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Hauptkundgebung
vonLiebe Freunde und Freundinnen, liebe Kollegen und Kolleginnen aus den Gewerkschaften!
Konfrontiert mit Hass, Gewalt und Mord, die das vereinigte Deutschland verunsichern und erschüttern, fragen wir uns: Warum folgen immer wieder so viele, vor allem junge Menschen Parolen und Symbolen der Unmenschlichkeit? Warum greifen immer mehr zu Gewalt?
Viele, die hier versammelt sind, wissen aus antifaschistischer Arbeit: Die Welle der Gewalt hat gegen Fremde historische Wurzeln. Sie hat aber auch Ursachen in der Lebensgeschichte, der Psyche, in sozialer Verunsicherung - in Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, verschärfter Konkurrenz der Menschen untereinander bei wachsender sozialer Ungleichheit.
Vor allem aber die Hetze vieler Politiker gegen Asylbewerber und Flüchtlinge hat ein Klima geschaffen, in dem Schuldzuweisungen an Fremde, Flüchtlinge, sozial Schwache wieder gedeihen konnten. So mancher Politiker, der sich jetzt über den Terror von rechts öffentlich entsetzt zeigt, hat mit dem entlarvenden Gerede von der "durchrasten Gesellschaft", mit dem Beschwören der "Asylantenflut" und des "vollen Bootes" systematisch Fremdenfeindlichkeit geschürt und rassistisches Gedankengut in diesem Lande wieder belebt. Schuldig sind aber auch jene Politiker, die deutsche Geschichte verharmlosen und einer neuen rechten Ideologie Vorschub leisten, indem sie Peenemünde "feiern"; einen Jörg Haider einladen; von "Staatsnotstand" schwadronieren, wo doch seit Jahren lediglich konkretes politisches Handeln statt eine Änderung des Grundgesetzes gefordert wäre.
Verantwortlich für das wachsende Gewaltpotential - vor allem im Osten - ist auch eine Politik, die "blühende Landschaften" vorgaukelt und die "Industriewüsten" hinterlässt; die in ihren gesellschaftlichen Orientierungen zutiefst verunsicherten jungen Menschen keine, aber auch überhaupt keine Perspektive bietet.
Wir alle hier, die wir heute zusammengekommen sind, müssen mehr Mut und Entschlossenheit beweisen, der wachsenden Gleichgültigkeit, Gewalt und Rassismus entgegenzutreten. Die Einschränkung oder gar Abschaffung des individuellen Asylrechts bewirkt das Gegenteil. Wer dies fordert, signalisiert Verständnis gegenüber den Motiven der Täter und ihren stillen Sympathisanten; der kapituliert vor der Gewalt.
Die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes ist kein Weg, das Problem der Zuwanderung zu lösen; und sie ist kein Weg, Rechtsextremismus und Gewalt in unserer Gesellschaft entgegenzutreten. Die historische Erfahrung lehrt, Nachgiebigkeit beeindruckt Rechtsextreme nicht! Das sagen wir auch den Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, die am Montag auf ihrem Parteitag über diese, für die demokratische Substanz unserer Gesellschaft so wichtigen Frage zu entscheiden haben. Ich bin seit mehr als 30 Jahren Gewerkschafterin und Sozialdemokratin. Viele sozialdemokratischen Freunde analysieren die Situation so wie wir, bewerten die Erpressungsversuche der CDU/CSU so wie wir: Es findet die Änderung des Art. 16 als Verlust sozialdemokratischer Identität. Sie alle bitte ich: Steht zu Eurer gesellschaftlichen Analysefähigkeit und zu Euren Gefühlen: Sagt NEIN! Gefordert ist jetzt, die in unserer Verfassung verankerten humanistischen und demokratischen Grundprinzipien zu verteidigen.
Hundertausende Deutsche, darunter viele Männer und Frauen der Arbeiterbewegung, haben in der Nazizeit, geflohen vor Terror, existentieller Bedrohung, vor Mord und Völkermord, in aller Welt um Asyl bitten müssen, haben Zuflucht, oftmals eine neue Heimat gefunden. Weitere hätten gerettet werden können, wenn nicht viele Grenzen zu gewesen wären. Vor allem deshalb setzen sich Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen für den uneingeschränkten Fortbestand des Artikels 16 des Grundgesetzes, in Verbindung mit der Rechtswegegarantie aus Artikel 19, Absatz 2, ein.
Denn Rechtsextremismus und Gewalt lassen sich nur begrenzen, wenn die Ursachen bekämpft werden. Jugendpolitik ist gefordert, mit pädagogischen Strategien, mit Streetworkern, mit qualifizierten Angeboten im Bildungs-, aber auch im Freizeitbereich, den wachsenden Gewaltpotentialen entgegenzuarbeiten. Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik ist gefordert, den Menschen dort in den Regionen, wo sie aufgewachsen sind, wo sie leben, arbeiten und ausgebildet werden möchten, ihnen dort Perspektiven zu bieten. Entwicklungspolitik ist gefordert, denn Armutswanderungen lassen sich weder durch Einschränkung des Asylrechts noch durch eine restriktive Einwanderungspolitik verhindern.
Armutswanderungen lassen sich nur eingrenzen, wenn die Fluchtursachen - Hunger, Krieg, Unterdrückung, Krankheit, rassistische und sexistische Verfolgung - wirkungsvoller bekämpft werden. Statt eine Politik der "Abschottung" zu betreiben, muß sich die Bundesrepublik aktiver als bisher an der Beseitigung der "Ausbeutung" der Dritten Welt beteiligen und zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung beitragen. Das ist in Zeiten der Normalität ein besserer Einsatz als Soldaten "out of area" für andere Interessen streiten zu lassen!
Unsere Aufgabe als Gewerkschaften muß es sein, jenen verbreiteten Alltagsrassismus zu bekämpfen, ohne dessen stille Duldung gewaltsame Attacken gegen Ausländer kaum möglich wären. Deshalb haben wir als Gewerkschaften dazu aufgerufen, daß sich Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in Betrieben, Ausbildungsstätten, in Berufsschulen, in der Öffentlichkeit schützend vor Ausländer und asylsuchende Flüchtlinge stellen, daß sie Aufklärung mit überzeugenden Beispielen demokratischer Praxis und mit solidarischem Alltagshandeln verbinden.
Wir brauchen eine bundesweite Initiative aller demokratisch engagierten Kräfte gegen Nationalismus, Intoleranz und Fremdenhaß. Wir brauchen die aktive Solidarität mit den Opfern der Gewalt! Wir brauchen aktiven Widerstand gegen die Welle der Gewalt, die sich immer neue Opfer sucht und wenn wir nicht Einhalt gebieten, neue weitere Opfer suchen wird: Asylbewerber, Ausländer, Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle und Obdachlose.
Die Geschichte des Widerstandes lehrt: Nicht schrittweises Zurückweichen hilft, sondern nur die entschlossene, solidarisch mit den Opfern organisierte Gegenwehr! Gefordert sind Zivilcourage und Mitmenschlichkeit im Alltag. Gefordert ist aber auch mehr Aufklärung über die wirklichen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit und von neuer Armut, um ideologischen Rattenfängern das Handwerk zu legen. Gefordert ist auch und vor allem mehr Information über Idelologie, Organisation und Hintermänner des organisierten Neofaschismus. Gefordert bleibt nach wie vor das Bekenntnis zur Tradition des Widerstandes gegen nationalistische Hetze und gesellschaftliche Intoleranz.
Lernen wir aus der Geschichte! Leisten wir Aufklärung, organisieren wir Widerstand gegen rechts, bevor es eines Tages zu spät ist! Laßt uns dazu in hoher moralischer Verpflichtung stehen! Ich danke allen, die gekommen sind!