Hauptkundgebung

von Karin Benz-Overhage

Liebe Freunde und Freundinnen, liebe Kollegen und Kolle­ginnen aus den Gewerkschaften!

Konfrontiert mit Hass, Gewalt und Mord, die das vereinigte Deutschland verunsichern und erschüttern, fragen wir uns: Warum folgen immer wieder so viele, vor allem junge Men­schen Parolen und Symbolen der Unmenschlichkeit? Warum greifen immer mehr zu Gewalt?

Viele, die hier versammelt sind, wissen aus antifaschistischer Arbeit: Die Welle der Gewalt hat gegen Fremde historische Wurzeln. Sie hat aber auch Ursachen in der Lebensgeschichte, der Psyche, in sozialer Verunsicherung - in Massenarbeitslo­sigkeit, Wohnungsnot, verschärfter Konkurrenz der Menschen untereinander bei wachsender sozialer Ungleichheit.

Vor allem aber die Hetze vieler Politiker gegen Asylbewerber und Flüchtlinge hat ein Klima geschaffen, in dem Schuldzu­weisungen an Fremde, Flüchtlinge, sozial Schwache wieder gedeihen konnten. So mancher Politiker, der sich jetzt über den Terror von rechts öffentlich entsetzt zeigt, hat mit dem entlarvenden Gerede von der "durchrasten Gesellschaft", mit dem Beschwören der "Asylantenflut" und des "vollen Bootes" systematisch Fremdenfeindlichkeit geschürt und rassistisches Gedankengut in diesem Lande wieder belebt. Schuldig sind aber auch jene Politiker, die deutsche Geschichte verharmlo­sen und einer neuen rechten Ideologie Vorschub leisten, in­dem sie Peenemünde "feiern"; einen Jörg Haider einladen; von "Staatsnotstand" schwadronieren, wo doch seit Jahren le­diglich konkretes politisches Handeln statt eine Änderung des Grundgesetzes gefordert wäre.

Verantwortlich für das wachsende Gewaltpotential - vor allem im Osten - ist auch eine Politik, die "blühende Landschaften" vorgaukelt und die "Industriewüsten" hinterlässt; die in ihren gesellschaftlichen Orientierungen zutiefst verunsicherten jun­gen Menschen keine, aber auch überhaupt keine Perspektive bietet.

Wir alle hier, die wir heute zusammengekommen sind, müs­sen mehr Mut und Entschlossenheit beweisen, der wachsen­den Gleichgültigkeit, Gewalt und Rassismus entgegenzutre­ten. Die Einschränkung oder gar Abschaffung des individuel­len Asylrechts bewirkt das Gegenteil. Wer dies fordert, signali­siert Verständnis gegenüber den Motiven der Täter und ihren stillen Sympathisanten; der kapituliert vor der Gewalt.

Die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes ist kein Weg, das Problem der Zuwanderung zu lösen; und sie ist kein Weg, Rechtsextremismus und Gewalt in unserer Gesellschaft entgegenzutreten. Die historische Erfahrung lehrt, Nachgie­bigkeit beeindruckt Rechtsextreme nicht! Das sagen wir auch den Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, die am Montag auf ihrem Parteitag über diese, für die demokratische Substanz unserer Gesellschaft so wichtigen Frage zu ent­scheiden haben. Ich bin seit mehr als 30 Jahren Gewerk­schafterin und Sozialdemokratin. Viele sozialdemokratischen Freunde analysieren die Situation so wie wir, bewerten die Erpres­sungsversuche der CDU/CSU so wie wir: Es findet die Ände­rung des Art. 16 als Verlust sozialdemokratischer Iden­tität. Sie alle bitte ich: Steht zu Eurer gesellschaftlichen Analysefä­higkeit und zu Euren Gefühlen: Sagt NEIN! Gefor­dert ist jetzt, die in unserer Verfassung verankerten humanisti­schen und demokratischen Grundprinzipien zu verteidigen.

Hundertausende Deutsche, darunter viele Männer und Frauen der Arbeiterbewegung, haben in der Nazizeit, geflohen vor Terror, existentieller Bedrohung, vor Mord und Völkermord, in aller Welt um Asyl bitten müssen, haben Zuflucht, oftmals eine neue Heimat gefunden. Weitere hätten gerettet werden kön­nen, wenn nicht viele Grenzen zu gewesen wären. Vor al­lem deshalb setzen sich Gewerkschafter und Gewerkschaf­terinnen für den uneingeschränkten Fortbestand des Artikels 16 des Grundgesetzes, in Verbindung mit der Rechtswegega­rantie aus Artikel 19, Absatz 2, ein.

Denn Rechtsextremismus und Gewalt lassen sich nur begren­zen, wenn die Ursachen bekämpft werden. Jugendpolitik ist gefordert, mit pädagogischen Strategien, mit Streetworkern, mit qualifizierten Angeboten im Bildungs-, aber auch im Frei­zeitbereich, den wachsenden Gewaltpotentialen entgegenzu­arbeiten. Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirt­schaftspolitik ist gefordert, den Menschen dort in den Regio­nen, wo sie aufgewachsen sind, wo sie leben, arbeiten und ausgebildet werden möchten, ihnen dort Perspektiven zu bie­ten. Entwicklungspolitik ist gefordert, denn Armutswande­rungen lassen sich weder durch Einschränkung des Asylrechts noch durch eine restriktive Einwanderungspolitik verhindern.

Armutswanderungen lassen sich nur eingrenzen, wenn die Fluchtursachen - Hunger, Krieg, Unterdrückung, Krankheit, rassistische und sexistische Verfolgung - wirkungsvoller be­kämpft werden. Statt eine Politik der "Abschottung" zu be­treiben, muß sich die Bundesrepublik aktiver als bisher an der Beseitigung der "Ausbeutung" der Dritten Welt beteiligen und zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung beitragen. Das ist in Zeiten der Normalität ein besserer Einsatz als Soldaten "out of area" für andere Interessen streiten zu lassen!

Unsere Aufgabe als Gewerkschaften muß es sein, jenen ver­breiteten Alltagsrassismus zu bekämpfen, ohne dessen stille Duldung gewaltsame Attacken gegen Ausländer kaum mög­lich wären. Deshalb haben wir als Gewerkschaften dazu auf­gerufen, daß sich Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in Betrieben, Ausbildungsstätten, in Berufsschulen, in der Öf­fentlichkeit schützend vor Ausländer und asylsuchende Flüchtlinge stellen, daß sie Aufklärung mit überzeugenden Beispielen demokratischer Praxis und mit solidarischem All­tagshandeln verbinden.

Wir brauchen eine bundesweite Initiative aller demokratisch engagierten Kräfte gegen Nationalismus, Intoleranz und Fremdenhaß. Wir brauchen die aktive Solidarität mit den Op­fern der Gewalt! Wir brauchen aktiven Widerstand gegen die Welle der Gewalt, die sich immer neue Opfer sucht und wenn wir nicht Einhalt gebieten, neue weitere Opfer suchen wird: Asylbewerber, Ausländer, Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle und Obdachlose.

Die Geschichte des Widerstandes lehrt: Nicht schrittweises Zurückweichen hilft, sondern nur die entschlossene, solida­risch mit den Opfern organisierte Gegenwehr! Gefordert sind Zivilcourage und Mitmenschlichkeit im Alltag. Gefordert ist aber auch mehr Aufklärung über die wirklichen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit und von neuer Armut, um ideologi­schen Rattenfängern das Handwerk zu legen. Gefordert ist auch und vor allem mehr Information über Idelologie, Organi­sation und Hintermänner des organisierten Neofaschismus. Gefordert bleibt nach wie vor das Bekenntnis zur Tradition des Widerstandes gegen nationalistische Hetze und gesell­schaftliche Intoleranz.

Lernen wir aus der Geschichte! Leisten wir Aufklärung, orga­nisieren wir Widerstand gegen rechts, bevor es eines Tages zu spät ist! Laßt uns dazu in hoher moralischer Verpflichtung stehen! Ich danke allen, die gekommen sind!

Ausgabe

Karin Benz-Overhage, IG Metall