Irgendwann ist die innenpolitisch motivierte Krise nicht mehr steuerbar

Kaschmir: Zauberlehrlinge im Karakorum

von Jochen Hippler
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Seit Ende Mai hat Indien 40.000 zusätzliche Soldaten in seinen Teil Kaschmirs verlegt, wo Hunderte von schwerbewaffneten Eindringlingen aus Pakistan strategische Berghöhen besetzt haben. Während die Kämpfe zu Beginn nur zwischen den Aufständischen und dem indischen Militär geführt wurden, kommt es inzwischen immer wieder zu direkten Gefechten zwischen indischen und pakistanischen Truppen über die Waffenstillstandslinie hinweg. Beide Seiten sprechen von einer "kriegsähnlichen Situation", und der Ausbruch eines großen Krieges ist trotz zahlreicher diplomatischer Bemühungen nicht mehr ausgeschlossen.

Der Kaschmir-Konflikt ist zuerst einmal der Versuch der indischen Regierung, durch militärische Gewalt den Kaschmiris auf ihrer Seite der Grenze das Selbstbestimmungsrecht vorzuenthalten. Nach zehn Jahren gewaltsamen Widerstandes sind inzwischen schätzungsweise 30.000 Tote zu beklagen, vorwiegend durch die brutale Repression der indischen Truppen in Kaschmir - zeitweise mehr als eine halbe Million. Indien mag plausible Gründe für seine Politik der "harten Hand" haben, etwa die Sorge, dass der Zerfall seines Vielvölkerstaates und Aufstände in anderen Landesteilen nur auf diese Art gestoppt werden können. Trotzdem sind die Menschenrechtsverletzungen und Repression eine zentrale Quelle des Konflikts. Die gegenwärtigen Kämpfe haben diese interne Dimension des Problems wieder verschärft: während noch im Frühjahr die Lage im indischen Teil Kaschmirs so ruhig wie lange nicht war und die Aufstandsbewegung weitgehend zerschlagen schien, rührt sich nun wieder stärker der Widerstand. Die Praktiken der indischen Armee - etwa das Niederbrennen ganzer Dörfer - haben dazu wesentlich beigetragen.
 

Die bilateralen Beziehungen Indiens und Pakistans befinden sich heute auf dem absoluten Tiefpunkt, nachdem noch im Februar anlässlich eines Gipfeltreffens beider Regierungschefs in Lahore Optimismus geherrscht hatte. In den letzten fünfzig Jahren haben beide Länder bereits drei Kriege gegeneinander geführt, davon zwei um Kaschmir. 1986/87 sowie 1990 stand ein weiterer Kriegsausbruch kurz bevor. Inzwischen sind die Streitkräfte beider Seiten wieder in Alarmbereitschaft versetzt und Truppen an die Grenze verlegt worden, selbst die Kriegsmarine beider Länder ist zum Kampf bereit. Und: vor einem Jahr haben Indien und Pakistan beide mehrere Atomsprengköpfe getestet, und der Einsatz von Atomwaffen ist heute eine selbstverständliche Option des Krieges auf dem Subkontinent. Pakistan ist auf konventionellem Gebiet Indien weit unterlegen und auch strategisch benachteiligt: seine Hauptstadt Islamabad und die beiden größten Städte Karachi und Lahore (mit 15 bzw. 8 Mill. Einwohnern) liegen relativ nah an der Grenze zu Indien. Deshalb besteht die Gefahr, dass Pakistan im Kriegsfall zum Ausgleich der eigenen Unterlegenheit als erstes Atomwaffen einsetzen würde - mit den entsprechenden, verheerenden Folgen eines indischen Gegenschlages.

Darüber hinaus sind die indisch-pakistanischen Beziehungen auch für die Gesamtregion von hoher Bedeutung. Die Region ist instabil, die Bürgerkriege in Afghanistan und Tadschikistan, die neuen Staaten Zentralasiens mit ihren riesigen Energieressourcen und die unmittelbare Nähe der Atommächte China und Russland bilden ein Umfeld, in dem gewaltsame Spannungen zwischen den beiden Ländern leicht zusätzliche Krisen hervorrufen können.

Der Kaschmirkonflikt prägt zugleich die Innenpolitik in Indien und Pakistan auf vielfältige Weise. Das gilt einmal politisch: seit der Spaltung des Subkontinents und der Gründung der beiden Staaten war Kaschmir nicht nur Zankapfel, sondern oft das Symbol ihrer Feindschaft, eine identitätsstiftende Wunde der eigenen Geschichte. Heute engt dieser Symbolgehalt den Spielraum beider Regierungen ein: etwa wenn die islamistische Oppositionspartei Jamaat-i-Islami Ministerpräsident Nawaz Sharif scharf davor warnt, einer Teilung Kaschmirs entlang der heutigen Waffenstillstandslinie zuzustimmen. "Kaschmir" bedeutet die Chance einer wirksamen Emotionalisierung der Politik - entweder gegen die eigene Regierung, der man bei jeder Annäherung an den Nachbarn "Verrat" und die Aufgabe der umstrittenen Bergregion vorwerfen kann, oder umgekehrt: wenn eine Regierung sich innenpolitisch schwach fühlt und die Bevölkerung mit patriotischem Gefühl hinter sich bringen möchte. Diese Gefahr besteht im indischen Wahlkampf, wo der amtierende Ministerpräsident Vajpayee diese Karte mit Mäßigung und Geschick spielt; und in Pakistan, wo der wieder sehr unpopuläre Nawaz Sharif seine autoritären Tendenzen und sein wirtschaftliches Scheitern hinter der Nebelwand Kaschmirs verstecken möchte.
 

Dabei liegt die Hauptschuld der gegenwärtigen Eskalationsrunde in Islamabad: dort hat man versucht, eine Internationalisierung des Konfliktes durch militärische Eskalation zu erzwingen. Aber so sinnvoll es wäre, den Konflikt endlich im Rahmen eines internationalen Forums wie der UNO zu behandeln, so riskant war das Risiko der militärischen Konfrontation.

Denn die "kriegsähnlichen Auseinandersetzungen" stellen ja für beide Länder bereits vor der Stufe einer weiteren Eskalation eine schwere Belastung dar: sie zwingen den politischen Diskurs wieder ins Stahlkorsett eines jahrzehntealten Konfliktes und zerstören so die einzige zukunftsorientierte Option einer Zusammenarbeit beider Länder. Und sie bilden eine schwere wirtschaftliche Belastung. Indien mag im Vergleich zu Pakistan über eine größere und stärkere Volkswirtschaft verfügen, aber der dauerhafte Einsatz von einer halben Million Soldaten in Kaschmir und die Kriegführung in zum Teil Gebirgshöhen von über 6000 Metern stellen ungeheure Anforderungen an Personal, Logistik, und Finanzkraft. Aber Indien verfügt zumindest noch über Devisenreserven von 30 Mrd. Dollar. Pakistan gegenüber bewegt sich ohnehin am Rande des Staatsbankrotts und ist innenpolitisch entsprechend fragil. Es kann sich einen teuren Abnützungskrieg in Kaschmir - und erst Recht einen großen Krieg entlang der gesamten Grenze - noch viel weniger leisten.

Inzwischen hat US-Präsident Clinton sich in den Konflikt eingeschaltet, der G-8 Gipfel in Köln hat seine Besorgnis ausgesprochen, und Nawaz Sharif hat die Volksrepublik China besucht, einen alten Verbündeten. Dabei wurde einerseits der lange verschleppte Kaschmir-Konflikt als internationales Problem erkannt, aber Pakistan als Störenfried geriet immer stärker in die Defensive. Damit ist seine Kalkulation gescheitert, durch Internationalisierung des Konfliktes die eigene Position gegenüber dem übermächtigen Indien zu stärken. Selbst die chinesische Regierung achtet sorgfältig darauf, sich nicht mit der Politik Islamabads zu identifizieren. Trotz einer gewissen Sturheit in Kreisen des pakistanischen Militärs erklärt das die neuesten Tendenzen in Pakistan, über einen gesichtswahrenden Ausweg nachzudenken. Das ist ermutigend, aber auch drängend: wenn die bewaffneten Eindringlinge nicht bis zum September aus dem Land geworfen sind, dürfte das vor dem Wintereinbruch kaum noch gelingen. Und angesichts der in Indien bevorstehenden Wahlen entsteht so ein Druck auf die Regierung, die Lage vorher zu bereinigen. Vor diesem Hintergrund ist trotz der gegenwärtigen ersten Entspannungssignale eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen.

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Jochen Hippler, Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen. E-Mail: kontakt (at) forumzfd (Punkt) de Website: www.friedenbrauchtfachleute.de