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Kaschmir-Gespräche und atomare Instabilitäten
vonAm 28. Dezember 2004 wurden die Friedensgespräche zwischen Pakistan und Indien zur Lösung des Kaschmir-Problems ergebnislos abgebrochen. Damit scheiterte der jüngste Versuch, den seit 1947 schwelenden Konflikt zu lösen. Damals wurde die britische Kronkolonie in Pakistan und Indien aufgeteilt und die dazwischen liegende Region Kaschmir in einen moslemisch-pakistanischen Teil "Kaschmir Azad" und ein hinduistisch-indisches Gebiet "Jammu und Kaschmir" gespalten. Die Hegemonialansprüche beider Seiten auf das gesamte Gebiet mündeten bereits dreimal in einem konventionellen Krieg (1947, 1965 und 1971); zur Jahreswende 2001/2002 drohte gar eine atomare Eskalation.
Noch ist der gordische Knoten zur Lösung dieses uralten Konfliktes nicht zerplatzt. Nach Jahrzehnten der Konfrontation kann keine Seite ihre Ansprüche einfach aufgeben, weil dies eine innenpolitische Krise auslösen würde. Bisher garantierte gerade die Aussichtslosigkeit des militärischen Säbelrasseln die Fortdauer des Konfliktes. Dennoch wäre Pessimismus unangebracht. Immerhin gibt es Einzelerfolge: So nahmen beide Länder im Juni 2003 ihre diplomatischen Beziehungen wieder auf, dem folgte am 25. November 2003 ein Waffenstillstand, der die monatelangen Artillerieduelle entlang der Demarkationslinie beendete. Mit der Aufnahme des zivilen Flugverkehrs und der Zugverbindungen im Januar 2004 unternahmen beide Seiten einen ersten Schritt zur Überwindung der Teilung.
Während Pakistan seine Truppen in Kaschmir im März 2003 um 5000 Soldaten erhöhte, hat Indien angekündigt, seine Truppen in der Region Anfang 2005 zu verringern. Beides gilt als vertrauensbildende Maßnahme, weil die pakistanischen Truppen mit den verschärften Grenzkontrollen das Einsickern von islamistischen Terroristen nach Indien verhindern, während die indischen Streitkräfte mit ihrem Rückzug zur Truppenentflechtung beitragen.
Die bilateralen Friedensgespräche wurden offiziell am 16. Februar 2004 aufgenommen. Höhepunkt der Verhandlungen war ein Treffen zwischen dem pakistanischen Präsidenten Pervez Muscharraf und dem indischen Premierminister Manmohan Singh am Rande der UN-Vollversammlung am 24. September 2004 in New York. Erstmalig stimmten beide Politiker darin überein, alle Streitfragen künftig friedlich lösen zu wollen. Gemäß der vereinbarten Roadmap werden die Gespräche auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben. Parallel laufen Verhandlungen zur Beilegung des Kaschmirkonfliktes, ein Gedankenaustausch zur Vermeidung eines atomaren Krieges und Gespräche zur Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen.
Schon der erste Kaschmirkrieg 1947 forderte eine Million Tote und zwölf Millionen Vertriebene, um wieviel größer würden die Opfer eines Atomkrieges sein? Indien verfügt über 100 bis 150 Atomwaffen, Pakistan über 20 bis 50 Stück. Zum indischen Nuklearbestand gehören u.a. rund 50 Jagdbomber Mig-27 Flogger der 2., 9. und 18. Staffel in Hindan und Jaguar der 5. und 14. Staffel in Ambala. Außerdem besitzt Indien mindestens 15 Mittelstreckenraketen vom Typ Agni I. Zum pakistanischen Arsenal gehören u.a. 28 Kampfflugzeuge F-16 Fighting Falcon der Staffeln Nr. 9 Griffins, Nr. 11 Arrows in Sargodha und Nr. 14 Shaheens in Kamra. Hinzu kommen rund 10 Mittelstreckenraketen Ghauri I in Stellungen zwischen Sialkot und Karachi.
Die Dringlichkeit eines funktionierenden nuklearen Regimes auf dem indischen Subkontinent wurde durch die Atomkrise vom Oktober 2001 bis Juni 2002 erneut unterstrichen: Ausgelöst wurde die Krise am 1. Oktober 2001 durch einen Attentäter der islamistischen Jaish-e-Mohammad-Gruppe (JeM), der einen Selbstmordanschlag vor dem Parlamentsgebäude in Srinargar, der Hauptstadt des indisch-besetzten Teils von Kaschmir, verübte. Der Anschlag forderte 38 Tote. Dem folgten am 15. Oktober zweitägige Grenzgefechte, bei denen die indischen Streitkräfte 30 pakistanische Militärposten zerstörten. Danach verübten moslemische Attentäter am 13. Dezember 2001 einen Anschlag auf das indische Parlament in Neu Dehli. Daraufhin verstärkten sowohl Indien (Operationen PARAKRAM und SANGRAM) als auch Pakistan (Operation KHABARDAR) ihre Truppenkontingente entlang der Demarkationslinie, so dass schließlich eine Million Soldaten kriegsbereit aufgeboten wurden.
Auf beiden Seiten muss die Neigung zum Erstschlag sehr groß gewesen sein, da die Frühwarnzeit bei einem Raketenangriff nur drei Minuten betragen hätte. Diese Zeitspanne ist zu kurz, um einen Militärangriff auf den Radarschirmen zu erkennen und die staatliche Führung zu alarmieren, die dann einen Befehl zum Gegenschlag an die Jagdbombergeschwader und Raketeneinheiten weitergeleitet hätte. Im Falle eines Angriffs bliebe also keine Zeit, um die eigenen Nuklearwaffenträger rechtzeitig zu starten, vielmehr würden sie in ihren Stellungen am Boden zerstört werden. Nach der militärischen Logik ist daher die Neigung zu einem Präemptivschlag besonders groß. Diese Tendenz wurde noch dadurch verstärkt, dass das pakistanische Atompotential nur auf wenige Raketen beschränkt war, so dass bei einem Überraschungsangriff das gesamte Nukleararsenal hätte zerstört werden können, ohne dass eine gesicherte Zweitschlagskapazität übriggeblieben wäre. Zum verstärkten Objektschutz seiner Nuklearanlagen startete Pakistan damals die Operation THUNDERBOLT.
Ein atomarer Krieg hätte für beide Seiten verheerende Folgen, wie die amerikanischen Atomwaffenexperten William Arkin und Robert Norris darlegten: "Mumbai (Bombay), Calcutta und Neu-Dehli haben eine Einwohnerzahl von 12, 11 bzw. 8 Millionen Menschen. Karachi, Lahore und Rawalpindi haben 8, 5 bzw. 2 Millionen Einwohner. Die Auswirkungen eines Atomangriffs auf eine Stadt sind enorm: Von den schätzungsweise 350.000 Einwohnern Hiroshimas am 6. August 1945 starben ungefähr 140.000 bis zum Jahresende durch die Wirkungen der 15 Kilotonnen-Bombe. (..) Eine Bombe, die auf eine große indische oder pakistanische Stadt abgeworfen wird, könnte den Tod von Millionen verursachen." Nach neun Monaten konnte die Kaschmirkrise schließlich friedlich beigelegt werden.
Im Allgemeinen wird unterstellt, dass durch die zunehmende Proliferation von Nuklearwaffen die Kriegsgefahr in der Dritten Welt steigt, jedoch war es in diesem Fall gerade der Besitz von Nuklearwaffen, der beide Seiten von einem Atomkrieg zurückweichen ließ.
Aber die Gefahr eines atomaren Krieges um Kaschmir ist nicht das einzige Nuklearrisiko. Der Beginn des amerikanischen Anti-Terrorkriegs im Oktober 2001 führte zu einer Verschärfung der internen Spannungen in Pakistan: Die USA brauchten das Land als Aufmarschgebiet für ihren Krieg gegen die Taliban in Afghanistan, die aber Anfang der neunziger Jahre von der pakistanischen Regierung aufgebaut worden waren. Weil der pakistanische Präsident Muscharraf dem amerikanischen Druck nachgab, besteht nun die Gefahr eines Volksaufstandes oder eines Putsches islamistischer Offiziere der Streitkräfte oder des allgegenwärtigen Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI). Dann stellt sich die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die nationalen Atomwaffen behält.
Um die Gefahr zu bannen, geht Präsident Muscharraf massiv gegen die islamistischen Fundamentalisten vor und erfüllt damit zugleich eine Forderung der USA und Indiens. Außerdem hat er den Chef des ISI in den letzten Jahren mehrfach ausgewechselt. Seit dem 23. Februar 2004 wird der Dienst durch General Ijaz Schah kommandiert. Im Gegenzug versucht die islamistische Opposition, die Regierung zu stürzen. Im Dezember 2003 scheiterten zwei Mordanschläge auf Präsident Muscharraf, an denen auch 12 Offiziere beteiligt waren. Am 30. Juli 2004 scheiterte ein weiteres Attentat auf den (designierten) Premierminister Schaukat Aziz.
Eigentlich hatte General Muscharraf angekündigt, er wolle seinen Posten als Armeechef zum 31. Dezember 2004 aufgeben und nur noch das Amt des Staatspräsidenten ausüben. In den letzten Wochen hat sich Muscharraf aber anders besonnen. Jetzt will er beide Funktionen bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2007 behalten. Dagegen moniert das oppositionelle Bündnis der islamistischen Parteien Muttahida Majlis-e-Amal (MMA). Sie werfen Muscharraf vor, eine Diktatur aufzubauen, und riefen zu Massenprotesten auf.