Vom Kriegs- zum Friedensrecht

Kann es Friedensrecht in einer Welt des Krieges geben?

von Lothar Brock

Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler hat dem Vortrag, den sie bei der Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises am 11. September 2012 in der Frankfurt Paulskirche gehalten hat, die Frage vorangestellt: „Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?“. Diese Frage greift die vielzitierte These von Adorno auf, es gäbe „kein richtiges Leben im falschen“. In ähnlicher Weise stellt sich die Frage, ob es ein Friedensrecht in einer Welt des Krieges geben kann.

In der Zeit von der Mitte des 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich eine „große Transformation“ (Karl Polanyi) des Völkerrechts vollzogen: die Transformation vom Kriegs- zum Friedensrecht. Kern dieser Entwicklung ist die Einschränkung und schließlich die Aufhebung des Rechts der Staaten auf unilaterale Gewaltanwendung (Art. 2/4 UN-Charta). Zwar erkennt die UN-Charta weiterhin die Selbstverteidigung als „naturgegebenes“ Recht der Staaten an. Dieses Rechts wird aber eindeutig dem System der kollektiven Friedenssicherung zugeordnet, das in den Kapiteln VI, VII und teilweise auch VIII der UN-Charta verankert ist. Der Internationale Gerichtshof (IGH) vertritt zudem die Einschätzung, dass das allgemeine Gewaltverbot inzwischen zum Völkergewohnheitsrecht geworden sei. Es kann als unmittelbar geltendes Recht betrachtet werden, das alle Staaten bindet, unabhängig davon, ob sie Mitglied der Vereinten Nationen sind oder nicht.

Der Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht kann als Versuch interpretiert werden, der von Immanuel Kant gegeißelten Freiheit der Staaten, „sich unaufhörlich zu balgen“, Einhalt zu gebieten. Er ist aber im Wesentlichen das Ergebnis immer neuer Kriegserfahrungen (Erster und Zweiter Weltkrieg) und scheint sich damit selbst zu dementieren. Insofern erscheint das Völkerrecht eher als Protokoll der Gewalt denn als Instrument zu ihrer wirksamen Eindämmung. Diese Sicht wird jedoch der Wechselwirkung zwischen Völkerrecht und Politik nicht gerecht.

Das Interventionsverbot
Die Ausdifferenzierung des Völkerrechts erhöht seine Interpretationsbedürftigkeit. Das zeigt der schillernde Umgang mit dem Interventionsverbot in „Theorie“ und „Praxis“. Das Interventionsverbot gehört wie das Gewaltverbot zu den Kern-Normen der UN-Charta (Art. 2/7). Es leitete seinen praktischen Stellenwert zunächst aus den post-kolonialen Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd sowie aus dem Ost-West-Konflikt ab. Im Nord-Süd-Zusammenhang konnte ihm eine emanzipatorische, im Ost-Verhältnis eine friedenssichernde Funktion zugeschrieben werden. Indes verbarg sich hinter dem emanzipatorischen Anspruch in vielen Fällen die Neigung der Mächtigen, Befreiung und Selbstbestimmung für die Selbstbereicherung zu nutzen. Und im Rahmen des Ost-West-Konflikts diente gerade das Interventionsverbot zum Teil der Legitimation einer Interventionspraxis, die die jeweiligen hegemonialen Räume von Ost und West gegeneinander abschirmte, indem sie Interventionen innerhalb dieser Räume als Abwehr von Interventionen der jeweiligen Systemgegner auswies.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts trat das Spannungsverhältnis zwischen der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Menschenrechte und dem Souveränitätsanspruch der Staaten in den Vordergrund. Über „humanitäre Interventionen“ war schon seit Ende des 19. Jahrhunderts gestritten worden. Dieser Streit gewann jedoch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Dynamik. Das geschah durch die Verknüpfung der „humanitären Intervention“ mit einer Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg, mit der Denkfigur einer „good international citizenship“ und mit der Neudefinition von Souveränität als Verantwortung. Die Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg sollte Kriterien für die Zulässigkeit kollektiver Gewaltanwendung auf internationaler Ebene bieten. Im konkreten zeitgeschichtlichen Zusammenhang bedeutete das, dass die unilaterale Gewaltanwendung gegebenenfalls als Ersatzvornahme für ausbleibende Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates (z.B. im Kosovo-Konflikt) gerechtfertigt werden konnte. Die zentrale Annahme der "good international citizenship" (wie sie von der „Englischen Schule“ der Internationalen Beziehungen in der Regierungszeit von Tony Blair vertreten wurde) war es, dass sich auf Weltebene eine normativ integrierte „internationale Gesellschaft“ herausgebildet habe, in der einzelne Staaten oder Staatengruppen als Sachwalter der für die „internationale Gesellschaft“ konstitutiven materiellen Normen fungieren könnten. Das schloss die Möglichkeit unilateraler militärischer Gewalt zum Schutz von Menschen in Konflikten ein. Die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung sollte verhindern, dass gravierende Menschenrechtsverletzungen von den politisch Verantwortlichen als innerstaatliche Angelegenheit ausgewiesen und damit dem internationalen Zugriff entzogen werden. Die Brisanz dieses normativen Projekts (das vom UN-Generalsekretariat initiiert wurde) besteht darin, dass es auch für eine interventionistische Politik im Sinne eines Rechts auf unilaterale humanitäre Intervention genutzt werden konnte.

Schutzverantwortung
Aber das ist nur die eine Seite der Wechselwirkung zwischen Politik und Völkerrecht. Die andere zeigt sich darin, dass der Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht auch neue Grundlagen für die Kritik der Gewalt bietet, und damit die Legitimationskosten für die Anwendung von Gewalt (gegenüber der nationalen und internationalen Öffentlichkeit) steigen.

Dem liegt der Sachverhalt zugrunde, dass jede Nutzung des Rechts als Ressource zur Rechtfertigung der eigenen Politik immer auch eine Affirmation des Rechts darstellt. Damit festigt die Rechtfertigungspraxis die Möglichkeiten ihrer Kritik. Diese wirkt dann wiederum auf das politische Handeln zurück. Dabei dreht sich nicht alles notwendigerweise im Kreise, vielmehr handelt es sich um einen Kampf um das Recht, der genauso von bornierten Interessen wie von kosmopolitischen Agenden (Menschenrechte, Demokratie) befeuert wird. Zur Veranschaulichung sei auf die weiterhin nicht abgeschlossenen Bemühungen verwiesen, das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechtsschutz und Interventions- bzw. Gewaltverbot mit Hilfe des Konzepts der Schutzverantwortung aufzulösen. Die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) suchte im Anschluss an den Kosovo-Krieg von 1999 eine Lösung darin, dieses Spannungsverhältnis systematisch kleinzuarbeiten. Zum einen entwarf die ICISS eine Stufenleiter von Zuständigkeiten (Sicherheitsrat, Generalversammlung, Regionalorganisationen). Zum andern wurde das Problem der militärischen Intervention durch die Ausdifferenzierung der Schutzverantwortung in die „responsibility to prevent“, „to react“ und „to rebuild“ entschärft. Der UN-Gipfel, der 2005 die Schutzverantwortung bekräftigte, betont die primäre Schutzverantwortung der Regierungen und weist der internationalen Gemeinschaft die vorrangige Aufgabe zu, die betroffenen Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstützen. Erst wenn feststeht, dass eine Regierung nicht willens oder in der Lage ist, ihrer Schutzverantwortung nachzukommen, soll die internationale Gemeinschaft in Gestalt des Sicherheitsrates eigene – nicht nur militärische! – Maßnahmen zum Schutz in Erwägung ziehen. UN-Generalsekretär Ban ki-moon hat das Spektrum von nicht militärischen Handlungsmöglichkeiten in einem Bericht von 2009 weiter konkretisiert. Er geht dabei insofern über den ICISS-Entwurf hinaus als er nicht nur zwischen den „responsibilities to prevent“, „to react“ und „to rebuild unterscheidet, sondern die „responsiblity to react“ ihrerseits im Sinne ziviler Konfliktbearbeitung weiter auffächert.

Damit werden die zugrunde liegenden Probleme zwar relativiert, zugleich besteht aber auch die Gefahr, dass die Schutzverantwortung selbst verwässert wird. Und was ihren harten Kern betrifft, die Verhängung militärischer Zwangsmaßnahmen, so bleibt ein anderes Problem vorerst bestehen: Der Sicherheitsrat verfügt über keine eigenen Eingreifkapazitäten. Es muss also die Anwendung von Zwangsgewalt an handlungswillige Staaten delegieren mit der möglichen Folge, dass sich Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung in Kriege der Einzelstaaten verwandeln. Ebenfalls offen ist die Frage, wie mit dem Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und internationaler Schutzverantwortung umgegangen werden soll. Einige Befürworter der humanitären Intervention argumentieren, die Souveränität eines Staates läge bei seinem Volk, folglich schütze eine humanitäre Intervention, die die Rechte des Volkes schützt, damit zugleich die Souveränität. Dagegen steht das Argument, dass jeder Eingriff von außen in das Verhältnis Staat-Gesellschaft gerade die Volkssouveränität in Frage stellt.

Fazit
Kann es also ein Friedensrecht in einer Welt des Krieges geben? In erster Linie bietet das Recht in dem hier behandelten Zusammenhang einen Referenzrahmen für den Umgang mit Konflikten. Es dient dabei sowohl als Ressource für die Legitimation von Gewalt als auch für deren Kritik. Jede Anwendung von Gewalt bedarf der Rechtfertigung, dies gilt aber in zunehmendem Maße auch für den Verzicht auf wirksame Gegenmaßnahmen gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen. Insofern bedeutet der Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht einen Wandel der „Rechtfertigungsverhältnisse“ (Rainer Forst) bezogen auf die Anwendung von Gewalt. Das Friedensrecht konsolidiert sich als normativer Bezugsrahmen der Politik (das Gewaltverbot wird von keinem Staat prinzipiell in Frage gestellt); die Bedeutung des Friedensrechts für den Umgang mit Konflikten bleibt aber umstritten und umkämpft (siehe Syrien). Soll das nicht zur Quelle immer neuer Gewalt werden, bedarf es einer weiteren Transformation: der von der militärischen Gewaltanwendung zur zivilen Konfliktbearbeitung.

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Lothar Brock ist Gastprofessor an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt.