Hongkong

Kaum Perspektiven für die DemonstrantInnen

von Karl Grobe
Im Blickpunkt
Im Blickpunkt
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Die Protestbewegung in Hongkong hat nach vier Monaten das erreicht, was Anfang Juni ihr Ziel war: Die Regierung der Sonderwirtschaftszone zog Anfang September einen Gesetzentwurf zurück. Der hätte es ihr ermöglicht, in Hongkong Verurteilte in die Volksrepublik auszuliefern. GegnerInnen der Pekinger Regierung und auch nur ideologische DissidentInnen befürchteten, dass sie am Ende aufgrund eines Strafzettels jener Justiz ausgeliefert werden könnten, vor der ihnen der Sonderstatus der ehemaligen Kronkolonie eine gewisse Sicherheit zu bieten versprach.

Aber es ging längst nicht mehr darum. Die Protestierenden forderten außerdem: Der Chef des parlamentsähnlichen Legislativrates (Legco) sollte von den 7,5 Millionen EinwohnerInnen direkt gewählt werden, nicht wie bisher von einem 1.200-Personen-Komitee, das zur Hälfte von der Zentralregierung (Peking) besetzt wurde. Zweitens sollten die bisherigen Proteste nicht als „Aufruhr“ bewertet werden – darauf stehen bis zehn Jahre Haft. Drittens sollte eine von unabhängigen RichterInnen geführte Kommission die jüngsten Zusammenstöße von DemonstrantInnen und Polizei untersuchen, nicht die Polizei selber. Viertens sollten alle strafrechtlichen Anklagen gegen verhaftete DemonstrantInnen fallengelassen werden.

Und auch den Rücktritt der Regierungschefin Carrie Lam forderten sie. In einem privaten Gespräch soll sie Anfang September bekannt haben, sie würde gern zurücktreten, aber sie könne es nicht. Wahrscheinlich möchte die Zentralregierung in Peking einen solchen nicht hinnehmen. Denn unabhängig ist Lam nicht. Seit dem Rückzug der britischen Kolonialmacht ist Hongkong Teil Chinas, und zwar als Sonderverwaltungszone. Dabei ist die interne Selbstverwaltung festgelegt nach dem Grundsatz „Ein Land – zwei Systeme“, der auf Deng Xiaoping zurückgeht.

„Ein Land, zwei Systeme“ bedeutet, dass innerhalb der Volksrepublik China der Sozialismus aufrechterhalten wird, aber Hongkong, Macau und Taiwan (Republik China) sollten auch nach einer friedlichen Wiedervereinigung das kapitalistische System beibehalten dürfen. Hongkong und Macau würden das geltende System 50 Jahre nach der Rückkehr nach China beibehalten. Deng (gestorben im Februar 1997) hat die Rückgabe Hongkongs an China (1.7.1997) nicht mehr erlebt.

Doch nach gerade zwei Jahrzehnten ist diese Ordnung nicht mehr zu halten. Die Volksrepublik hat immer wieder in die Hongkonger Verhältnisse eingegriffen. Unabhängige Verlage und Buchhandlungen wurden bedrängt und schließlich zur Aufgabe gezwungen, nachdem ihre Besitzer ausgeschaltet worden waren. Der auf das Aufstandsjahr 1989 zurückgehende Gewerkschaftsbund blieb verfolgt. Die Medien gerieten unter Druck. Die Regierung der Sonderwirtschaftszone wurde von China abhängiger, als selbst PessimistInnen es 1997 erwartet hatten.

Dagegen gab es immer wieder Volksbewegungen. Im nun vier Monate anhaltenden Konflikt geht es längst um den Rest der Zwei-Systeme-Ordnung. Die Protestbewegung richtet sich außerdem auf die (selbst unter kolonialen Rahmenbedingungen) unzumutbaren Wohn- und Arbeitsverhältnisse unter faktisch chinesischer Herrschaft, denen ein sehr großer Anteil der 7,5 Millionen unterliegt. Und er ist befeuert durch den Perspektivverlust, der der jüngeren Generation unausweichbar bevorsteht,

Für China ist Hongkong nicht mehr wichtig. Ex- und Import sind seit dem WTO-Beitritt Chinas nicht mehr auf die Freihafen-Funktion der Sonderzone angewiesen, Kapitalismus und Börse kann China allein und inzwischen auch besser. Das lässt sich unmittelbar hinter Hongkongs Nordgrenze, in der jetzt dreimal größeren kapitalistischen Experimentierstadt Shenzhen, beobachten. Hongkong ist für Peking eher ein Ärgernis als Stätte eines beobachtenswerten Modellversuchs. Das Ärgernis soll aber die Beziehungen zu den Mächten jenseits der Ozeane nicht in Gefahr bringen. Deshalb hat die Pekinger Regierung in den vier Rebellionsmonaten die von ihr ausgeübte Gewalt dosiert, Truppen zwar in Shenzhen kaserniert, in Hongkong selbst aber nicht mehr als drohende Demonstrationsfahrten veranstaltet und die Repression – mit Tausenden Verhafteten, vielen Verletzten und mehreren Toten – den örtlichen Organen der Staatsmacht überlassen, nicht ohne den Hinweis, wer die Staatsmacht ist.

Ein Einmarsch hätte die ohnehin strapazierten Beziehungen mit „dem Westen“ unschön strapaziert (dass Kanzlerin Angela Merkel gerade Anfang September nach Peking reiste, mag ein Indiz für die Zurückhaltung des Gastgebers Xi Jinping sein) und die Ökonomie belastet. Dafür ist Hongkong nicht wichtig genug. Es wird ohnehin bald in einer Zwanzig-Millionen-Großregion mit Kanton und Shenzhen aufgehen, spätestens 2047. Chinas MachtpolitikerInnen planen und denken langfristig, weit über Vier-Jahres-Legislaturperioden hinaus. Ein kurzfristiger Waffenerfolg, der auf lange Sicht international mehr schadet als national nützt, verbietet sich; Freiheit und Demokratie für Hongkong wird es so oder so nicht geben.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.