Zum "2. Friedenspolitischen Ratschlag" in Kassel

Kräfte bündeln in schwieriger Zeit

von Peter Strutynski
Initiativen
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Veranstaltungen der Friedensbewegung sind schon längst keine Selbstläufer mehr. Wer in den letzten Jahren Ostermärsche, Hiroshima-Gedenktage, Infostände oder lokale/regionale Friedensversammlungen organisierte oder daran teilnahm, kann ein Lied davon singen. Den jä­hen Absturz der Massenbewegung gegen den Golfkrieg Anfang 1991 haben viele bis heute nicht so recht verdaut. - Andererseits verfügt die Friedensbewegung immer noch über eine intakte Infrastruktur: Frieden­sinitiativen in fast allen größeren Städten, regionale Friedenszusam­menschlüsse, bundesweite Organisationen (z.B. IPPNW, DFG-VK, Pax Christi, DFU, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Friedensrat) und Vernetzungsmöglichkeiten verschiedenster Art (v.a. Netzwerk Frie­denskooperative). Hinzu kommt, daß sich neue Ansätze von Friedens­arbeit profilieren und "etablieren" konnten, die über das den 80er Jah­ren entstammende Verständnis von Friedensarbeit als vorwiegend poli­tische Aufklärung hinausgehen. Zu nennen sind jene zahlreichen klei­nen Gruppen, in deren Arbeit sich "Hilfsleistungen für Menschen, die von Hass, Verfolgung und Krieg bedroht sind", verbinden "mit dem Be­mühen, mittel- und langfristig friedensfähige zivile Strukturen ... aufzu­bauen" (Hanne-Margret Birckenbach und Uli Jäger in Jahrbuch Frieden 1995, S. 175).

Der "2. Friedenspolitische Ratschlag", der am 9./10. Dezember 1995 in Kassel stattfand, stellte den Versuch dar, mög­lichst viele friedenspolitische Ansätze und Projekte aus West- und Ost­deutschland zum Gespräch zusammen­zubringen. Dabei stand nicht das gegen­seitige Kennenlernen im Vordergrund (so wie noch beim 1. Ratschlag im No­vember 1994), sondern der politische Erfahrungs- und Meinungsaustausch. Die Friedensbewegung ist von den Kriegsereignissen der letzten Jahre tief erschüttert worden. Insbesondere auf die Massaker, Vertreibungen und Verge­waltigungen im ehemaligen Jugoslawien schien es für viele Menschen in unserem Land keine andere Antwort mehr zu ge­ben als das - wenn's sein muß, auch mi­litärische - "Dreinschlagen", um dem Morden ein Ende zu bereiten. Politiker fast aller Parteien haben dies teils ähn­lich gesehen und schließlich für NATO-Bombardierungen und für Bundes­wehreinsätze plädiert, teils haben sie diese Stimmung aber auch bewusst ge­nutzt, um ihre keineswegs friedlichen Interessen und Ziele auf dem Balkan durchzusetzen. Und für jene, die mit den realen Entwicklungen in Kroatien und Bosnien nur aus den gängigen Quellen der Massenmedien vertraut sind - die selten so gleichgeschaltet waren wie in dieser Frage -, muß auch der Friedensschluss von Dayton und Paris als das Re­sultat der NATO-Bombardierungen vom August bis Oktober 1995 erscheinen.

Der Bonner Marschbefehl für die Bun­deswehr beherrschte natürlich auch die Diskussionen des Kasseler Ratschlags.

Bruno Schoch von der Hessischen Stif­tung Friedens- und Konfliktforschung rechtfertigte in einer Podiumsdiskussion Militäreinsätze zur Verhinderung von Völkermord und zur Wahrung oder Wiederherstellung der Menschenrechte unter Berufung auf die militärische Be­freiung Deutschlands vom Hitler-Fa­schismus im Jahre 1945 und erntete massiven Widerspruch aus dem Publi­kum. Wesentlich zurückhaltender argu­mentierte die Völkerrechtlerin Martina Haedrich (Jena), die dennoch ein Inter­ventionsrecht der UNO als "ultima ra­tio" zur Durchsetzung des Völkerrechts nicht ausschließen wollte. Auch der dritte Podiumsteilnehmer, Wolfgang Vogt von der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg und gleichzeitig Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), rief mit seinem Statement zunächst mehr Widerspruch als Zu­stimmung im Plenum hervor. Vor allem empfahl er, nicht mehr in nationalstaat­lichen, sondern in "weltgesell­schaft­lichen" Kategorien zu denken. Aus dieser Sicht gebe es auch keine rein "inneren" Angelegenheiten von Staaten mehr, vor allem dann nicht, wenn z.B. "massenhaft Menschen um­gebracht werden". Vogt kritisierte aber genauso leidenschaftlich das zurzeit noch gängige Politikmuster, wonach auf solche Situationen mit militärischen Aktionen des "Multisicherheitsmolochs" NATO reagiert werde. Jegliches Militär müsste abgeschafft und durch eine neue Art internationaler Sicherheitsorganisa­tion (Vogt nennt sie "Politär") ersetzt werden. Die Hauptaufgabe der interna­tionalen Politik bestehe aber darin, "präventiv" zu wirken, d.h. mögliche Konflikte frühzeitig zu erkennen und darauf mit zivilen, nicht-militärischen Mitteln zu reagieren.

Dieser Gedanke beherrschte nicht nur die Plenumsdiskussion, sondern zog sich auch durch die Beratungen in den 12 Arbeitsgruppen, in denen jede Menge von dem aufgearbeitet wurde, was der Friedensbewegung an neuen Themen und Herausforderungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts buchstäblich um die Ohren gehauen wird: Die UNO in der neuen Weltord­nung, die ökonomische und politische Rolle der Bundesrepublik in der Welt, die Umrüstung der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, Atomtests und Atomwaffen, Rüstungsproduktion, Konversion und Waffenhandel, die Friedensaussichten für das ehemalige Jugoslawien und die Möglichkeiten hu­manitärer Hilfe, die Entwicklung ziviler Alternativen zu Krieg und Gewalt (z.B. das Modell eines Zivilen Friedens­dienstes), Kriegsursachenforschung und Konzepte vorsorgender Friedenspolitik (z.B. das an Hand des Biosphärenreser­vats Rhön demonstrierte Konzept einer "Friedensverträglichkeitsprüfung"), die Rolle der Frau in Krieg und Frieden, die generelle Friedensfähigkeit oder -unfä­higkeit der Menschen in einer strukturell nicht friedlichen Gesellschaft oder - aus sehr aktuellem Anlass - die Frage nach einer politischen Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt. Alle Themen wur­den lebhaft diskutiert. Die zwei Stun­den, die für die Berichte aus den Ar­beitsgruppen im Plenum eingeplant worden waren, reichten längst nicht aus, um alle interessanten Aspekte aus den Diskussionen zu referieren. Besondere Beachtung fand der Bericht von Reiner Braun (Naturwissenschaftler-Initiative "Verantwortung für den Frieden") über den gegenwärtigen Stand der atomaren Bedrohung und die wichtigsten Trends der Atomrüstung und -proliferation. Die Friedensbewegung müsse ihren politi­schen Druck zur Durchsetzung eines endgültigen Atomwaffentestverbots be­trächtlich erhöhen und gegen die heim­lichen und offenen Pläne der Bundesre­gierung an einer atomaren "Teilhabe" Front machen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 2. Friedenspolitischen Ratschlags hatten Gründe, optimistischer ins neue Jahr zu gehen. Erstens war der Andrang zur Kasseler Konferenz außerordentlich ermutigend: Über 250 Friedensaktivi­sten aus über 80 Städten und noch mehr Initiativen/Gruppen/Verbänden waren diesmal zusammengekommen, um nicht nur ihre schwierige Lage zu diskutieren und "Wunden zu lecken", sondern um sich über tragfähige Friedensvisionen zu verständigen und Wege dorthin auszu­loten. Zweitens war der in den letzten Jahren zum Teil gerissene Kommunika­tionsfaden zwischen Friedenswissen­schaft und Friedensbewegung wieder neu geknüpft worden. Das ging, wie die Podiumsdiskussion zeigte, nicht ohne Ir­ritationen und Missverständnisse ab, die in meinen Augen aber nicht nur zumut­bar, sondern geradezu notwendig sind, um beide Seiten zu einem kreativen Miteinander zu "zwingen". Drittens konnte auch die faktische Medien­blockade, die seit geraumer Zeit gegen­über der Friedensbewegung herrscht, etwas gelockert werden. Das Echo war beachtlich sowohl in den regionalen als auch in den überregionalen Medien und es war wohltuend sachlich. - Sozusagen als Anerkennung für die erfolgreiche Tagung wurde das Kasseler Friedens­forum zuguterletzt dazu verdonnert, im kommenden Herbst den 3. Friedenspo­litischen Ratschlag wieder in Kassel zu veranstalten.

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Peter Strutynski, AG Friedensforschung, Kassel, ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.