Hauptkundgebung

von Beate Klarsfeld

Vor 50 Jahren wurden zwei Völker - nur zwei Völker - in die Gaskammern des Dritten Reiches getrieben: die Juden und die Zigeuner. Diese beiden wurden von einem Staat misshandelt im Namen des deutschen Volkes. Auch wenn es der deutschen Volksunion, den Republikanern und Herrn Kohl missfallen sollte, aber eine so tragische Geschichte verlangt heute von uns Deutschen - in einem Staat wiedervereint - unseren be­sonderen historischen Verpflichtungen gegenüber Juden, Sinti und Roma nachzukommen. Diese besondere Verpflichtung hat die Bundesrepublik in großem Maße gegenüber dem jüdi­schen Volk erfüllt. Wenn heute aber jüdische Gedenkstätten - wie in Sachsenhausen - abgebrannt, jüdische Grabstätten be­schmiert und verwüstet werden; wenn Vertreter der jüdischen Gemeinde in Deutschland beleidigt werden, weil man sie als nicht vollwertige Deutsche betrachtet, das sollte uns zu den­ken geben und uns zur Wachsamkeit zwingen. Es muß aber auch vorbeugend gehandelt und gestraft werden. D.h. Polizei und Justiz müssen schneller und wirksamer gegen die Rechts­radikalen vorgehen.

Aber in diesem Bereich ist man äußerst zurückhaltend. Man muß der Kohl-Regierung nicht nur Handlungsunfähigkeit vorwerfen, sondern auch politisches Kalkül. Helmut Kohl sollte wissen, daß es dem Ansehen Deutschlands gewaltig schadet und unserer demokratischen Zukunft schadet.

Wir müssen andererseits feststellen, daß der Antisemitismus in den östlichen Ländern zunimmt, besonders in Russland. Wenn eines Tages die Juden aus diesen Ländern vor ihren Verfolgern fliehen müssen, so muß sich Deutschland ihnen öffnen, wenn auch nur als Durchgangsland. Was die Roma anbetrifft, die jetzt nach Inkrafttreten des deutsch-rumäni­schen Vertrages nach Rumänien ausgewiesen werden; sie ha­ben ein Anrecht auf politisches Asyl bei uns. Sie dürfen nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem sie verfolgt werden. Die rumänische Bevölkerung, die jetzt ihren nationalistischen Trieben freien Lauf läßt - durch eine wirtschaftlich schlimme Lage bestärkt -, wird in den Roma den Sündenbock suchen.

Und um unsere Solidarität mit den Roma zu zeigen, sind die Juden aus Frankreich mit mir nach Rostock gekommen. Sie wurden dafür von der deutschen Polizei geschlagen und fest­genommen, aber sie können das Gewissen der deutschen Öf­fentlichkeit aufrütteln. Die Roma gewaltsam nach Rumänien auszuweisen, wird das schlimmste Vergehen Deutschlands seit dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes.

Seit 1945 hat ein deutscher Soldat nicht das Recht zu Töten. Will sich jetzt die deutsche Regierung das Recht anmaßen, zu Deportieren? Die Sinti und Roma sind im Verhältnis zu den ihnen von Deutschland zugefügten Leiden nicht entschädigt worden. Heute, wo sie in einem von der Wirtschaftskrise be­drohten Osteuropa verfolgt werden, müssen sie in Deutsch­land eine Zuflucht finden, in einem Land, aus dem vor einem halben Jahrhundert ihre Mörder kamen.

Und lasst mich abschließend zu Euch sagen: Das 20ste Jahr­hundert von den Grausamkeiten des Nazi-Deutschland ge­branntmarkt, wird bald zuende gehen. Setzen wir alles daran, daß sich im 21sten Jahrhundert die Seele Deutschlands groß­zügig und menschlich zeigt!

Wir, die wir heute hier versammelt sind, müssen das 21ste Jahrhundert in diesem Sinne prägen.

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