und Einschüchterung erwecken. Verbote und Eingriffe sollen also von subjektiven Einschätzungen (der Polizei) abhängen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (Bezirk Baden-Württemberg) äußerte die Befürchtung, dass demnächst Streikposten als „einschüchternd" gewertet werden könnten. Von Ordnern und Ordnerinnen, die zur Demonstration dazu¬gehören und die Veranstalter unterstützen, sollen ebenso wie vom Leiter alle persönlichen Daten der Polizei gemeldet wer¬den. Diese behält sich vor, nicht genehme Leiter und Ordner abzulehnen. Schon die¬se Meldepflicht soll abschrecken. Mancher Bürger könnte demnächst ein solches Amt schon aus Angst vor den Folgen der polizeilichen Speicherung nicht übernehmen wollen.
Im letzten Jahr fanden bereits ohne diese Gesetze Versuche statt, im Zusammenspiel mit ausufernden Auflagenerteilungen Versammlungsleitern quasi polizeiliche Ordnungsaufgaben zuzumuten. Die Vorstellungen von straff geleiteten Aufmärschen sollen wieder durchgesetzt werden.  Die Praxis der extensiven Auflagenerteilung ist eine Form der demokratiefeindlichen Behinderung von Demonstrationen. Bei potentiellen Gefährdungen durch eine Versammlung sollen Auflagen diese dennoch ermöglichen. In der Praxis werden jedoch vorbeugend Auflagen im Übermaß erteilt. Im Mai 2006 hat die Versammlungsbehörde für eine Demonstration in Mittenwald 25 Auflagen erlassen. In der nachträglichen Überprüfung urteilte der Bayerische Gerichtshof München, dass 21 dieser 25 Auflagen rechtswidrig seien. Dennoch erteilte beispielsweise im August dieses Jahres die Versammlungsbehörde der Friedensdemonstration gegen Atomwaffen in Büchel 30 überflüssige Auflagen.
Diese Praxis hängt eng mit der Überfrachtung der Aufgaben des Versammlungsleiters zusammen. Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts begrenzt die Aufgaben des Versammlungsleiters, der nicht für alles und jedes verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden darf und engt die Möglichkeiten der Auflösung einer Versammlung ein. Im Jahr 2008 standen jedoch Versammlungsleiter in den Städten München, Karlsruhe, Rostock und Friedrichshafen vor Gericht. Nichts Gravierendes war vorgefallen. Die Fülle der vorher erlassenen Auflagen lässt viele Rechtsverstöße möglich werden, für die Versammlungsleiter haftbar gemacht werden. In Karlsruhe lautete eine Auflage: "Sie müssen mit Ihren Weisungen alle Teilnehmer jederzeit erreichen können und sind ver¬pflichtet, die Veranstaltung für beendet zu erklären, wenn Sie sich nicht durchsetzen können." In den Strafbefehlen gegen die Leiter ging es folglich darum, dass nicht alle Auflagen durchgesetzt werden konnten: Hier war eine Stange etwas länger, dort ein Transparent größer als genehm, ein Schal diene der Vermummung, die Kleidung von Teilnehmenden sei zu ähnlich, folglich uniform, einige Teilnehmer hätten das vorgesehene Schritttempo überschritten.
Während die meisten Versammlungsleiter von Gerichten freigesprochen wur¬den, in einem Fall zumindest das Landgericht den Prozess eingestellt, hat, wurde ein Versammlungsleiter in Karlsruhe vom Amtsgericht wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz zu 60 Tagessätzen verurteilt. Das Amtsgerichts Karlsruhe - es scheint seinen höchstgerichtlichen Nachbarn nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen - schreibt in seiner Urteilsbegründung:
"Es kann aus Sicht des Gerichtes nicht anerkannt oder auch nur hingenommen werden, dass beliebig und vor allem auch folgenlos eine Demonstration so durchgeführt wird, wie es sich die Teilnehmer vorstellen und wünschen ... ". Da der Versammlungsleiter Widerspruch gegen die Auflagen eingelegt hatte, kommt das Gericht zu dem Schluss, der Angeklagte habe sich „nur halbherzig und pro forma um die Auflagen gekümmert, was natürlich bei weitem nicht ausreicht. "
Jedoch auch dann, wenn ausnahmsweise Auflagen im Vorhinein gerichtlich überprüft werden können, ist in der Praxis allzu häufig noch nichts gewonnen. Im August dieses Jahres fand in Hamburg das AntiRa- und Klimacamp statt. Die Versammlungsbehörde wollte eine Schlusskundgebung weder direkt vor dem Flughafen Hamburg noch über die geplante Zeit von sechs Stunden zulassen. Das Verwaltungsgericht bestätigte jedoch, dass die Demonstrierenden auch über die zeitliche Länge ihres Protestes entscheiden können. Die Abschlusskundgebung „Für grenzenlose Bewegungsfreiheit - Keine Abschiebungen vom Flughafen Hamburg" dürfe in der Zeit von 13.00 bis 19.00 Uhr stattfinden. So setzte die Polizei ihre abweichende Auffassung unmittelbar und ohne Rechtsschutzmöglichkeiten durch. Der Gesamteinsatzleiter erteilte, ohne selbst vor Ort zu sein, kurzerhand vom Polizeipräsidium aus die Anweisung zur Auflösung der Demonstration zu dem Zeitpunkt, zu dem die Versammlungsbehörde das Ende der Demonstration gewollt hatte.
Um das Recht auf Versammlungsfreiheit und die exekutive Praxis seiner Einschränkung ist es also schlecht bestellt. Ein Hoffnungsschimmer bleibt allerdings und liegt einzig in der selbstbewussten Art, in der Bürger und Bürgerinnen als Souverän dieses Recht in Anspruch nehmen. Die wechselvolle Geschichte des Versammlungsrechts zeigt allemal, wie wichtig dies ist. Wie schon das Hambacher Fest 1832 trotz Verbot stattfand, muss auch heute das Recht immer wieder neu erstritten werden gegen staatliche Macht und Kontrolle. Die zum Zaun der sich abschotten¬den GB-Politiker in Heiligendamm strebenden bunten demonstrierenden Gruppen sind ein Symbol für dieses „Trotzdem", für die Selbstverständlichkeit, mit der vor allem eine Jugend sich dieses Recht nimmt.

 

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Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.