Hauptkundgebung

von Claudia Roth

Liebe streitbaren Frauen und Männer,

wir sind heute hier versammelt, um unsere Sorge aber auch unsere Wut herauszuschreien, über eine Politik, die verant­wortlich ist für den Zustand und für das Ungleichgewicht auf diesem Planeten. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern; die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten.

Was wir brauchen, ist eine radikal neue Flüchtlingspolitik, die sich an die Wurzeln heranwagt, anstatt dauernd an den Sym­ptomen herumzudoktern. Aber, wie reagiert der industriali­sierte Norden? Die Wohlstandsfestung wird dichtgemacht. Unüberwindlich soll sie sein, zur Rettung vor Flüchtlingen. Und besonders widerliche Beispiele waren die Bilder aus Bari, besonders widerlich ist die Weigerung Bürgerkriegs­flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in diesem Europa überhaupt aufzunehmen.

Die Bausteine dieser Festung Europa sind Abkommen und Verträge wie das Schengener Abkommen und der Maastrich­ter Vertrag. Es sind Werkzeuge einer koordinierten Flüchtlings­abwehrpolitik. Und nichts, aber auch gar nichts anderes ver­steckt sich hinter den sog. europäischen Lösungen, wo übri­gens die Bundesregierung einer der größten Hauptar­chitekten ist.

Wenn es Euch wirklich ernst ist, mit einer humanen Flücht­lingspolitik, liebe Damen und Herren Spezialdemokraten und Restliberale, dann hört endlich auf, Euch hinter Europa zu verschanzen, dann ist Widerstand angesagt!

Nach dem Fall der Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten wird jetzt auch von Deutschland mitbetrieben, eine ganz neue Mauer aufgebaut. Und mit der Abschaffung des hi­storisch verantwortlichen Art. 16 - gleich mal so dabei - soll nun auch die deutsche Geschichte gnadenlos entsorgt werden. Ich sage Euch, das ist der Beitrag der politischen Brandstifter zur kollektiven Amnesie in einem Land, in dem es seit Mo­naten eine Welle, eine Orgie von Gewalt Flüchtlinge und Im­migranten und Immigrantinnen überrollt.

Das Festungsgefängnis EG lehnen wir ab! Wir wollen kein Europa, das für die Politiker der großen Koalition gegen Flüchtlinge den Vorwand dafür liefert, das Asylrecht zu ei­nem Gnadenrecht herabzuwürdigen!

Wir wollen kein Europa, daß das universelle Recht auf Frei­zügigkeit entsorgt!

Wir wollen kein Europa, das Flüchtlinge zu Sündenböcken stempelt, das Flüchtlinge systematisch entrechtet und das das gleiche tut morgen mit Schwulen, mit Behinderten und mit alten Menschen. So ein Europa wollen wir nicht!

Wir wollen ein offenes, ein humanes Europa, wir wollen ein gemeinsames Haus Europa. Also, liebe rosaroten Genossinnen und Genossen, hört endlich auf, am Art. 16 GG herumzusä­gen. Kämpft mit uns zusammen, daß dieser Art. 16 ausgebaut wird, und daß er das Modell für Europa wird!

Und wir alle zusammen, sag ich Euch: Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen! Sind wir gegen die Festung EG!

Ausgabe

Claudia Roth ist Bundestagsabgeordnete für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.