Türkei

Kampagne für Kriegsdienstverweigerer in der Türkei

von Rudi Friedrich

Der Verein Vicdani Ret Derneği bittet um Unterstützung für ein umfangreiches Projekt.

Der 37-jährige Kamil Demir ist Journalist und Kriegsdienstverweigerer. Für kritische Medien in der Türkei zu arbeiten ist schwierig genug und ständig mit dem Risiko der Verhaftung verbunden. Als erklärter Kriegsdienstverweigerer unterwegs zu sein, erhöht das Risiko deutlich. So wurde er bis jetzt fast 50 Mal verhaftet. Bei jeder Kontrolle, bei jedem Hotelaufenthalt wird sein Militärstatus überprüft und festgestellt, dass er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat. Darauf folgt ein Verfahren, das manchmal mit einer Haftstrafe verbunden ist, häufiger jedoch mit einer Geldstrafe.
Er ist einer von etwa 1.000 Kriegsdienstverweigerern, die in der Türkei ihre Verweigerung öffentlich gemacht haben und den Repressionen des sogenannten „zivilen Todes“ ausgesetzt sind. Die Türkei hat eine Wehrpflicht mit einem sechs Monate dauernden Militärdienst. Sie ist das einzige Land des Europarates, das die Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt. Das wurde wiederholt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Verletzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung angesehen. Es war auch der Gerichtshof, der bereits 2006 die „zahlreichen Anklagen, die sich daraus ergebenden summierenden Effekte, in Verbindung mit der Möglichkeit einer lebenslangen Strafverfolgung“ als „zivilen Tod“ bezeichnete (Ülke v. Turkey, 39437/98).

Der in Istanbul ansässige Verein Vicdani Ret Derneği (Verein für Kriegsdienstverweigerung) hat nun einen neuen Anlauf genommen, um das zu ändern. Mit einem umfangreichen Projekt stellt er systematisch Informationen über die Situation der Kriegsdienstverweigerer zusammen und macht sie öffentlich. Das soll auch Grundlage für eine intensive Lobbyarbeit bei Parlamenten in Europa wie auch auf Ebene des Europarates, der OSZE und der Vereinten Nationen sein. Zudem bietet der Verein den Betroffenen Rechtsberatung und Unterstützung in den Strafverfahren an.
Ganz praktisch stellt der Verein auf der eigenen Website https://vicdaniret.org ein Formular für Betroffene zur Verfügung, in dem sie ihre Situation schildern, über Rechtsverletzungen berichten, denen sie als Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt sind und Dokumente ihrer Strafverfahren hinterlegen können. Das dient zugleich als Basis für regelmäßige Berichte des Vereins im zweimonatlich erscheinenden „Bulletin Kriegsdienstverweigerung“. So wurden im Januar und Februar 2021 von den Verweigerern folgende Rechtsverletzungen benannt: Kündigung der Arbeitsstelle, keine Ausbildungsmöglichkeit, ich konnte nicht wählen gehen, ich kann nicht reisen, ich bin nicht sozialversichert, ich kann nicht im öffentlichen Dienst arbeiten, ich werde mehrmals wegen der gleichen Straftat verfolgt.

Der Verein dazu: „Die Antworten zeigen auf, dass die Rechtsverletzungen der Personen, die keinen Militärdienst ableisten wollen, exponentiell ansteigen und eine Kette weiterer Rechtsverletzungen zur Folge haben. Unter den Bedingungen des Zivilen Todes  zu leben, bedeutet für sie, dieser Situation alltäglich ausgesetzt zu sein.“ Das trifft auch auf all diejenigen zu, die zwar ihre Kriegsdienstverweigerung bislang nicht öffentlich erklärt haben, aber ebenfalls keinen Militärdienst ableisten wollen und als militärdienstflüchtig gelten. Ihre Zahl geht nach offiziellen Angaben der türkischen Regierung in die Hunderttausende.

In einer Stellungnahme vom Juni 2020 drängte das Ministerkomitee des Europarates, das für die Umsetzung der Entscheidungen des Gerichtshofes für Menschenrechte zuständig ist, die Türkei dazu, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen und sicherzustellen, dass alle diskriminierenden und sanktionierenden Maßnahmen gegen Kriegsdienstverweigerer aufgehoben werden und ihnen Wiedergutmachung geleistet wird. Bis September 2020 sollte die türkische Regierung das umsetzen. Geschehen ist diesbezüglich nichts.

An dieser Stelle muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Situation in der Türkei überdies dafür sorgt, dass immer wieder Kriegsdienstverweigerer in anderen Ländern Schutz und Asyl suchen. Hier werden sie allerdings in der Regel abgelehnt, weil auch deutsche Behörden jedem Staat das Recht zubilligen, die Wehrpflicht auch mit Strafverfolgung durchzusetzen. Das gilt auch dann, wenn es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Betroffenen droht dann die Abschiebung.

Es ist ein wichtiges Projekt, das Vicdani Ret Derneği durchführt und mit dem eine jahrzehntelange Arbeit fortgeführt wird. In einem Land wie der Türkei, das Krieg führt, und in dem die Aktiven des Vereins selbst unter Druck stehen und der Verein strafrechtlich verfolgt wird, brauchen sie dafür unsere volle Unterstützung.

Am 15. Mai, dem Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, steht die Situation in der Türkei im Fokus. Mehr dazu und zum Projekt auf der Website von Connection e.V. unter www.Connection-eV.org/CO_Turkey.
Rudi Friedrich ist Geschäftsführer von Connection e.V.

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Rubrik

Friedensbewegung international