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Zum "2. Friedenspolitischen Ratschlag" in Kassel
Kräfte bündeln in schwieriger Zeit
von
Veranstaltungen der Friedensbewegung sind schon längst keine Selbstläufer mehr. Wer in den letzten Jahren Ostermärsche, Hiroshima-Gedenktage, Infostände oder lokale/regionale Friedensversammlungen organisierte oder daran teilnahm, kann ein Lied davon singen. Den jähen Absturz der Massenbewegung gegen den Golfkrieg Anfang 1991 haben viele bis heute nicht so recht verdaut. - Andererseits verfügt die Friedensbewegung immer noch über eine intakte Infrastruktur: Friedensinitiativen in fast allen größeren Städten, regionale Friedenszusammenschlüsse, bundesweite Organisationen (z.B. IPPNW, DFG-VK, Pax Christi, DFU, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Friedensrat) und Vernetzungsmöglichkeiten verschiedenster Art (v.a. Netzwerk Friedenskooperative). Hinzu kommt, daß sich neue Ansätze von Friedensarbeit profilieren und "etablieren" konnten, die über das den 80er Jahren entstammende Verständnis von Friedensarbeit als vorwiegend politische Aufklärung hinausgehen. Zu nennen sind jene zahlreichen kleinen Gruppen, in deren Arbeit sich "Hilfsleistungen für Menschen, die von Hass, Verfolgung und Krieg bedroht sind", verbinden "mit dem Bemühen, mittel- und langfristig friedensfähige zivile Strukturen ... aufzubauen" (Hanne-Margret Birckenbach und Uli Jäger in Jahrbuch Frieden 1995, S. 175).
Der "2. Friedenspolitische Ratschlag", der am 9./10. Dezember 1995 in Kassel stattfand, stellte den Versuch dar, möglichst viele friedenspolitische Ansätze und Projekte aus West- und Ostdeutschland zum Gespräch zusammenzubringen. Dabei stand nicht das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund (so wie noch beim 1. Ratschlag im November 1994), sondern der politische Erfahrungs- und Meinungsaustausch. Die Friedensbewegung ist von den Kriegsereignissen der letzten Jahre tief erschüttert worden. Insbesondere auf die Massaker, Vertreibungen und Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien schien es für viele Menschen in unserem Land keine andere Antwort mehr zu geben als das - wenn's sein muß, auch militärische - "Dreinschlagen", um dem Morden ein Ende zu bereiten. Politiker fast aller Parteien haben dies teils ähnlich gesehen und schließlich für NATO-Bombardierungen und für Bundeswehreinsätze plädiert, teils haben sie diese Stimmung aber auch bewusst genutzt, um ihre keineswegs friedlichen Interessen und Ziele auf dem Balkan durchzusetzen. Und für jene, die mit den realen Entwicklungen in Kroatien und Bosnien nur aus den gängigen Quellen der Massenmedien vertraut sind - die selten so gleichgeschaltet waren wie in dieser Frage -, muß auch der Friedensschluss von Dayton und Paris als das Resultat der NATO-Bombardierungen vom August bis Oktober 1995 erscheinen.
Der Bonner Marschbefehl für die Bundeswehr beherrschte natürlich auch die Diskussionen des Kasseler Ratschlags.
Bruno Schoch von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung rechtfertigte in einer Podiumsdiskussion Militäreinsätze zur Verhinderung von Völkermord und zur Wahrung oder Wiederherstellung der Menschenrechte unter Berufung auf die militärische Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus im Jahre 1945 und erntete massiven Widerspruch aus dem Publikum. Wesentlich zurückhaltender argumentierte die Völkerrechtlerin Martina Haedrich (Jena), die dennoch ein Interventionsrecht der UNO als "ultima ratio" zur Durchsetzung des Völkerrechts nicht ausschließen wollte. Auch der dritte Podiumsteilnehmer, Wolfgang Vogt von der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg und gleichzeitig Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), rief mit seinem Statement zunächst mehr Widerspruch als Zustimmung im Plenum hervor. Vor allem empfahl er, nicht mehr in nationalstaatlichen, sondern in "weltgesellschaftlichen" Kategorien zu denken. Aus dieser Sicht gebe es auch keine rein "inneren" Angelegenheiten von Staaten mehr, vor allem dann nicht, wenn z.B. "massenhaft Menschen umgebracht werden". Vogt kritisierte aber genauso leidenschaftlich das zurzeit noch gängige Politikmuster, wonach auf solche Situationen mit militärischen Aktionen des "Multisicherheitsmolochs" NATO reagiert werde. Jegliches Militär müsste abgeschafft und durch eine neue Art internationaler Sicherheitsorganisation (Vogt nennt sie "Politär") ersetzt werden. Die Hauptaufgabe der internationalen Politik bestehe aber darin, "präventiv" zu wirken, d.h. mögliche Konflikte frühzeitig zu erkennen und darauf mit zivilen, nicht-militärischen Mitteln zu reagieren.
Dieser Gedanke beherrschte nicht nur die Plenumsdiskussion, sondern zog sich auch durch die Beratungen in den 12 Arbeitsgruppen, in denen jede Menge von dem aufgearbeitet wurde, was der Friedensbewegung an neuen Themen und Herausforderungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts buchstäblich um die Ohren gehauen wird: Die UNO in der neuen Weltordnung, die ökonomische und politische Rolle der Bundesrepublik in der Welt, die Umrüstung der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, Atomtests und Atomwaffen, Rüstungsproduktion, Konversion und Waffenhandel, die Friedensaussichten für das ehemalige Jugoslawien und die Möglichkeiten humanitärer Hilfe, die Entwicklung ziviler Alternativen zu Krieg und Gewalt (z.B. das Modell eines Zivilen Friedensdienstes), Kriegsursachenforschung und Konzepte vorsorgender Friedenspolitik (z.B. das an Hand des Biosphärenreservats Rhön demonstrierte Konzept einer "Friedensverträglichkeitsprüfung"), die Rolle der Frau in Krieg und Frieden, die generelle Friedensfähigkeit oder -unfähigkeit der Menschen in einer strukturell nicht friedlichen Gesellschaft oder - aus sehr aktuellem Anlass - die Frage nach einer politischen Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt. Alle Themen wurden lebhaft diskutiert. Die zwei Stunden, die für die Berichte aus den Arbeitsgruppen im Plenum eingeplant worden waren, reichten längst nicht aus, um alle interessanten Aspekte aus den Diskussionen zu referieren. Besondere Beachtung fand der Bericht von Reiner Braun (Naturwissenschaftler-Initiative "Verantwortung für den Frieden") über den gegenwärtigen Stand der atomaren Bedrohung und die wichtigsten Trends der Atomrüstung und -proliferation. Die Friedensbewegung müsse ihren politischen Druck zur Durchsetzung eines endgültigen Atomwaffentestverbots beträchtlich erhöhen und gegen die heimlichen und offenen Pläne der Bundesregierung an einer atomaren "Teilhabe" Front machen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 2. Friedenspolitischen Ratschlags hatten Gründe, optimistischer ins neue Jahr zu gehen. Erstens war der Andrang zur Kasseler Konferenz außerordentlich ermutigend: Über 250 Friedensaktivisten aus über 80 Städten und noch mehr Initiativen/Gruppen/Verbänden waren diesmal zusammengekommen, um nicht nur ihre schwierige Lage zu diskutieren und "Wunden zu lecken", sondern um sich über tragfähige Friedensvisionen zu verständigen und Wege dorthin auszuloten. Zweitens war der in den letzten Jahren zum Teil gerissene Kommunikationsfaden zwischen Friedenswissenschaft und Friedensbewegung wieder neu geknüpft worden. Das ging, wie die Podiumsdiskussion zeigte, nicht ohne Irritationen und Missverständnisse ab, die in meinen Augen aber nicht nur zumutbar, sondern geradezu notwendig sind, um beide Seiten zu einem kreativen Miteinander zu "zwingen". Drittens konnte auch die faktische Medienblockade, die seit geraumer Zeit gegenüber der Friedensbewegung herrscht, etwas gelockert werden. Das Echo war beachtlich sowohl in den regionalen als auch in den überregionalen Medien und es war wohltuend sachlich. - Sozusagen als Anerkennung für die erfolgreiche Tagung wurde das Kasseler Friedensforum zuguterletzt dazu verdonnert, im kommenden Herbst den 3. Friedenspolitischen Ratschlag wieder in Kassel zu veranstalten.