Münchhausen

Hiroshima - Nagasaki

von Karl Grobe

Das scheint Gemeingut des zeitgeschichtlichen Wissens  zu sein: Am 6. und 9. August 1945 warf die US Air Force je eine Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki ab, prompt – am 10. August – schickte Japans Kaiser Hirohito ein Kapitulationsangebot, und so hat „die Bombe“ den Krieg im Pazifik beendet. Mehr noch: Sie rettete auch Menschenleben.

 US-Präsident Harry S. Truman äußerte am 15. Dezember 1945 in Washington: „Mir kam vor, eine Viertelmillion unserer jungen Männer in der Blüte ihrer Jahre war ein paar japanische Städte wert, und der Ansicht bin ich immer noch.“ Später sprach Truman auch gelegentlich von 500.000, ja zwei Millionen ziviler japanischer BürgerInnen, die ihr Weiterleben nach dem Krieg den Bomben mit den niedlichen Spitznamen „Little Boy“ und „Fat Man“ zu verdanken haben. Sie wären nach dieser Milchmädchenrechnung nämlich gewiss zu Tode gekommen, hätte der Krieg erst mit der Invasion der japanischen Hauptinseln und solchen grausamen Nahkämpfen beendet werden können, wie sie die japanischen Kamikaze-Kämpfer dann entfesselt hätten. Fiktive Opfer werden da verrechnet gegen 150.000 tatsächlich Tote, die unter den Explosionen von „Little Boy“ und „Fat Man“ verdampften, verbrannten, binnen Stunden unter unvorstellbaren Qualen starben, ohne dass sie gewarnt worden wären. Die Rechnung ist unseriös, demagogisch.

Der Befehl zum Abwurf der beiden Atombomben auf unverteidigte Städte, behauptet diese Lesart, war notwendig, weil Japan sonst ja nicht kapituliert hätte. Aber nichts an dieser Lesart stimmt. Sie ist gelogen; und diejenigen, die die Lüge in die Welt gesetzt haben, wussten, dass sie nicht die Wahrheit sagten.

Japan war längst bereit zur Kapitulation, nicht erst im August 1945, und die Verantwortlichen für die Kriegsführung in den USA wussten das, Präsident Truman, der außenpolitische Anfänger, der durch den Tod Franklin D. Roosevelts oberster Kriegsherr der USA geworden war, ebenso wie James Byrnes, Außenminister seit dem 3. Juli 1945, davor Direktor der Mobilmachungsbehörde. Sie waren durch die elektronische Spionage (Abhören und Entschlüsseln des japanischen politischen, diplomatischen und militärischen Funkverkehrs, zusammengefasst unter dem Namen MAGIC) umfassend informiert.

Sie kannten auch die Kriegslage. Ihnen war bewusst – und sie waren stolz darauf –, dass Japans einst gefürchtete Kriegsflotte seit der Seeschlacht bei den Midway-Inseln schon Anfang Juni 1942 im Pazifischen Ozean nahezu wehrlos war und den amerikanischen „Inselsprung“ von Archipel zu Archipel, von Atoll zu Atoll nicht aufhalten konnte. Mit jeder eroberten Inselgruppe aber rückte die US Air Force ihre Luftwaffenbasen näher an Japan heran.

Die Amerikaner eroberten im August 1944  die Marianen-Inseln Saipan, Guam und Tinian. Seitdem lagen die japanischen Hauptinseln in Reichweite der technisch und zahlenmäßig überlegenen US-Luftwaffe, die von dort aus im November Tokio zu bombardieren begann. Im März 1945 griff sie zehn Tage lang die Hauptstadt an, deren großenteils aus Holz erbaute Wohnhäuser fast sämtlich zerstört wurden. Allein am 9. März wurden durch einen Bombenangriff über 87.000 zivile EinwohnerInnen Tokios getötet.

War Japan gegen Luftangriffe wehrlos, so hatte es auch die Herrschaft über die Seewege in seiner unmittelbaren Nähe seit der Schlacht um Okinawa im April 1945 verloren. Folglich konnten die auf dem asiatischen Festland stationierten Truppen, die Hauptmasse der japanischen Landstreitkräfte, nicht mehr zur Abwehr einer Invasion der vier Hauptinseln herangeschafft werden. Obwohl große Teile Chinas und Südostasiens noch von japanischen Soldaten beherrscht wurden, hatte das Reich des Tenno den Krieg auch zu Lande verloren.

Mehrere der aufeinander folgenden Tokioter Kabinette streckten – schon seit Mitte 1943 – sogenannte Friedensfühler aus, zuerst wohl versuchsweise, ab Frühjahr 1945 aber durchaus ernsthaft. Dabei hofften sie unter anderem auf die Vermittlung der Sowjetunion, die gegenüber Japan nach einigen Zusammenstößen in der Mongolei neutral geblieben war und 1941 diese Neutralität durch einen Vertrag besiegelt hatte. Diesen Vertrag kündigte die UdSSR am 5. April 1945 auf. Vorher, auf der Jalta-Konferenz (Februar 1945), hatte sich die Sowjetunion verpflichtet, zwei bis drei Monate nach der deutschen Kapitulation den Krieg gegen Japan zu eröffnen – an der Seite der drei Alliierten USA, England und China.

Das Deutsche Reich hatte am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert. Auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) verhandelten die Staatsführer der USA, Britanniens und der Sowjetunion über das weitere Vorgehen nach dem Ende der Kampfhandlungen in Europa. Bis dahin hatten die USA und Großbritannien die UdSSR mehrfach aufgefordert, so rasch wie möglich in den Krieg gegen Japan einzutreten; doch zwei Tage nach Konferenzbeginn wurde US-Präsident Truman darüber informiert, dass ein Atombombentest auf dem Testgelände White Sands Missile Range erfolgreich getestet worden war.

Die Bombe war da. Was damit anfangen? Zahlreiche an der Entwicklung beteiligte Wissenschaftler empfahlen, eine der zwei bereits produzierten Bomben demonstrativ und angekündigt zu zünden. Die Militärs beharrten auf einem tatsächlichen Einsatz. Nichts zu tun hätte den Leiter des Bombenbaus, General Leslie Groves, zu einem die Verwendung immenser Finanzmittel rechtfertigenden Auftritt im Kongress zwingen müssen; durch den buchhalterischen Ansatz wäre es nicht bei dem Vorwurf geblieben, Geld verschwendet zu haben, sondern auch militärische Geheimnisse wären zur Sprache gekommen.

Die beiden einsatzbereiten Atombomben gegen japanische Ziele - deutsche gab es ja nicht mehr - einzusetzen, gebot sich in dieser militärischen Logik: erstens als Beweis für die reale Existenz der Bomben, zweitens als Beweis für die Entschlossenheit, sie gegen lebende Ziele einzusetzen. Ethische Einwände, die beteiligte Wissenschaftler wie Einstein, Szilagy, Rotblat und fünf Dutzend andere vorbrachten, galten diesen Militärs als nicht zielführende Humanitätsduselei. Doch auch Dwight D. Eisenhower, der militärische Sieger in Europa, schrieb später: „Japan suchte zu diesem Zeitpunkt bereits einen Weg zu kapitulieren – mit einem möglichst geringen Gesichtsverlust.“

Und: Die nachgewiesene Existenz dieser neuen Massenvernichtungswaffe – der ersten, auf die der Begriff genau zutrifft – hatte politische Wirkung und sollte sie haben. Der US-Historiker Gar Alperovitz kommt in seinem monumentalen Forschungsbericht zu dem Ergebnis: „Von April 1945 an rechneten führende amerikanische Regierungsvertreter damit, dass die Atombombe die Position der amerikanischen Diplomatie im Umgang mit der Sowjetunion deutlich verstärken würde, sobald über den Fernen Osten und über Nachkriegseuropa verhandelt würde.“ Alperovitz ist überzeugt: „Die Bombe war militärisch unnötig und moralisch falsch. Die Bombe war ein Fehler. Der Präsident und Byrnes wollten eine große Show veranstalten für die Russen und die Japaner – in dieser Reihenfolge –, und sie taten es.“

Dass die Sowjetunion vereinbarungsgemäß am 8. August, ein Vierteljahr nach der deutschen Kapitulation, Japan den Krieg erklären werde, bestimmte den Zeitplan. Unbedingt vorher musste die Vernichtungsgewalt der A-Bombe gezeigt werden, und zwar den Russen.

Die USA brauchten Hiroshima und Nagasaki nicht, um den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen; der war längst gewonnen. Sie brauchten das Opfer dieser Städte, um der UdSSR ihre militärtechnische Übermacht zu demonstrieren. Hiroshima und Nagasaki waren Auftakte des Kalten Kriegs.

 

Literaturhinweise:
Der erste umfassende, 40 Magazinseiten lange Bericht über die Bombardierung Hiroshimas erschien 1946. John Hersey: Hiroshima. A Noiseless Flash, in: The New Yorker, 31. August 1946. http://www.newyorker.com/magazine/1946/08/31/hiroshima

Aktuell ist erschienen: Klaus Scherer: Nagasaki: Der Mythos der entscheidenden Bombe. Berlin (Hanser) 2015, 272 Seiten.

Grundlegend für die militärischen und politischen Hintergründe der bisher einzigen Atomwaffen-Einsätze bleibt: Gar Alperovitz: Hiroshima. Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer, Fee Engemann, Suzanne Annette Gangloff, Cornelia Langendorf, Annemarie Lösch und Edith Nerke. Hamburg (Hamburger Edition)  1995, 860 Seiten.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.